Jean-Claude Juncker à l'occasion d'un colloque à la "Wirtschaftsuniversität" à Vienne

Frau Bundesministerin, liebe Maria, Herr Rektor, Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren,

Das Thema ist: Europa, wie geht es weiter? Und die Frage ist eigentlich, geht es überhaupt noch weiter in Europa? Weil viele sind ja der Auffassung, vom Kämpfen müde geworden, und vom enttäuscht geworden sein, europafaul geworden, dass es in Europa nicht mehr richtig weiter geht. Und wenn es weiter geht, obschon viele eigentlich möchten, dass es nicht mehr weiter geht, in welche Richtung muss es dann gehen, damit es überhaupt weiter gehen kann?

Wer nicht sieht, dass sich breite Teile der öffentlichen Meinung, ganze Völkerscharen fast, von Europa abwenden, von der Idee selbst der europäischen Integration, der ist mit Blindheit geschlagen. Tatsache ist, dass viele mit Europa und der europäischen Integration nichts mehr am Hut und nichts mehr im Herzen haben.

Und richtig ist auch, dass die europäische Politik in einem Erklärungsnotstand sich befindet, dem sie nur in Maßen nachkommt.

Wir erklären Europa eigentlich nicht mehr, weil viele denken, und viele handelnden Personen auch, Europa wäre eine derartige Selbstverständlichkeit, und dass man nicht mehr begründen müsste wieso und weshalb europäische Integration stattfindet, und stattfinden muss.

Wir finden uns auch, wie ich finde, mit diesem Liebesentzug vieler, was Europa betrifft, einfach ab, weil wir auch erklärungsfaul geworden sind. Und aus dieser Erklärungsfaulheit, aus diesem "sich nicht mehr intensiv zu Europa bekennen wollen" entsteht auch der Boden auf dem nationale Alleingänge in zunehmendem Masse stattfinden und sich breit machen.

Der britische Premierminister, David Cameron, schlägt vor, Kompetenzen, die auf Ebene der Europäischen Union angesiedelt sind, wieder in die Nationalstaaten zurückzuverlagern und möchte im Falle wo denn die andern, ja, nolens volens, oder volens nolens ihm zustimmen, ein Referendum in Großbritannien zu der Frage des Verbleibs des Vereinigten Königreiches in der Europäischen Union, abhalten.

Ich finde es nicht obszön, dass man darüber nachdenkt ob es nicht Kompetenzen gibt, die in Brüssel angesiedelt sind, die man wieder in die Nationalstaaten zurückverlagern könnte, was ich für eine Daueraufgabe eigentlich der Europäischen Union halte, sehr genau das Perimeter dessen was es urbar zu machen gilt in Europa, zu überprüfen.

Die Beispiele allerdings die er nennt, machen mich doch nicht nur hellhörig, sondern auch stutzig. Die soziale Dimension Europas ist ja unterentwickelt, das ist ein Raum mit wenig Möbeln, und kaum beschildert, weil niemand findet diesen Raum, wenn er ihn sucht.

Und wir haben beispielsweise in Sachen Arbeitsrecht nicht sehr Vieles anzubieten. Wenn man das jetzt auch noch zurückschrauben möchte auf ein nicht mehr existierendes Mindestmaß, dann glaube ich nicht, dass der konservative britische Premierminister die Zustimmung aller erhalten wird.

Und weil es ja nicht nur darum geht Kompetenzen in die Nationalstaaten zurückzuverlagern, das sollte man kritisch prüfen, sondern es auch darum geht zusätzliche Kompetenzen auf die Brüsseler Ebene zu hieven, stelle ich mir diese Verhandlungen als sehr schwierig vor.

Und ich weiß auch nicht was denn passiert, wenn die britische Regierung sich mit ihren Verhandlungswünschen nicht durchsetzt. Findet dann trotzdem ein Referendum statt, und muss der britische Premierminister dann sagen, er hätte sich nicht durchsetzen können, und dann muss er ja ein Nein empfehlen, oder aber es findet kein Referendum statt, und dann weiß ich nicht wozu wir diese ganze Aufregung, dieses Verunsicherungsgift in den europäischen Entscheidungsfindungen eigentlich gebraucht haben.

Nationale Alleingänge, auch im Rahmen dessen was man sich fast nicht mehr traut gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu nennen, Beispiel Syrien, Franzosen und Briten schlagen vor, das Waffenembargo Syrien betreffend, aufzuheben, und lassen eigentlich deutlich erkennen, wenn die anderen damit nicht einverstanden wären, dann gäbe es einen britischen und einen französischen Alleingang in der Frage. Und dann wundern wir uns, dass die Menschen nicht mehr verstehen was wir eigentlich in Brüssel tun, und wie viel unsere Verabredungen wert sind, wenn sie nachher sehr oft aus innenpolitischen Gründen - das meine ich jetzt nicht so sehr in Bezug auf Syrien - wieder in Frage gestellt werden.

Dabei täte es uns gut, wenn wir uns, um es besser zu verstehen, Europa von außen her, mit objektivem Blick, mit nüchternem Blick, betrachten würden. Wir denken immer noch, wir Europäer, dass wir die Herren der Welt wären. Dass sich alles um die Achse dreht, die wir durch die Weltgeschichte ziehen. Dabei sind wir in keinem europäischen Jahrhundert mehr. Das 20. Jahrhundert war schon kein europäisches mehr, es war deutlich ein amerikanisches. Und ich wünsche mir, dass das 21. ein multipolares würde.

Und das letzte europäische Jahrhundert war eigentlich das 19., das war kein besonders gelungenes Jahrhundert. Insofern müssen wir uns eingestehen, dass wir eben nicht die Herren der Welt sind, brauchen wir auch nicht zu sein. Wieso sollte eigentlich die Welt den Europäern gehören, und das Schicksal der Welt eigentlich nach europäischen Regeln und Maßstäben sich entwickeln müssen?

Und wenn man sich Europa von außen ansieht, stellt man fest, was man von innen her eigentlich nicht sieht, dass wir ein sehr kleiner Kontinent sind. Der europäische Kontinent, ohne Türkei und ohne Russland, hat eine Fläche von genau 5,5 Millionen Quadratkilometern. Wir reden immer von dem großen Europa, wir sind winzig klein. 5,5 Millionen Quadratkilometer das ist die Hälfte Chinas, die Hälfte der USA, ist 2/3 Brasiliens. Allein Russland hat eine Fläche von 17 Millionen Quadratkilometern. Und wir denken mit unseren mickrigen 5,5 Millionen Quadratkilometern wären wir ein Kontinent auf den alle anderen hören müssten. Tun die nicht. Wir haben das nur noch nicht intensiv bemerkt.

Politik ist in der Summe das Ergebnis der Schlussfolgerungen die man aus der Schnittmenge zwischen Geographie und Demographie zieht. Über Demographie rede ich nur ungern, über Geographie eigentlich auch schon, weil in Sachen Geographie und Demographie hat Luxemburg nicht irrsinnig viel anzubieten. Wir stoßen relativ schnell an unsere Grenzen, verstehen deshalb im Übrigen auch mehr von anderen als andere über uns wissen.

Aber wenn wir uns das demographische Europa anschauen, dann stellen wir fest, dass wir Anfang des 20. Jahrhunderts einen 20%igen Weltbevölkerungsanteil in Europa hatten, dass wir am Anfang dieses Jahrhunderts noch 11% Europäer zählten, und dass wir Mitte des Jahrhunderts noch 7% Europäer sein werden, und am Ende dieses Jahrhunderts, das werden ja einige nicht erleben, die erste Reihe zum großen Teil nicht, deshalb habe ich mich sofort entfernt von diesen, dann werden wir 4% Europäer auf 10 Milliarden Menschen sein. Und wir sind der kleinste Kontinent, 5,5 Millionen Quadratkilometer, wir sind 4% der Weltbevölkerung, von 10 Milliarden Menschen. Und unser Anteil an der Weltwirtschaft, am Weltbruttoinlandprodukt, an der weltweiten Wertschöpfung wird sich dramatischst nach unten bewegen.

In 20 Jahren werden die Chinesen an Amerikanern und Europäern vorbeigezogen sein. Und in 30 Jahren werden die Inder die Chinesen hinter sich lassen.

Und wir denken, wir hätten hier das Schicksal der Welt in den Händen. Haben wir nicht. Wir sind ein kleiner Kontinent, wir sind ein alter Kontinent, wir sind ein Kontinent in demographischem Abschwung, und wir sind ein Kontinent der relativ betrachtet, wirtschaftlich schwächer werden wird.

Wenn man sich dies vor Augen führt, und das tue ich nicht um uns hier Angst vor Chinesen oder Indern oder Brasilianern zu machen, ich habe keine Angst vor niemandem diesbezüglich.

Immer wenn ich in China bin, und mich mit meinem Freund, dem Premierminister Wen, der ist aber gestern abgetreten, ich lerne also den 5. Premierminister in meiner Amtszeit kennen, dann nehme ich ihn immer an der Schulter und sage, Kamerad Wen, wenn ich bedenke, dass du und ich, dass wir hier ein Drittel der Menschheit repräsentieren, er auch nicht sonderlich überrascht, weil auch wenn ein Franzose, oder eine Deutsche ihn an der Schulter nehmen würde, und das selbe sagen würde, das wäre ihm quietsch egal, weil das Ergebnis ist immer dasselbe, es ist immer ein Drittel der Menschheit.

Und deshalb muss man, wenn es um groß und klein geht, eigentlich die Dinge richtig zu sortieren wissen.

Wir sind nicht die Herren der Welt, aber wir müssen, um bestehen zu können und um unser Gewicht in der Welt noch einbringen zu können, weil Gewicht haben wir, kulturell, historisch in vielerlei Hinsicht, uns darum bemühen, das tun wir aber nicht, die jungen Europäer wieder neu zu begeistern für Europa.

Ich bin überhaupt kein Europa-Enthusiast, kein Europa-Fanatiker, ich bin überhaupt nicht der Meinung, das was Brüssel vorschlägt und entscheidet, das wäre das Gelbe vom Ei. Ich bin überhaupt nicht der Meinung, dass alles was Europa getan hat, richtig gewesen wäre, ansonsten ich mich mit anderen Dingen im Leben beschäftigen würde, wenn alles gelungen und richtig wäre.

Aber ich bin der Meinung dass wir die innere Substanz der europäischen Integration nur dann in die Zukunft mitnehmen können, wenn wir auch die etwas Jüngeren unter uns wieder neu von Europa überzeugen.

Und deshalb weiß ich, dass diese alte Erklärung europäischer Zusammenhänge, europäischer Notwendigkeiten, nämlich die ewige dramatische europäische Frage zwischen Krieg und Frieden, als Erklärungsmuster und als Erklärungsangabe nicht mehr reicht. Obwohl ich sehr dafür bin, dass man dies immer wieder erwähnt.

Wer denkt dieses Thema wäre endgültig geregelt, das wäre im Sog der Selbstverständlichkeit bis zur Unkenntlichkeit entstellt, untergegangen, der irrt sich fundamental. Und wir haben auch kein Kurzzeitgedächtnis, von historischem Zusammenhang wissend überhaupt nicht zu reden.

Noch vor 15 Jahren wurde im Kosovo gefoltert, gemordet und vergewaltigt. Das war nicht am anderen Ende der Welt, das war anderthalb Flugstunden von Wien entfernt. Fruchtbar ist der Schosse noch. Und niemand sollte denken die Dämonen wären nicht mehr da. Die können sehr wohl wachgerüttelt werden, wenn irgendein Idiot sich an diese Reanimationsaufgabe herantraut. Und man merkt ja in einigen Ländern der Europäischen Union schon, dass, ja, derartige Töne jenseits von Populismus, gefährliche Töne die zur Auseinandersetzung schlimmster Natur führen könnten, wieder hörbar sich zu Wort melden.

Deshalb muss man immer wieder von der Notwendigkeit reden, die eine europäische ist, dass wir eine Friedensaufgabe in Europa und in der Welt zu erledigen haben. Das ist ja auch der Grund wieso wir weltweit überhaupt noch Beachtung finden, weil viele wissen, die Europäer haben nach dem Zweiten Weltkrieg etwas zustande gebracht, was in anderen Teilen der Welt nicht zustande gebracht werden konnte. Das war nicht unsere Generation, das war die Generation unserer Väter und Mütter, der Kriegsgeneration, die von den Frontabschnitten zurückgekehrt, und aus den KZs entlassen, aus diesem ewigen Nachkriegssatz Nie wieder Krieg, nicht nur ein Gebet haben werden lassen, was schnell verfliegt, sondern ein politisches Programm entworfen haben, das bis heute seine Früchte trägt.

Deshalb muss man immer wieder über das Thema Krieg und Frieden reden, weil wenn wir dies in unserer Generation jetzt nicht mehr tun, in der übernächsten kann niemand das mehr tun, weil diejenigen die unsere Staaten in 30 Jahren regieren, und unsere Gesellschaften animieren werden, die werden nicht einmal eine erzählte Erinnerung an das Nicht-Europa haben. Und deshalb muss man immer wieder auf dieses, auf diesen Gründungspakt der Europäischen Union zurückkommen.

Und der zweite Grund, den man nennen muss, den habe ich in mir selbst vorausahnenden Gehorsam schon vorgetragen, das ist das abnehmende Gewicht Europas. Man muss Europa aus den Irrungen und Wirrungen seiner Vergangenheit her erklären, man muss Europa aus seinen Zwängen her erklären in der Zukunft. Es gibt Gründe für Europa, die sind in der Vergangenheit beheimatet, und es gibt Gründe die liegen in der Zukunft, die viele einfach nicht sehen wollen.

Europa hat sich all diesen Herausforderungen eigentlich, ja, in einer Art und Weise gestellt, die die Europäer zwar nicht beeindruckt, die die Nicht-Europäer aber sehr beeindruckt. Ich liebe Europa besonders dann, wenn ich außerhalb von Europa bin. Weil da schauen einen Kinder an, auch Ältere voller Bewunderung für das was wir in Europa geschafft haben. Und wir sind überhaupt nicht stolz auf das was wir in Europa zustande gebracht haben.

Zum Beispiel haben wir doch dieses dramatische europäische Thema, Krieg und Frieden, dadurch zu lösen verstanden, dass wir über den Umweg transnationaler Solidaritätsnetze uns so miteinander verbündet und verbandelt haben, dass kriegerische Auseinandersetzungen eigentlich nicht mehr möglich sind. Diese transnationale Solidaritätsnetze beschränken sich eben nicht, obwohl dort begonnen, auf die wirtschaftspolitischen Gesamtzusammenhänge, die es auf unserem Kontinent und darüber hinaus gibt, sondern es hat auch politische Erweiterungen gehabt, supplementäre Politikdosen, Dosen im Sinne nicht von Büchsen, sondern von Dosen. Also Dosen, die dem Ganzen einen geschlossenen Sinn geben.

Und diese, nur wirtschaftlichen Zwischenverankerungen die wären nicht ausreichend, wenn es nicht die politische Dimension gäbe, und wenn es nicht das Wissen um einander und über einander gäbe. Ungenügendes Wissen, aber immerhin mehr Wissen als man normalerweise Wissen hätte, wenn man einfach nur nebeneinander leben würde.

Wenn es nur wirtschaftliche Verbindungen gäbe, dann hätten wir alles, aber keine Friedensgarantie. Auch 1913, ich bitte sie das Jahr 1913 intensiv zu besuchen, hatte es eine Globalisierung gegeben, die der Unsrigen nicht sehr weit aus dem Weg geht. Damals war die Auffassung, in diesem Jahr der Sorglosigkeit, im Jahre 1913, das war vor exakt 100 Jahren, war die Meinung, unsere Wirtschaftsräume sind so sehr miteinander verflochten, dass es nie mehr Krieg geben wird. Damals hat man gedacht, weil die großen europäischen Mächte - Österreich hat damals schon dazu gehört - von Monarchien regiert wurden, die alle miteinander verwandt waren, die haben gedacht, also die vermeiden jede Form des Familienkraches, und die Wirtschaftsbrücken sind so miteinander verbunden, es kann nie mehr Krieg geben. Ein Jahr später hat es wieder Krieg gegeben.

Deshalb reicht es nicht, obwohl man dort immer wieder wird beginnen müssen, dass man Wirtschaften miteinander verzahnt, es braucht mehr. Es braucht einen Impetus der über das rein wirtschaftliche, und das Wirtschaftspolitische hinweg geht. Was haben wir gemacht?

Wir haben auf eine nicht Katastrophe, aber auf einen gewaltigen Vorgang der am Ende der 1980er Jahre in Ost- und Mitteleuropa stattgefunden hat, adäquat und richtig reagiert.

Nach dem Fall der Mauer - wer weiß das schon - sind in Europa und an der direkten Peripherie Europas 27 neue Staaten entstanden, 27 neue Subjekte internationalen Rechtes, neue Demokratien, neue Volkswirtschaften. Ganze Völker die ihre wiedergefundene Souveränität, die ihnen von anderen gestohlen worden war, wirklich voll ausleben hätten wollen, wenn es nicht möglich gewesen wäre, auf deren Antrag hin, diese Länder in diese europäische Friedenssphäre hinein, nicht zu verpflanzen, sondern hinein sich tragen zu lassen, mir deren Mitwirken. Niemand wurde da gezwungen beizutreten.

Ich stelle jetzt mal die Frage: wenn es die Europäische Union nicht gegeben hätte und wenn die Europäische Union nicht aufnahmebereit gewesen wäre, was wäre dann passiert auf dem europäischen Kontinent? Was hätten diese neue Staaten, diese jungen Länder mit ihrer wiedergefundenen Souveränität gemacht? Da wäre die Gefahr groß gewesen - sie ist ja auch jetzt nicht völlig abgedämpft - dass man den nationalen Souveränitäten die man wiedergefunden hat, eine giftige Spitze gegeben hätte, die sich gegen andere gerichtet hätte. Während die Tatsache, dass man Mitglied in ein und derselben Europäischen Union ist, trotzdem dem stupiden Nationalismus sofort den Giftzahn zu ziehen imstande war.

Ich stelle jetzt mal eine, ja, eine Frage: was wäre denn aus Ungarn geworden, wenn Ungarn nicht Mitglied der Europäischen Union wäre? Da bleiben doch einige Restbremsen - die versagen zwar manchmal wie ich finde - um dafür zu sorgen, dass sich an kontinentale Standards gehalten wird. Wir hätten Grenzkonflikte zu Haufe, wir hätten Minderheitenkonflikte zu Haufe wenn es nicht diese ordnende Kraft dieser über lange Jahrzehnte herangewachsenen Europäischen Union gegeben hätte.

Und wir haben den europäischen Binnenmarkt, den größten Binnenmarkt der Welt auf den Weg geschickt und ihn zu einem Erfolg gemacht, obwohl der Binnenmarkt gewinnen würde, wenn er vollständiger ausgebaut würde. Auch in Richtung soziale Dimension. Es fehlt diesem Binnenmarkt ein Grundsockel an europäischen Arbeitnehmerrechten. Der ist dringend geboten. Den müsste man schon längst gehabt haben und darum muss man immer wieder daran weiterarbeiten. Aber wir haben den größten Binnenmarkt der Welt, 500 Millionen Menschen. Und wir haben eine gemeinsame Währung für 330 Millionen Menschen. Nun weiß ich, besser als jeder andere, wie euromüde dass die Europäer geworden sind. Weil wir den Europäern, das ist eine initiale Unterlassungssünde, nie erklärt haben was es eigentlich heißt, Mitglied in einer Währungsunion zu sein. Wir haben die Menschen das langsam entdecken lassen und jetzt haben sie es entdeckt, was es heißt Solidarität und Solidität in einem Arbeitsgang üben zu müssen und üben zu können.

Wir haben es unterlassen uns selbst und den Menschen, die uns beobachten, beizubringen was es heißt, das gemeinsame Geld solidarisch und kollektiv zu führen und zu gestalten. Weil viele Länder der 17, die in der Eurogruppe sind, immer noch so tun als wären sie selbstständige Wesen die tun und lassen könnten was sie wollten, ohne Rücksicht zu nehmen auf das was im Rahmen dieser Disziplin des Euros die Nachbarn tun.

Ich stelle die Frage anders: ich kann jetzt 100 Gründe nennen, das ist alles bekannt, wieso wir den Euro brauchen. Wenn jemand noch eine Frage hat die ich bislang nicht in meinem langen Leben beantwortet habe, dann irrt er sich, weil es gibt 100 Gründe. Ich möchte niemanden damit langweilen. Das haben wir erklärt am Anfang des Euros und werden es immer wieder erklären. Das können wir nächstens tun. Ich stelle nur die Frage, was wäre denn wenn wir den Euro nicht hätten?

Die zentrale Frage ist wohl, was muss am Euro verbessert werden? Da sind wir dabei, Maria, ich und viele andere. Aber die Frage ist, was wäre unsere Lage heute wenn es den Euro nicht gäbe. Was wäre denn passiert mit unseren Währungen, mit unseren Wirtschaftsräumen, wenn wir bei 17 nationalen Währungen geblieben wären? Was wäre passiert am 11. September 2001, wo die europäische Zentralbank und die amerikanische Zentralbank eigentlich die Realwirtschaft und die Finanzwirtschaft gerettet haben, dadurch dass sie eine zentralisierte und konzentrierte Aktion zwischen einer europäischen Zentralbank und der amerikanischen Zentralbank in die Wege leiten konnten. Was wäre passiert im Moment des Irakkrieges während dem die Europäer in die verschiedensten Richtungen sich auf den Weg machten und alles nicht so aussah wie eine geordnete europäische Außenpolitik. Immer wenn es um Außenpolitik geht sieht die Europäische Union aus wie ein Haufen Hühner und nicht wie eine geschlossene Kampfformation. Das ist einfach so. Und wenn wir dann auch noch 17 nationale Währungen gehabt hätten, dann wäre es zu sehr erheblichen Verwerfungen im europäischen Währungssystem gekommen. Hätten wir noch das europäische Währungssystem gehabt während des Irakkrieges, während der Attentate in Washington und New York und Pittsburgh, hätten wir noch 17 nationale Währungen gehabt während der Russlandfinanzkrise, der Argentinienfinanzkrise, der Südostasienfinanzkrise, die zwar stattfand bevor es den Euro gab, aber wir waren schon auf dem Weg in den Euroraum, ja, wir hätten einen Währungskrieg der bis heute toben würde.

Was wäre denn passiert nach der amerikanischen Subprimekrise, nach der amerikanischen Finanzkrise, nach dem Überspringen derselben auf die Realwirtschaft, nach dem Überspringen der US-herbeigeführten Gesamtkrise auf den europäischen Kontinent, wenn wir dieser Herausforderung mit 17 nationalen Währungen hätten begegnen müssen? Dann wäre es so gewesen wie es früher war.

Ich war 20 Jahre Finanzminister und ich hab an 19 Auf- und Abwertungssitzungen teilgenommen. Dann kam freitags abends gegen 4 ein Telefonat des jeweiligen Ratsvorsitzenden. Man wurde nach Brüssel einbestellt zu einer Sitzung des europäischen Währungssystems. Und man musste im Übrigen immer freitags sagen, diese Sitzung findet nicht statt, nebenbei bemerkt. Man musste dann sagen, diese Sitzung findet nicht statt, ansonsten findet etwas anderes statt. Und dann saßen wir in Brüssel und dann wurde auf- und abgewertet. Ich hab das heute im Parlament auch den Obmännern erklärt, besonders einem, dass über Nacht die italienische Lira abwertete und die Tiroler Bauern ihre Produkte nicht mehr in Südtirol absetzen konnten, dass die luxemburgischen, die österreichischen, die belgischen und die französischen Stahlprodukte über Nacht sich um 20% verteuert hatten. Dass ganze Schichten eingestellt werden mussten in den Stahlwerken, weil über Nacht ohne Vorwarnung jemand abgewertet hatte, weil er nicht imstande war seine Wettbewerbsfähigkeit auf eigene Kosten in Ordnung zu halten, sondern auf Kosten der andern versuchte in Ordnung zu bringen.

Wir würden uns bis heute, nach all dem was in der Welt passiert ist, in einem mörderischen Währungskrieg miteinander befinden, mit wesentlich höheren Arbeitslosenzahlen - die sind ja unerträglich hoch - mit wesentlichen realwirtschaftlichen Einbrüchen und Verwerfungen, die wir dank des Euro jetzt nicht zu überwinden haben, weil es sie einfach in der Form nicht gab, dadurch dass es eben den Euro und die Unmöglichkeit kompetitiver Abwertungen gibt. Was natürlich uns in die Pflicht nimmt, weil es die externe Abwertung nicht mehr gibt, interne Abwertungsschritte immer wieder via Haushaltskonsolidierungen und via Strukturreformen in die Wege zu leiten, was nicht, was kein gelungenes Kunstwerk ist, wenn ich mir das zu Augen führe. Aber das, ich hab lieber ein ungelungenes Kunstwerk, als ein nicht erkennbares Guernica das dann entstanden wäre, wenn wir diese Europäische Währungsunion nicht hätten.

Wir wären in der Welt ein Vogel für die Katze wenn wir den Euro nicht hätten. Also ich rede hier den Euro nicht schön. Das ist überhaupt nicht mein Thema. Aber was haben wir denn in der Welt anzubieten? Was haben wir denn anderes anzubieten als geschlossener Raum, als diese europäische Währung auf die die Welt Rücksicht nimmt, auf die die Welt schaut, die sehr schnell zur zweitgrößten Reservewährung der Welt geworden ist. Und ich strebe es überhaupt nicht an, dass der Euro die weltweit führende Reservedevise wird.

Der Dollar hat 40 Jahre gebraucht um das britische Pfund als weltweit führende Währung abzulösen. Diese Vorstellung, dass der Euro innerhalb kürzester Frist ähnliches bewerkstelligen könnte ist eine absurde Vorstellung ist auch noch keinerlei Notwendigkeit getragen, noch inspiriert.

Aber ich merke schon, wenn ich in Peking bin, wenn ich in Moskau bin, wenn ich in Washington bin, dass die Tatsache, dass wir den Euro haben, dem europäischen Kontinent als Gesamtentwurf eine andere Bedeutung und eine andere Dimension gegeben hat, als dies vorher der Fall war. Es hat ja niemand geglaubt, wir nicht und die Amerikaner schon gar nicht, dass wir es schaffen würden aus den 17 nationalen Währungen, die 17 nationalen Währungen zu einer einheitlichen europäischen Währung zu fusionieren. Und die Länder die von sich selbst denken sie wären groß, die sind ja nur groß, weil sie mit dem Megaphon der Europäischen Union in der Hand mit der Welt sprechen können. Deutschland und Frankreich und Italien und Großbritannien und andere, die sich auch für groß halten, wären nicht groß mehr, wenn sie nicht Mitglieder der Europäischen Union und wenn einige von Ihnen nicht führende Mitglieder des europäischen Währungsraums wären. Und deshalb muss man Sorge dafür tragen - und ich sage dies mit fast brennender Sorge in diesen Tagen, nicht weil ich nach Rom fahre und deshalb besonders päpstlich inspiriert wäre - aber ich sage mit brennender Sorge, dass man diesen Euro hüten muss.

Glauben Sie mir, auf diesem kleinen Kontinent, der demographisch sich nach unten korrigiert und der an Wirtschaftskraft einbüßen wird, wird uns am Ende des Tages nichts anderes übrigbleiben als mit diesem Euro Politik, auch Außenpolitik zu gestalten. Es gibt keine Außenpolitik ohne währungspolitische Dimension. Und die einzige Dimension die die europäische Außenpolitik hat ist die Währungspolitik. Und deshalb muss man den Euro hüten wie den Augapfel. Deshalb muss man auch Sorge dafür tragen, dass einige Elementarprinzipien eingehalten werden. Die Europäische Währungsunion ist kein Staat. Und weil wir kein Staat sind und über keine zentrale Regierung verfügen, mussten wir uns ein Regelwerk an die Hand geben, das nennen wir Wachstums- und Stabilitätspakt, von Wachstum merkt man im Übrigen nicht sehr viel. Aber er heißt so. Weil wir keine Regierung haben, weil wir 17 Länder sind, weil wir keine vereinigte Eurozone sind, brauchen wir ein Regelwerk das die Regierung ersetzt und an die jede Regierung und jedes Parlament sich halten muss.

Dieser Stabilitätspakt wurde nicht so oft gebrochen wie die deutsche Bundesregierung uns das glauben lassen möchte und auch andere deutschsprachige Regierungen manchmal. Weil der Pakt wurde angewendet. Es wurden immer wieder Länder in die exzessive Defizitprozedur eingewiesen, immer wieder. Wenn jemand vom richtigen Pfad abgewichen ist, Einweisung. Nur ein Land nicht. Es gibt nur 2 große Länder, Frau Ministerin, in Europa: Großbritannien und das Großherzogtum Luxemburg. Und weil Großbritannien ja nicht Teil der Währungsunion ist, ist das einzige große Land das nie über die 3%, über die 60% Marke hinausschoss das Großherzogtum Luxemburg, an dem sich Großbritannien eigentlich tunlichst inspirieren könnte, weil die Fundamentaldaten in Großbritannien sind wesentlich schlechter als die Fundamentaldaten der Eurozone, was im Übrigen auch auf Japan und auf die USA zutrifft.

Und ich bin mir sehr bewusst, dass man die europäische Governance etwas effizienter gestalten muss. Aber ob die amerikanische Governance so viel besser ist als die europäische, das wage ich zu bezweifeln. Ich sage Obama, früher Bush, immer, wir haben 17 Regierungen, in der Eurogruppe sind 60 Parteien vertreten, wir haben 17 Nationalparlamente, ein Europaparlament und einen Ratspräsidenten, alles Mögliche, Kommissionspräsidenten und Zentralbankpräsident. Ihr habt einen Präsidenten und ein Parlament und ihr kommt trotzdem nicht klar. Wieso denkt ihr eigentlich, dass wir klarkommen mit dieser Vielfalt, die wir immer loben wenn wir uns nach außen darstellen, mit deren Konsequenzen wir aber eigentlich nicht zu leben bereit sind. Die Vielfalt erzeugt Konsequenzen und diese Konsequenzen tendieren in Richtung Entschleunigung der Beschlussfassungen und deshalb dauert es in Europa manchmal länger, obwohl es diesmal - obschon das zu lange gedauert hat - irrsinnig schnell ging.

Mir ist keine Zeit in Europa in Erinnerung wo wir in derartig kurzen Zeitabständen eine derartige Entscheidungsdichte heranwachsen haben lassen, als dies in den beiden letzten Jahren der Fall war.

Was wiederum zeigt, dass wenn alle die Regeln einigermaßen respektieren, wir auch weiterkommen. Wobei wir es tunlichst unterlassen sollten, die Leute verrückt zu machen mit Hirngespinsten, die ich früher als ich jung war auch hegte und dann aber nach dem ersten Teil meiner postpubertären Phase definitiv abgelegt habe, nämlich, den Leuten dauernd davon zu reden, dass wir so was wie die Vereinigten Staaten von Europa bräuchten. Das halte ich für nicht klug. Europa ist kein Staat. Ich möchte auch nicht, dass die Europäische Union ein Staat wird und wir sollen auch nicht den Eindruck geben als befände sich die Europäische Union auf dem Wege der Verstaatlichung.

Die Menschen möchten nicht einen europäischen Schmelztiegel übergestülpt bekommen in dem sie ich nicht zurechtfinden. Die Menschen möchten Tiroler, Niederösterreicher, Österreicher, Südtiroler, Italiener, Luxemburger, Südluxemburger und Westluxemburger bleiben und Europäer. Aber man soll nicht den Eindruck geben - es macht den Menschen Angst und ist auch nicht kompatibel mit ihrer Urbefindlichkeit - als ob alle, ja, zärtlichen Geographieteile ihrer politischen Bedeutung dadurch beraubt würden, dass wir jetzt alles zu einem einheitlichen europäischen Konstrukt ohne Nuancen und ohne Schattierungen zusammenfassen würden. Und deshalb bin ich dafür, dass man die alten Regeln neu beachten muss. Nämlich dass es nicht nur große Länder gibt, sondern auch kleine Länder. Nämlich dass wir gut daran täten, bei der Beschlussfassung und bei unserer Entscheidungsfindung die sogenannte Gemeinschaftsmethode zur Anwendung gelangen zu lassen, anstatt immer wieder in intergouvernementale Sackgassen uns zu bewegen.

Wir müssen auch in Europa, das klingt komisch, aber ich bin ja schon in vatikanischer Stimmung, wir müssen uns auch wieder lieben lernen. Sich lieben lernen heißt sich kennen lernen. Ich behaupte, eines der großen Probleme die wir in Europa haben ist, dass wir nicht genug übereinander wissen. Was wissen wir denn über die Lappen? Dass sie in Finnland umlaufen. Was wissen die Lappen über die Nordluxemburger? Nichts. Und es wäre gut wenn wir uns wieder intensiver, wenn wir wieder intensives Interesse aneinander hegen würden, damit wir uns besser verstehen, damit wir nicht - weil ja alles funktioniert, dabei funktionieret vieles nicht - einfach uninteressiert nebeneinander leben.

Wenn Sie in Luxemburg eingepfercht sind zwischen Frankreich und Deutschland, werden Sie feststellen, dass die Deutschen über die Franzosen sehr wenig wissen über uns, vice versa auch nicht. Das ist unsere marginale Chance, dass wir Luxemburger über die Deutschen Dinge wissen, die die Franzosen sich überhaupt nicht über die Deutschen vorstellen können und dass wir von den Franzosen Dinge wissen, zu denen die Deutschen strikt unfähig sind. Wir wissen nicht genug übereinander und wir präsentieren uns auch dem Rest der Welt nicht in geschlossener Formation. Es ist doch aberwitzig, dass wir eine Eurozone haben, eine einheitliche Währung und dass wir in den internationalen Finanzorganisationen mit 7, 8, 9 Europäern auftreten, jeder mit einem Rattenschwanz von angeschlossenen Sendeanstalten anderer Staaten und Länder. Es würde doch Sinn machen, es würde die Welt beeindrucken, dass die Euroländer, die, rechnet man ihre Kapitalanteile am Internationalen Währungsfonds zusammen, der Hauptaktionär des Internationalen Währungsfonds sind, mit einem Sitz in den internationalen Finanzorganisationen vertreten wären und mit einer Stimme reden würden, statt dass untereinander übersetzt werden muss was der jeweils andere sagt. Das machte doch Sinn über die Eurozone hinweg auf die Europäische Union als sich kontinental gebärende Mittelmacht bezogen, wenn wir mit einem Sitz im Weltsicherheitsrat der UNO vertreten wären. Nicht sofort, weil Luxemburg ist zurzeit nicht-ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates. Aber diese Glanzzeit des Sicherheitsrates geht auch einmal zur Neige. Dann wäre es gut, wenn die Europäische Union mit einer Stimme, mit einem Sitz in der UNO vertreten wäre.

Und es wäre gut wenn wir nicht vergessen würden, dass wir nicht nur Aufgaben für Europa und für diesen Kontinent haben. Der europäische Anspruch an uns selbst muss noch über den europäischen Kontinent hinausreichen. Es kann doch nicht sein, dass wir als Europäer denken, wir hätten unsere Aufgabe erledigt, solange es 25000 Kinder gibt die pro Tag an Hunger sterben. Das ist doch eine Aufgabe für die Europäer. Das können wir den andern doch nicht überlassen. Wir haben also für uns selbst und für die die nach uns kommen einiges auf den Weg zu bringen und wir haben auch für die andern in der Welt, die nicht auf der Sonnenseite des Planeten leben, auch vieles zu tun, was eine ureuropäische Aufgabe ist.

Und deshalb brauchen wir, nicht weil wir klein sind, weil wir an demographischen Gewicht verlieren, weil wir an wirtschaftlichem Einfluss verlieren, weil wir wenig anzubieten haben mit Ausnahme des Euros, deshalb brauchen wir jetzt nicht wieder eine Rückkehr zu nationalen Kategorien, sondern wir müssen einfach mehr Europa dort tragen wo wir merken dass wir schwach sind. Wenn ich sage, mehr Europa, heißt das nichts. Ich sage immer, mehr Europa, das heißt nichts, das klingt aber gut. Was ich eigentlich möchte, ist ein besseres Europa. Ein zielorientiertes Europa. Ein klügeres Europa und auch ein mutigeres Europa nach innen und nach außen. Ich danke für die Aufmerksamkeit.

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