Jean-Claude Juncker invité de l'émission "Unter den Linden"

Michaela Kolster: Ich begrüße Sie sehr herzlich zu einer neuen Ausgabe "Unter den Linden persönlich" aus dem Herzen der Hauptstadt, allerdings aus dem Großherzogtum Luxemburg.

Wir haben heute zu Gast den Premierminister des Landes, Jean-Claude Juncker, der auch gleichzeitig Finanzminister ist, und Vorsitzender der Eurogruppe.

Jean-Claude Juncker: Guten Abend. Aber Finanzminister bin ich nicht, ich bin Schatzminister. Aber das macht keinen Unterschied für Sie.

Michael Hirz: Herr Premierminister, Ihnen wird im Zusammenhang mit der Eurokrise ein Satz zugeschrieben, der lautet: "Wenn es ernst wird, muss man auch lügen". Womit können wir denn heute rechnen wenn wir mit Ihnen sprechen?

Jean-Claude Juncker: Sie müssen erst damit rechnen, dass ich Ihnen energisch widerspreche.

Michael Hirz: Den Satz haben Sie nie gesagt?

Jean-Claude Juncker: Doch, aber nicht im Zusammenhang mit dieser Finanz- und Wirtschaftskrise, sondern im Zusammenhang mit den währungspolitischen Entscheidungen, die wir in den 1990er Jahren treffen mussten. Da wurden wir regelmäßig, die Finanzminister, das war ich damals, nach Brüssel bestellt, freitagnachmittags, um über Samstag und Sonntag Auf- und Abwertungen im europäischen Währungssystem vorzunehmen. Und wenn ein Finanzminister damals gefragt wurde, findet eine Sitzung statt?, mussten alle nein sagen, also lügen.

Mein guter Freund Theo Waigel hat dem Münchner Kardinal das gebeichtet, und der hat ihm gesagt, das darfst du. Also durften wir das.

Und das war die Aussage, und die wird mir jetzt immer in das aktuelle Geschehen hineintransportiert. Nur halb zu Recht, nur halb zu Recht.

Michaela Kolster: Gibt es heute denn auch Situationen, wo Sie den Eindruck haben, man kann den Menschen die Wahrheit eigentlich gar nicht so zutrauen?

Jean-Claude Juncker: Ja.

Michaela Kolster: Können Sie dann ein Beispiel nennen?

Jean-Claude Juncker: Wenn Freitag abends um 5 Uhr, bevor die Finanzmärkte schließen, wichtige Besprechungen stattfinden, und diese wichtigen Besprechungen werden falsch beschrieben von Online-Diensten, beispielsweise dass man sagt, die sitzen zusammen zu 4 oder 5, um über den Austritt Griechenlands aus der Eurozone sich zu besprechen, muss man sagen, das stimmt nicht, weil es auch nicht stimmt. Und ließe man diese Nachricht einfach so weitersegeln, würde man den Kräften in die Hände spielen, die daran Geld verdienen. Das sind nicht die einfachen Menschen, das sind diejenigen, die mit derartigen Nachrichten Geld verdienen. Also muss man dem ein Dementi entgegensetzen, obwohl man die Zeit nicht hat um zu erklären, worum es eigentlich geht. Aber Zeit ist Geld für andere.

Michael Hirz: Gerät man da nicht in ein Dilemma, denn Demokratie braucht ja Vertrauen, und Vertrauen entsteht wenn man transparent handelt, wenn man eigentlich der Bevölkerung immer sagt, wie die Dinge tatsächlich sind, und nicht das Gefühl vermittelt, da wird etwas gesagt, aber das Gegenteil ist richtig?

Jean-Claude Juncker: Ihre Beschreibung wäre richtig, wenn sie denn stimmte. Aber sie stimmt nicht wenn Falsches berichtet wird, und man muss das einfach dementieren, man muss dementieren, dass diese Sitzung stattfindet, weil das was berichtet wird inhaltlich mit der Sitzung in Zusammenhang gebracht wird, und der Inhalt stimmt nicht. Dann muss man das dementieren. Man hat aber nicht die Zeit, weil man ja in der Sitzung sich befindet, um das dann im Detail zu erklären.

Also ich habe gelernt, habe dafür einige Zeit gebraucht, seit ich da Vorsitzender der Eurogruppe war, dass man sehr genau aufpassen muss auf den Moment in dem man etwas sagt, weil sonst spielt man Kräften in die Hände, die nicht, obwohl vertrauenswürdig, jedes Vertrauen verdienen.

Ich bin zuständig für, also das klingt jetzt überhöht und pathetisch, ich bin zuständig für den Normalbürger Europas, und nicht zuständig für die, die auf Kosten der Normalbürger gerne Geld verdienen würden. In deren Diensten stehe ich nicht. Dementsprechend weiß ich mich zu artikulieren.

Michaela Kolster: Sie sprechen gerade davon, dass Sie in Diensten stehen. Sie sind ja schon nach Abschluss des Jurastudiums, damals mit 28, in die Politik gegangen. Sind Sie richtig Berufspolitiker, oder sind Sie auch Jurist? Wie würden Sie sich da selbst beschreiben?

Jean-Claude Juncker: Also ich würde meine eigene Vita so nicht einteilen wollen, aber weil Sie mich dazu zwingen, möchte ich Ihnen hier bekennen, dass es nicht meine Absicht war Berufspolitiker zu werden. Ich bin mit 28 Jahren, das jährt sich jetzt zum 30. Mal im Übrigen, gefragt worden ob ich Mitglied der luxemburgischen Regierung werden würde, wollte. Und dann habe ich ja gesagt, weil man derartige Angebote nicht 20 Mal im Jahrzehnt erhält.

Aber ich wollte nie Berufspolitiker werden, weil ich hatte mir eigentlich immer vorgestellt, ich mache erstmal einen Berufsweg im normalen Berufsleben, sammle Erfahrungen, schaue Leuten zu, lasse mir zuschauen, und dann irgendwann entscheide ich mich ein Regierungsamt zu übernehmen. Aber das war nicht so. Ich wurde zu früh gefragt. Und bin jetzt 30 Jahre Mitglied einer luxemburgischen Regierung, und bin eigentlich zum Berufspolitiker wider Willen geworden.

Aber wenn man Sie gefragt hätte, gnädige Frau, mit 28 Jahren Minister zu werden, hätten Sie dann einfach nein gesagt, weil Sie zuerst einmal Berufserfahrung hätten sammeln wollen?

Michaela Kolster: Das weiß ich nicht, aber Sie haben trotzdem gerade gesagt, Sie wären zu früh gefragt worden.

Jean-Claude Juncker: Sie dürfen nicht lügen, Sie müssen die Wahrheit sagen. Hätten Sie da nein gesagt?

Michaela Kolster: Ich glaube, das ist eine Chance, die man nicht unbedingt sich entgehen lässt. Aber Sie sagten trotzdem [wird unterbrochen]

Jean-Claude Juncker: Sie weichen aus.

Michaela Kolster: Sie sagten aber trotzdem gerade, dass es eigentlich zu früh gewesen wäre. Ist das so?

Jean-Claude Juncker: Ja, das ist auch zu früh gewesen, und ist auch mit der Menschenrechtserklärung nicht kompatibel, dass man jemanden zwingt Wahl nach Wahl im Regierungsamt zu verbleiben. Das ist eigentlich mit der Menschenrechtscharta nicht vereinbar. Seither gibt es mich nicht mehr richtig.

Michaela Kolster: Aber man muss es ja nicht bleiben. Es gibt ja in Deutschland zum Beispiel eine ganze Reihe von Spitzenpolitikern, die sich sozusagen in zivile Berufe zurückziehen. Ich nenne zum Beispiel den ehemaligen Ministerpräsidenten Koch. Ist das was, was Sie sich auch vorstellen können?

Jean-Claude Juncker: Ja, aber ich würde es vorher ankündigen, vor der Wahl. Und dann würde ich nicht mehr zur Wahl antreten.

Michael Hirz: Nach dem letzten Gipfel geht Europa in die Weihnachtsferien. Sie sind Chef der [wird unterbrochen]

Jean-Claude Juncker: Schön wäre es.

Michael Hirz: Sie sind Chef, aber zumindest findet kein Gipfel mehr statt bis zum Jahresende, gehen wir davon aus, oder haben Sie neue Erkenntnisse, die Sie uns jetzt verraten?

Jean-Claude Juncker: Ich gipfele nicht im Urlaub, aber ich rede mit vielen die mich anrufen.

Michael Hirz: Aber sagen wir einmal, zumindest was Gipfel angeht, ist jetzt erstmal, bis zum Jahresende wird es überschaubar ruhig.

Jean-Claude Juncker: Sendepause.

Michael Hirz: Sendepause. Es sind die letzten Weihnachtsferien die Sie machen werden als Chef der Eurogruppe, die Sie ja seit 2005 geleitet haben, also von Anfang an. Hat die Eurokrise Sie auch ein bisschen zermürbt?

Jean-Claude Juncker: Ja.

Michael Hirz: Das sagen Sie ohne es weiter erklären zu müssen, und lassen das.

Jean-Claude Juncker: Ich muss das nicht nuancieren. Ich habe da viel Milch geben müssen, und ich freue mich darauf weniger melkbar zu sein.

Michael Hirz: Sie sind für viele gerade in Deutschland auch eine ungeheuer populäre Figur. Sie sind ein Gesicht, wenn nicht das Gesicht Europas für viele in unserem Land.

Wenn Sie auf Europa schauen, was ist das für Sie eher. Ist es eine ganz pragmatische Angelegenheit, ein pragmatisches Konzept, weil Sie sagen, alle haben ein Nutzen davon? Oder ist es auch eine Herzensangelegenheit?

Jean-Claude Juncker: Also das ist keine so schwierige Frage, wie Sie vielleicht denken. Erstmal [wird unterbrochen]

Michael Hirz: Ich wollte Ihnen auch nicht nur schwierige Fragen stellen, sondern auch welche bei denen Sie entspannen können.

Jean-Claude Juncker: Das kommt noch. Ich wollte nie populär sein. Und man darf ja Popularität nicht mit [wird unterbrochen]

Michael Hirz: Vielleicht wird man es gerade dann.

Jean-Claude Juncker: Man darf Popularität nicht mit Bekanntheitsgrad verwechseln.

Es reicht mir, wenn ich in deutschen Landen respektiert werde. Und wenn ich eine gewisse, ja, ich überhöhe mich da selbst, eine glaubwürdige Ausstrahlung habe, das reicht mir. Ich muss nicht beliebt sein, nicht populär sein, ich möchte nur wirkungsvoll wirken können.

Ich bilde mir ein, weil Sie mir das auch ja jetzt nahe legen, dass dem so ist, und dagegen wehre ich mich im Übrigen auch nicht.

Europa ist für mich ein Mixtum Compositum aus pragmatischem Tun, und starken, ja fast inbrünstigen Überzeugungen. Aber starke Überzeugungen bringen nichts, wenn man nichts Pragmatisches bewirkt. Ich muss also beides zusammenbringen.

Überzeugungen die man hat, die haben mit Familientradition, mit Landestradition, mit gewachsenen Erkenntnissen zu tun, auch mit einem Blick in die schwierige Geschichte des europäischen Kontinentes zu tun. Aber das reicht ja nicht. Ich bin ja nicht zuständig um europäische Gedichte zu schreiben, ich muss ja auch etwas tun. Also muss ich das was ich tue in Einklang bringen mit dem was ich überzeugungsmässig denke. Und das klappt nicht immer. Aber das pragmatische Tun geht vor. Man muss in der Summe am Ende eines Weges, den habe ich, hoffe ich, noch nicht erreicht, das alles gewinnbringend für das Pragmatische, und gewinnbringend für das Überzeugungssteigernde schnittmengenmässig zusammenführen können.

Michael Hirz: Welche Rolle spielt denn da Ihre Biographie?

Jean-Claude Juncker: Habe ich eine?

Michael Hirz: Zumindest gibt es eine, die man nachlesen kann, und da wird auch die Rolle Ihres Vaters genannt, der ja den Krieg erlebt hat.

Jean-Claude Juncker: Ja, mein Vater hat für mich – also das hier sind so Sohngespräche, aber manchmal stimmen die ja auch, sind jedenfalls biographisch stimmig – eine wichtige Rolle in meinem Leben gespielt.

Mein Vater war deutscher Soldat im Zweiten Weltkrieg, weil Hitler Luxemburg besetzt hatte, also die Nazis. Und die jungen Luxemburger, geboren zwischen 1920 und 1927 wurden gezwungen in die Wehrmacht einzutreten, kämpften also eigentlich in einer, wie wir Luxemburger heute noch sagen, verhassten Uniform gegen unsere Alliierten, die damit beschäftigt waren unser Land zu befreien.

Wir nennen diese Generation die "verlorene Generation", die zwangsrekrutierte Generation. Ein furchtbares Schicksal eigentlich, gegen sein eigenes Land in fremder, und ergo verhasster Uniform kämpfen zu müssen.

Ich bin 1954 geboren, mein Vater 1924, und mein Vater hat mich auch politisch erzogen. Mein Vater war Stahlarbeiter und dann Stahlangestellter, und hat mich eigentlich, obwohl er dieser deutsche ihn erreicht hat Schicksalsschlag, sehr Deutschland-freundlich erzogen, was ich eigentlich, wenn ich das jetzt europäisch Biographie-mässig betrachte, für seine eigentliche Lebensleistung halte, von der er aber nichts wusste als er sie vollzog, weil mein Vater den Sinn für Distinguo hatte, und mir oft erklärt hat: "Also, die meisten Deutschen mit denen ich da im Schützengraben saß, die haben so gedacht wie ich, und hatten mit dem ganzen Scheiss", Entschuldigung, es war aber Scheiss, "nichts am Hut."

Und er hat mir beigebracht, als Gewerkschaftler, also als sozial engagierter Mensch, und als Friedenspolitiker, er wusste nicht, dass er das war, dass es jetzt reicht, dass wir das so nicht mehr weiterführen dürfen.

Die eigentliche Erfolgsgeschichte Europas, und die eigentlichen Preisträgers des Friedensnobelpreises, das ist die Generation meiner Eltern, der Kriegsgeneration, die einfach als die von den Frontabschnitten, und aus den KZ, Konzentrationslagern nach Hause kamen, sagten, das machen wir jetzt nicht mehr. Diesen Satz, "nie wieder Krieg", hat es nach jedem Krieg gegeben, aber zum ersten Mal wurde 1945, 1946 aus diesem Nie-wieder-Krieg Gebet ein politisches Programm gemacht, das bis heute wirkt.

Und zu meiner bleibenden Trauer über europäische Zustände gehört, dass dieses Wirkungsgefühl sich immer mehr verliert, verdünnt, entschwindet, sich dem Zugriff entzieht. Das ist meine Biographie, und in deren Folge stehe ich.

Michaela Kolster: Woran machen Sie das fest, dass sich dieses immer mehr entzieht?

Jean-Claude Juncker: Ach, ich glaube junge Menschen – man kann denen das ja nicht zum Vorwurf machen, ich rede jetzt von denen, die in den 1970er Jahren geboren sind, davon gibt es ja schon viele – haben eigentlich nicht in dem intensiven Sinne, wie ich das noch erlebt habe, mit Vätern und Müttern, und Großvätern und Großmüttern über Kriegserlebnisse reden können. Die konnten nie erfahren, so aus direkter Schilderung, was nicht-Europa eigentlich in früheren Jahrzehnten, ja Jahrhunderten eigentlich, bedeutet hat.

Ich habe das noch direkt von meinem Vater, seinen Brüdern – mein Vater und drei seiner Brüder waren deutsche Soldaten, obwohl Luxemburger. Das heißt, ich habe im Fleisch, wenn ich das etwas ungeschickt ausdrücken und so beschreiben kann, weil die wurden alle verwundet im Krieg, erlebt was Krieg heißt. Ich kann den jungen Menschen, die heute 18, 19, 20, auch 30 Jahre alt sind, nicht mehr vermitteln wie das auf Kinder, und auf Heranwachsende wirkt, kriegsverletzte Väter zu haben. Ich kann denen das nicht beibringen. Ich mache denen das aber nicht zum Vorwurf.

Aber ich wehre mich dagegen, dass man europäisches Zusammenwachsen für selbstverständlich hält. Es ist strikt nicht selbstverständlich. Und frühere Generationen, auch die Generation meiner Eltern haben darunter sehr gelitten.

Und wir sind eigentlich sehr schwächelnde Erbverwalter eines großen Erbens, und das ist das Erbe der Menschen die wissen, und wussten was, zu was, und zu welchen Verwicklungen, und Fehlentwicklungen das nicht-Europa führen kann.

Jetzt bin ich der Meinung, dass man jungen Menschen das a) nicht zum Vorwurf kann, und b) die auch nicht mit dieser Geschichte, die ja aber eine brutale individuelle Tragödie für viele Europäer war, beeindrucken kann, wenn man die Notwendigkeit europäischer Einigung erklärt. Das ist passé, Geschichte. Für mich sind das immer noch individuelle nachvollziehbare Geschichten.

Wir brauchen eine neue europäische Erzählung. Und man muss Europa von seiner Vergangenheit erklären, von seiner Vergangenheit her erklären, man muss es aber auch von seiner Zukunft her erklären. Man muss die zukünftigen europäischen Probleme der Welt erklären, um in Verbindung dessen was aus der Vergangenheit kommt, und dem was uns aus der Zukunft zuwächst, die europäische Notwendigkeit zu erklären.

Michaela Kolster: Wenn Sie sagen, dass Europa heute für die Jugendlichen fast zu selbstverständlich ist, was für eine Gefahr sehen Sie denn darin? Ist das eine Gefahr, dass Europa dann wieder zerfällt, oder einfach nicht wichtig genug ist für diese neue Generation?

Jean-Claude Juncker: Also, Sie laden mich jetzt zu einer programmatischen Breitfront ein, und ich verkürze dieselbe. Man denkt das Thema Krieg und Frieden wäre endgültig erledigt. Ich bin der Auffassung überhaupt nicht.

Michael Hirz: Auch in Europa nicht?

Jean-Claude Juncker: Nein. Ich bin dabei ein Buch zu lesen, Premierminister lesen auch, bilden sich weiter, erforschen das was war. Ich lese ein Buch über das Jahr 1913.

Michael Hirz: Das ist eins aus der deutschen Bestsellerliste.

Jean-Claude Juncker: Ich lese die Bestsellerlisten von Spiegel und Focus sehr genau, und kaufe dementsprechend ein, weil ich ja gerne wissen möchte was Deutsche so lesen, um zu erfahren wie sie in Zukunft denken werden, wobei der Impakt des Gelesenen nicht immer zu sofortigem Handeln führt.

Allerdings, in Kriegs- und Friedensfragen habe ich mit Deutschland meinen Frieden gemacht. Die Deutschen sind jetzt, in dem Moment wo wir sprechen, die besten deutschen Nachbarn die wir je hatten. Also das war jetzt kein despektierliche Bemerkung in Richtung Deutschland, im Gegenteil. Ich bin da sehr glücklich eigentlich über das was jetzt ist.

1913 hat man gedacht, okay, Frieden ist da, Frieden wird bleiben, Krieg wird es nie mehr geben. Wenn Sie alles lesen was im Jahre 1913 geschrieben und gesagt wurde, nichts deutete auf den Ersten Weltkrieg hin. Er kam aber.

Wenn Sie nachlesen was in den 1930er Jahren auf deutsch-französischen Soldatenfriedhöfen an Schwüren abgeliefert wurde, wären sie sehr schnell, ich rede von den ersten drei Jahren der 1930er Jahre, zum Ergebnis gekommen, die haben es kapiert, es wird nicht mehr passieren. Es ist trotzdem wieder passiert.

1995, das ist noch keine irrsinnig lange Zeit her, wurde im Kosovo, das ist mitten in Europa, das ist anderthalb Stunden Flugzeit von Luxemburg entfernt, etwa, da wurde gefoltert, gemordet, vergewaltigt aus ethnischen Gründen. Mitten in Europa.

Also dass wir denken, wir wären immun gegen die Wiederauferstehung von den schlimmsten Dämonen, die jemals in europäischen Bergen und Tälern Unterschlupf fanden, das ist eine naive Sicht der Dinge.

Ich bin da sehr, ja, nicht skeptisch, aber aufmerksam wenn es um derartige Gesamtzusammenhänge geht. In dieser Krise, was fällt mir da auf? Mir fällt auf, ich rede von der Wirtschats- und Finanzkrise, mir fällt auf wie fragil letztendlich diese europäische Einigung trotz allem geblieben ist.

Wenn ich jetzt mir überlege welche dummen Zwischenzungenschläge es in deutschen Landen, ich rede von allen deutschsprachigen Ländern, nicht nur von Ihrer Republik, in Richtung Griechenland gegeben hat, und wenn ich mir vor Augen führe, dass man jetzt die deutsche Bundeskanzlerin in Naziuniform durch die Straßen Athens trägt, wenn ich mir also vergegenwärtige wie diese alten Ressentiments plötzlich wieder hochkochen, dann sage ich mir, das ist doch eine sehr fragile Angelegenheit geblieben. Plötzlich werden die 1940er Jahre wieder wach, und wir dachten wir hätten das alles hinter uns gelassen. Irgendwie und irgendwo haben wir das ja auch hinter uns gelassen. Aber fruchtbar ist der Schosse noch! Und das regt mich auf, es regt mich wirklich auf.

Und ich sage jetzt nicht, wir stehen jetzt vor einer Wiederholung dessen was wir schlimmsterweise gekannt haben in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Aber bedacht, bedacht!

Michael Hirz: Das hört sich aber fast an, als hätten Sie das Gefühl Ihre Mission kann noch nicht zu Ende sein, auch aus Verantwortungsbewusstsein heraus. Sie hören als Eurogruppenchef auf. Das wäre ja eigentlich dann, Sie reden mit so viel Empathie über Europa, auch eine Herausforderung an Ihre Gestaltungskraft, und ein Nutzen Ihrer Erfahrung.

2014 wird ein neuer Ratspräsident gesucht, man braucht irgendwann auch einmal wieder einen neuen Kommissionspräsidenten. Eigentlich eine schöne Herausforderung um das Europa zu gestalten, mitzugestalten, das Ihnen vorschwebt.

Jean-Claude Juncker: Also, ich hätte ohne Mühe, aber mit Not, 2004, das liegt ja schon längere Zeit zurück, Präsident der Kommission werden können, weil alle europäischen Regierungschefs hatten mich fast auf den Knien darum gebeten. Ich habe das aber nicht machen können, weil ich im luxemburgisch parlamentarischen Wahlkampf versprochen hatte, wenn ich wieder, und meine Partei wieder anständig gewählt würde, dann bleibe ich in Luxemburg. Und am Abend der Wahl, meine Partei hatte die Wahl gewonnen, und ich auch, haben Chirac und Schröder, ich habe beide sehr gemocht im Übrigen, angerufen, und gesagt, jetzt hast du ja die Wahl gewonnen, jetzt kannst du ja nach Brüssel. Dann habe ich gesagt, ja ich habe aber hier versprochen, ich würde das nicht tun. Beide waren basserstaunt, dass man ein ganzes Volk, auch wenn es nur ein Winziges ist, nicht einfach so belügen kann.

2009 wäre ich bereit gewesen, wenn denn die Bedingungen gestimmt hätten, die haben nicht richtig gestimmt, erster Präsident des europäischen Rates zu werden. Das haben einige verhindert. Lichtgestalten europäischer Geschichte, von denen niemand mehr redet. Und das war es.

Einmal habe ich nicht gewollt, einmal habe ich nicht machen dürfen, und ich bleibe gerne hier. Nein, ich bleibe gerne Premierminister in Luxemburg, weil es kommt auch auf die besondere Farbe der Wortmeldung kleinerer Staaten in Europa an. Und wir sind ja ein kleiner Staat, aber immerhin ein Großherzogtum.

Michael Hirz: Aber eigentlich damit prädestiniert um zu vermitteln auch, das ist ja die große Chance, die kleine Länder haben, die vielleicht auch ein anderes Sensorium haben für Entwicklungen, für Stimmungen, für Gefährdungen auch.

Würden Sie denn ausschließen, wenn ich Sie so höre, ausschließen noch einmal ein solches Amt zu übernehmen wie zum Beispiel die Kommissionspräsidentschaft, oder eben die Aufgabe eines Ratspräsidenten.

Jean-Claude Juncker: Von meiner jetzigen Betrachtungsweise aus, schließe ich das wirklich aus, obwohl ich weiß, dass Luxemburg, trotz der engen Verhältnisse, wir stoßen ja schnell an unsere Grenzen als Luxemburger, Dienste leisten kann, weil wir über die Franzosen Dinge wissen, die Sie Deutschen überhaupt über die Franzose nie in Erfahrung bringen werden, und wir über Deutsche, und Deutschland, und deutsche Befindlichkeiten Dinge wissen, die die meisten Franzosen sich überhaupt nicht vorstellen können.

Wir sind wirklich in der Zugluft beider Kultureinflüsse. Was auch, ja, was auch, ja, die kulturelle Eigenart dieses Landes ausmacht. Deutsche Einflüsse, nicht nur deutschsprachige sondern auch deutsche kulturelle Einflüsse, französischsprachige, nicht nur französischsprachige, sondern französische Kultureinflüsse, plus das wichtige Addendum luxemburgischer Eigenart, das ich Ihnen auch nicht beschreiben kann, weil dafür reicht die Sendezeit nicht.

Und dies ergibt, dass wir im Stande sind eine Summe von Befindlichkeiten zu tragen, zu transportieren und einzubringen, die andere einfach nicht haben. Es gibt kein anderes Land, das derartig Vieles über die beiden Großen, und nicht nur vermeintlich Großen, sondern die beiden Großen in Europa in petto hat, als die Luxemburger, auch durch leidvolle Erfahrung, im Übrigen erlernt, und nicht nur durch Lesen erlernt. Aber das kann man auch einbringen, wenn man luxemburgischer Premierminister ist.

Michael Hirz: Sie haben mir doch eine Reihe guter Argumente genannt, Sie dann doch noch einmal zu bitten.

Michaela Kolster: Wie wichtig ist Luxemburg denn in diesem Konzert mit Deutschland und Frankreich auch?

Jean-Claude Juncker: Ach, ich möchte das nicht übertreiben, es hängt ja auch davon ab, ob Deutsche und Franzosen bereit sind, sich auf luxemburgische Überbringerdienste, und luxemburgische Brückenbauerfertigung zu verlassen. Das war nicht immer so, es gibt manchmal Konstellationen, wo beide denken, die können auch ohne andere, und ohne die Kleinen etwas bewirken. Aber zurzeit funktioniert das wieder so.

Aber wenn Sie als luxemburgischer Premierminister in einem deutschen, von mir ja, wie Sie wissen, hochgeschätzten Fernsehsender erklären, dass es ohne sie nicht geht, dann wird es ohne sie gehen.

Michaela Kolster: Nun hat Luxemburg ja immer unterschiedliche Rollen gespielt auch innerhalb der EU, und auch unterschiedliche Rollen gehabt was, ich sage einmal die Nähe zu den deutschen Kanzlern gehabt. Wenn man Helmut Kohl sieht, Helmut Kohl hat die kleinen Länder immer sehr unterstützt.

Erzählen Sie einmal, wie war das mit Kohl und Schröder, und wie ist es heute mit Merkel?

Jean-Claude Juncker: Also mit Kohl war das exemplarisch gut. Weil Kohl mit dem Geschick, mit der Strickmusterjackenmethode es verstanden hat mich beispielsweise so zu behandeln, wie er Gorbatschow behandelt hat. Und ich bin auch darauf hereingefallen, und das wollte er ja auch. Und es war ihm aber ernst gemeint.

Weil Kohl, der Historiker ist, man vergisst das manchmal wenn man seine Lebensleistung bemisst in all ihren Bestandteilen, ein feines Gespür dafür entwickelt hatte wie kleinste Einheiten dem großen Ganzen einen Sinn geben. Das habe ich in der Form, und mit der Intensität eigentlich danach nicht mehr erlebt.

Mit Gerd Schröder hatte ich anfänglich ein sehr schwieriges Verhältnis, weil er dachte, ich wäre ein eingefleischter Kohlianer. Ich bin im Übrigen ein Kohl-treu gebliebener Mensch, auch in dessen schwierigsten Lebensmomenten, weil europäische Geschichte wichtiger ist als anderes, obwohl er da einige Fehler gemacht hat, aber ich habe diesen Mann gemocht, ja geliebt. Und habe auch jetzt noch permanenten Kontakt mit ihm.

Ja das war, für Schröder Gerd war das etwas suspekt. Aber wir haben uns dann so angenähert, dass das ein verdächtiges Symbiotikum wurde.

Kohl hatte die Europaidee im Bauch, und hat sie manchmal nach oben sich bewegen lassen, und hat dann deutsche Interessen vertreten. Es ist nicht so, dass Kohl ein naiver Europäer gewesen wäre, der keine deutschen Interessen vertreten hätte. Das ist, in der zärtlichen Nachbetrachtung der Dinge erscheint das manchmal, und das war so nicht, und durfte ja auch nicht sein, weil er war ja Kanzler der Deutschen, nicht Kanzler der Europäer.

Und Gerd Schröder, den ich auch als meinen Freund bezeichne, und mit dem ich auch noch immer Kontakt habe, der hat das Europäische im Kopf gehabt, ein rational erdachtes Europa. Europäische Integration muss sein, weil, weil, weil ... . Und weil es für die Deutschen auch nicht möglich ist sich auf diesem Kontinent zu bewegen ohne diese Einbettung in die größere, breitere europäische Wolle. Aber es ist ihm dann langsam in den Bauch gerutscht. Und Schröder war am Ende seiner Regierungstage wohlverstanden, fast jemand geworden wie Kohl. Hat auch aus dem Bauch heraus europäische Reflexe artikulieren können, die für viele Deutsche wahrscheinlich rational nicht nachvollziehbar waren.

Und bei Frau Merkel, mit der ich mich sehr gut verstehe, ich habe da Null Problem im Zwischenmenschlichen, ja bewegt sich das hin und her.

Michael Hirz: Zwischen Emotionalität und Rationalität?

Jean-Claude Juncker: Emotionalität allein reicht ja nicht. Rationalität allein reicht ja nicht. Aber irgendwo müssen die beiden Befindlichkeiten, wobei das Rationale ja keine wirkliche Befindlichkeit ist, sondern eher ein durchdachter Denkvorgang. Durchdachter Denkvorgang muss man genießen als Formulierung, weil es ist [wird unterbrochen]

Michael Hirz: Wir genießen jede Ihrer Formulierungen.

Jean-Claude Juncker: ... genau dasselbe. Im Französischen nennt man das einen Pleonasmus, im Deutschen vielleicht auch. Ja, das begegnet sich irgendwo.

Aber so, ich mag die Deutschen, die resolut europäisch sind, aber auch die deutschen Interessen im Blick haben. So sind wir auch.

Michael Hirz: Ist das etwas, was Sie Frau Merkel, was Sie in Frau Merkel sehen? Ist sie überzeugte Europäerin in dem Sinne, wie Sie gerade Gerhard Schröder beschrieben haben, und vor allem auch Helmut Kohl?

Jean-Claude Juncker: Frau Merkel ist nicht in dem Sinne europäisch wie der ganze Kohl und der halbe Schröder es waren, weil ihre Biographie, auch die geographischen Provenienzteile ihrer Biographie sind ja unterschiedlich.

Wenn jemand, nicht nur aus Ostdeutschland, sondern jenseits des eisernen Vorhangs, plötzlich in Europa, was ja nicht nur Westeuropa ist, eine prominente, eine führende Rolle, das ist ja die Aufgabe die deutsche Kanzler letztendlich in Europa spielen, dann darf man nicht Abstraktion machen von ihrer geographisch-kulturellen Provenienz. Und das muss man im Übrigen auch respektieren.

Ich habe manchmal sehr viel Mühe anderen, vornehmlich Südeuropäern, zu erklären, dass der Werdegang nicht ein typisch nachkriegsdeutscher, westeuropäisch orientierter Werdegang war. Und wer das nicht sieht, gibt sich keine Mühe. Ich habe mir die Mühe immer gegeben.

Frau Merkel ist jemand, ja, der zu gefühlsbetontem Europäertum fähig ist, die dann aber im letzten Moment immer die, eine mentale Bremse einwirft in dem Sinne, dass sie gerne wüsste worauf sie sich genau einlässt. Und ich kritisiere das nicht fundamental, weil sie zwingt andere zu Detaildenken, weil sie denkt nicht nur in großen Linien, sondern auch im Detail.

Und ich halte das, wenn auch eine nicht immer alle anderen begeisternde Arbeitsmethode, für eine adäquate Arbeitsmethode. Es muss auch jemand geben der sagt, was heißt das genau.

Michaela Kolster: Frau Merkel hat ja zwischenzeitlich sehr auf das deutsch-französische Verhältnis gesetzt. Mit Sarkozy war sie da sehr einig. Ist dieses deutsch-französische Verhältnis sehr wichtig für die Bewältigung der Krise? Ist ein Segen, oder ist es dann auch, wie es jetzt ist, ist es eher ein Fluch? Wie wichtig ist das Verhältnis?

Jean-Claude Juncker: Also ich glaube ein Fluch ist das nie gewesen, und ein Segen nicht immer.

Aber dass Deutsche und Franzosen wegen der komplizierten Verhältnisse die wir in Europa kannten, und die morgen wieder auferstehen können, sich einvernehmlich bemühen gemeinsame Standpunkte vorzutragen, halte ich für ein wesentliches Motormoment europäischer Einigung. Nichts wird gehen, wenn die beiden sich nicht verstehen. Aber nichts wird gehen, wenn nur die beiden sich untereinander verstehen.

Und manchmal habe ich zu bemängeln, dass die beiden ihre Divergenzen auf allen Marktplätzen beider Republiken austragen, uns zwingen dem oder dem Recht zu geben, dem ich mich im Übrigen entziehe, weil ich immer weiß wie es ausgeht. Dann einigen sich die beiden, überbrücken ihre Divergenzen, und versuchen den anderen ihren gemeinsamen Standpunkt aufzuzwingen, der aber eigentlich nur entstanden ist, weil beide ihre Divergenzen lauthals, für jeden vernehmbar, vorgetragen haben.

Also mir, wären deutsch-französische Einigungen lieber, wenn sie sofort als Einigungen erschienen, anstatt dass sie vorher als Divergenzen ausgetragen werden. Aber das hat, wie ich denke, mit Innenpolitik in beiden Ländern zu tun. Und von Innenpolitik verstehe ich auch etwas, ansonsten ich nicht schon 30 Jahre Kabinettsmitglied wäre.

Michaela Kolster: Sie sagten gerade, dass Sie sich dem entziehen. Aber zum Beispiel als es damals um Maastrichtkriterien und Stabilitätspakt ging, hat Luxemburg durchaus ja eine wichtige Rolle gespielt. Wird Luxemburg jetzt in diesem Verhältnis gar nicht mehr gebraucht?

Jean-Claude Juncker: Also, wahr ist, dass Luxemburg, als es um Annäherungsversuche zwischen den deutschen und französischen sehr divergierenden Positionen in Sachen Stabilitätspakt ging, Überbrückungsdienste geleistet hat. Das wurde offensichtlich, weil die Berichterstattung über diesen Dubliner Gipfel, es geht zurück auf das Jahr 1996, so offensichtlich wurde, dass beide Protagonisten das nicht wirklich verstecken konnten. Heute versteckt man das eher. Worüber ich mich jetzt nicht beklage.

Ich bin ja kein Motor europäischer Einigung. Ich versuche Motoren anderer so zu ölen, dass beide zum Gleichtakt finden. Aber ich mache das nicht öffentlich bekannt.

Deutsche und Franzosen, so wie sie jetzt aufgestellt sind, früher war das anders, mögen es ja nicht sehr, wenn sie in ihren Pressekonferenzen erklären müssen, Luxemburg hat Vorschläge gemacht, auf die wir uns einigen können. Ich sage jetzt nur, ich war zufällig da, ich habe zugehört, ich habe nicht gesagt was ich denke, sondern nur formuliert was beide denken, und es so formuliert, dass beide Sprachen zusammenpassen.

Aber ich wäre ja verrückt, wenn ich sagen würde, ohne mich geht nichts. Sonst wird alles ohne mich gehen.

Michael Hirz: Nun reden wir im Zusammenhang mit Europa ganz häufig von Krise, das ist fast ein Synonym für viele Menschen geworden. Was bedeutet das für die europäische Integration?

Man könnte ja auch der Ansicht sein, diese Krise, in der sich Europa befindet, auch durch die gemeinsame Währung, oder mit der gemeinsamen Währung, könnte Europa noch einmal einen Schub verpassen, könnte eigentlich Integration eher befördern als verhindern, das wäre dann sozusagen das Gegenmodell zu der Skepsis die in weiten Teilen sind, die Sie ja auch formuliert haben, dass es auch Reflexe gegen Europa gibt.

Aber man könnte ja auch sagen, wir nutzen das, und versuchen die Integration voranzutreiben mit dem Ziel eben solche Krisen in Zukunft zu verhindern?

Jean-Claude Juncker: Alle die Punkten die Sie ansprechen, sind ja höchst schwierig. Auch in der Erklärungsweise die man ihnen zubringt.

Also es gilt der Satz, ich glaube der gilt immer noch, dass Europa immer nur Krise nach Krise zu mehr Integration findet. Und ich bin absolut davon überzeugt, dass wir nach dieser Finanz- und Wirtschaftskrise, die ja nicht in Europa losgetreten wurde, sondern die Europa ereilt hat, und wir sind zum Epizentrum dieser Krise geworden ohne schlüssige Erklärung, weil die Fundamentaldaten Europas sind ja besser als die Großbritanniens, als die Japans, als die der USA – ich bin völlig überzeugt [wird unterbrochen]

Michael Hirz: Es ist interessant, dass Sie gerade Großbritannien sozusagen ausgebürgert haben aus Europa.

Jean-Claude Juncker: Ich habe gestoppt, aber das haben Sie nicht bemerkt, weil Sie kein aufmerksamer Beobachter sind, ich wollte dazufügen, das ist ja Teil Europas, aber es ist ja nicht Teil der Eurozone.

Die Fundamentaldaten der anderen sind schlechter, aber wir sind Epizentrum der Krise. Das merken wir ja an vielen Dingen, die ich jetzt im Detail nicht ausführen möchte. Aber dieses Merken dieser Dinge, dieses Bemerken dieser Dinge, bringt uns ja dazu uns selbst nicht nur einzureden, sondern uns selbst vor Augen zu führen, dass wir mehr europäische Integration brauchen.

Also, ich mache mir das Schlagwort nicht gerne zu Eigen, dass mehr Europa die Antwort auf die Krise ist. Das heißt alles, und das heißt auch strikt nichts.

Aber ich denke mir, am Ende dieser Herausforderung wird ein stärker zusammengeführtes Europa stehen, weil die Bestandteile Europas, auch die großen Nationen Europas gemerkt haben, dass es sie ja als solche, als eigenständige Gewichtsbringer, Gewichtsstemmer überhaupt nicht mehr gibt.

Wieso haben Deutschland und Frankreich Einfluss in der Welt? Ja, weil sie die größten Länder der Europäischen Union sind. Nicht weil sie grösser sind als andere, sondern sie sind groß weil sie bestimmende Kräfte der noch viel größeren Europäischen Union sind.

Und das ist keine despektierliche Bemerkung in Richtung Deutschland. Weil ich glaube, die tragenden Kräfte in der deutschen Politik, in der deutschen Publizistik, in der deutschen Intellektualität sehen das ähnlich, wenn nicht genau so.

Also wird Europa zusammengefügter am Ende des Tunnels erscheinen.

Und hinzu kommt, weil ich vorhin die Bemerkung gemacht habe, wir müssen eine neue europäische Erzählung erfinden, dass wir diese Erzählung ja sehen, wir brauchen sie nicht zu erfinden, wir müssen sie nur erzählen, weil sie wahr ist.

Europa wird, ist ein kleiner Kontinent. Wir denken immer, wir wären die Herren der Welt, wir sind natürlich überhaupt nicht die Herren der Welt. Wir waren es nie. Das letzte europäische Jahrhundert, war das 19. Jahrhundert, das war kein glücksbringendes Jahrhundert für die Menschheit. Und jetzt sind wir im 21. Jahrhundert.

Am Anfang des 20. Jahrhunderts, auf die Weltbevölkerung bemessen, hat es 20% Europäer gegeben. Am Anfang dieses Jahrhunderts, dem 21. 11%, Mitte des Jahrhunderts, 2050, am 1. Januar 2050 um 12 Uhr wird es noch 7% Europäer geben, und am Ende dieses Jahrhunderts 4% Europäer.

So, wenn ich dann beides zusammenfüge, das was wir wegen des europäischen sich-nicht-Verstehens an Unglück über die Welt gebracht haben, die Deutschen mehr als andere, aber andere waren ja nicht total unschuldig, siehe Ende des Ersten Weltkrieges im Versailles-Vertrag und so, das ist das was aus der Vergangenheit erwächst.

Mit dem können junge Menschen nichts mehr anfangen. Ich kann denen das nicht zum Vorwurf machen, weil die haben das alles nicht erlebt. Ich habe das ja auch nicht erlebt. Ich weiß das vom Vater und Großvater.

Und wenn ich mir die Europaerklärung heranziehe, aus dem Restverlauf des 21. Jahrhunderts, fällt mir nichts anderes ein, als dass wir uns jetzt nicht in Kleinstaaterei verlaufen – und das ist ja ein großer Satz für einen Luxemburger, dass man gegen Kleinstaaterei auftritt – sondern dass wir die Dinge gemeinsam in Bewegung bringen müssen.

Das heißt, ich erkläre mir und anderen Europa aus dem was war, und das war schrecklich, und aus dem was kommt, und da sind wir schwach wenn wir nicht zusammenstehen.

Und ich bin der Auffassung, dass Europa doch der Welt einige Dinge zu sagen hat. Ich bin nie lieber Europäer als wenn ich in Asien, oder in Afrika bin. Ich treffe da auf leuchtende Augen, die nach Europa blicken, und sagen, also was ihr da geschafft habt, das ist doch unwahrscheinlich. Und wenn ich hier wieder in Luxemburg lande, dann bin ich im Armenhaus der Welt, und nichts geht. Und andere bewundern uns.

Wir sind nicht stolz auf unsere eigenen Leistungen. Und das ist das eigentliche europäische Problem.

Und weil wir nach jedem Gipfel erklären dass die, oder der gewonnen hat gegen andere, verstehen die Menschen überhaupt nicht was wir da tun. Wir sagen in Europa nicht oft genug "wir", wir sagen zu oft "ich".

Michaela Kolster: Eine kurze Schlussfrage dann noch, wenn wir schon [wird unterbrochen]

Jean-Claude Juncker: Wir sind schon am Schluss?

Michaela Kolster: Ja, wir sind schon am Ende der Sendung. Wie würde die EU 2020 aussehen, was ist so Ihre Idee?

Jean-Claude Juncker: 2020, das ist in 8 Jahren. Fragen Sie mich lieber wie sie in 2050 aussehen wird, dann kann ich nicht mehr widerlegt werden.

Ich glaube trotzdem, in 2020, das ist in 8 Jahren ab jetzt gerechnet, werden wir, um dann trotzdem diese salopp vereinfachende Form zu gebrauchen, mehr Europa haben als heute.

Und wenn, also ich sage da, ich möchte jetzt nicht weil die Sendung zu Ende geht jetzt noch einmal zu besonderer pathetischer Höhe mich hier emporschwingen, aber wenn meine Generation, unsere, Ihre, wenn wir das jetzt nicht dingfest machen, dann bricht es wieder auseinander.

Wir sind eigentlich diejenigen, die noch wissen was war, weil es ihnen erzählt wurde, und die erahnen können was kommen kann.

Die die nach uns kommen, werden keinen direkten Zeugen mehr befragen können. Es wird niemand mehr vom Dreck der Schützengräben erzählen können, obwohl unsere Eltern das auch, meine, unsere Vätergeneration hat das ja auch nicht gemacht, sie wollten uns ja schonen, sie wollten uns ja nicht auf Wehleidigkeit trimmen. Aber wir wussten ja was war.

Und wenn man nur die Zukunft betrachtet, und sie nicht genau sieht, weil sie nicht richtig erklärt wird, dann wird dieses Gefühl, dass man jetzt die Dinge dingfest machen muss, dass man jetzt die europäischen Wässer endgültig kanalisieren muss, dann wird dieses Gefühl des sofortigen, notwendigen Tuns entschwinden.

Immer wenn ich das sage, sagt man mir, du traust den jungen Menschen nicht, den Nachwachsenden. Und genau das ist es. Ich traue denen, aber ich weiß was die Gefahren und Gefährnisse zukünftiger Zeiten sein könnten.

Michael Hirz: Ja, das war ein Schlusswort, ein Appell, aber ein letztlicher positiver Ausblick. Ich danke Ihnen, Herr Premierminister, für das Gespräch, und Ihnen, meine Damen und Herren, für Ihr Interesse an unserer Sendung.

Jean-Claude Juncker: Darf ich noch etwas hinzufügen?

Michael Hirz: Das letzte Wort gilt Ihnen.

Jean-Claude Juncker: Ich möchte allen Menschen, die uns zugeschaut haben, ein schönes und glückliches europäisches Jahr wünschen. Alles Gute!

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