Interview von Xavier Bettel in der Revue

"Mehr Ruhe und Gleichgewicht"

Interview: Revue (Stefan Kunzmann, Hubert Morang)

Revue: Herr Premierminister, auf internationaler Ebene hat Ursula von der Leyen ihr Amt als Präsidentin der EU-Kommission angetreten. Der Start war eher etwas holprig. Oder was meinen Sie dazu?

Xavier Bettel: Er war nicht holprig. Es ist nur so, dass wir festgelegte Prozeduren haben. So werden die potenziellen Kommissare von den jeweiligen Ausschüssen des Europaparlaments angehört. Es sind ja Co-Entscheidungen. Der Rat schlägt einen Kandidaten für die Spitze der Kommission vor. Dieser wiederum muss das Vertrauen des Europaparlaments bekommen. Jede Instanz hat dabei ihr Recht, ihre Bemerkungen dazu abzugeben. Und das Europaparlament will die bestmögliche Kommission zusammenkriegen. Unser Kommissionskandidat Nicolas Schmit beispielsweise hat einen fehlerfreien Parcours hingelegt, als er sich dem Parlament präsentierte. Für mich als luxemburgischer Regierungschef war das ein Zeichen dafür, dass wir den richtigen Kandidaten vorgeschlagen hatten. Man kann also nicht von holprig sprechen. Die Kommission hat ihre Arbeit erst aufgenommen. So ist es noch verfrüht, sie zu beurteilen. Ich bin überzeugt, dass Frau von der Leyen die Richtige ist.

Revue: Besteht aber nicht ein gewisser Reformbedarf, was die Art und Weise betrifft, mit der die EU-Kommission zustande kommt?

Xavier Bettel: Aus meiner Sicht ist das zurzeit nicht der Fall. Sie wissen ja, dass verschiedene Länder gerne Reformen hätten, die aber nicht unbedingt ih unserem Interesse sind. Zum Beispiel die Reduktion der Zahl der Kommissare. Das liegt nie im Interesse der kleinen Länder. Dass das Europaparlament ebenso das Recht der Mitsprache bei der Zusammensetzung hat wie die einzelnen Staaten, ist richtige Deshalb halte ich Reformen nicht für angebracht. Ich wüsste nicht, was jetzt geändert werden müsste.

Revue: Auf Europa ruhten die Hoffnungen beim Weltklimagipfel (COP2S) in Madrid. Umso mehr ist es wichtig, dass es mit einer Stimme spricht.

Xavier Bettel: Was nicht immer ganz einfach ist. Wir wissen, dass es in der EU Länder gibt, die die CO2-Reduktion nicht als nationale Ziele realisierbar betrachten. Die zum Beispiel noch sehr stark auf Kohle als Energieträger setzen. Andere wiederum halten die Atomenergie für eine Lösung. Wir sind der Meinung, dass weder das eine noch das andere das Richtige ist. Aber wir müssen einen gemeinsamen Nenner finden. In Europa gehören wir bis jetzt zu den treibenden Kräften, die sich auch ehrgeizige Ziele gesetzt haben. Wir dürfen nicht vergessen, dass die COP 21, die in Paris stattgefunden hat, mit Luxemburger Impulsen starke Ziele setzte. Die Experten warnten uns, dass in der Zwischenzeit nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf Uhr, wenn nicht sogar 30 Sekunden später ist. Wenn wir uns keine ambitiösen Ziele gesetzt hätten, würde ich mir Sorgen machen. Schließlich bin ich nicht nur Premierminister, um darauf zu achten, dass es dem Land nicht nur heute gut geht, sondern dass unsere Lebensqualität auch für die kommenden Generationen erhalten bleibt. Was mich freut: Nachdem US-Präsident Donald Trump gesagt hatte, dass die USA aus dem Pariser Klimavertrag aussteigen würden, waren wir in China, wo es hieß: Wir machen mit! Es hätte auch einen Dominoeffekt infolge der amerikanischen Ankündigung geben können. Wir müssen weiter darauf pochen, dass die Ziele, die wir uns gesteckt haben, erreicht werden sollen. Nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Realität.

Revue: Der Brexit geht in die nächste Runde...

Xavier Bettel: ... ich muss sagen: Europa hat auch noch andere Sorgen als den Brexit. Wir sind jetzt schon seit Jahren dabei, darüber zu diskutieren. Ich bedauere die Entscheidung, aber ich respektiere sie. Wir haben mit den Briten in verschiedenen Bereichen gut zusammengearbeitet. Mir wäre es lieber gewesen, wenn es anders verlaufen wäre. Aber genug ist genug.

Revue: Ihre Regierung ist seit einem Jahr im Amt. Unter welchem Titel würden Sie dieses Jahr zusammenfassen?

Xavier Bettel: Was Félix Braz passiert ist, hat bei uns in den letzten Monaten ganz stark Spuren hinterlassen. Menschlich war es schwer. Was die Arbeit angeht: Wir haben verschiedene Dinge umsetzen können, die die Menschen direkt betreffen, wie zum Beispiel die Einführung des zusätzlichen Urlaubstags und des Feiertags, die Erhöhung des Mindestlohns, bis hin ' zum Klimagesetz und zum Klimaplan, aber auch den Gratistransport ab nächstem Jahr, an dem wir noch arbeiten, die Infrastrukturen — es ist eine ganze Reihe von Sachen, die im Koalitionsabkommen stehen und die in der Umsetzung sind. Im ersten Jahr einer Legislaturperiode ist es oft so, dass viele Dinge vorbereitet werden, die danach in den kommenden Monaten auf die Tagesordnung kommen.

Revue: Was ist das Gesetzesprojekt, das unter all den anderen am meisten heraussticht?

Xavier Bettel: Ich tue das nicht, ein Problem hervorzuheben, weil es nicht fair wäre gegenüber meinen Kollegen und der kollektiven Arbeit. Ich arbeite an meinen Dossiers, wie zum Beispiel der Strategie im Bereich der künstlichen Intelligenz, der Einführung des SG-Netzes, der Reform der Pressehilfe. Das Audit über den Filmfonds habe ich in Auftrag gegeben, beim Sender 100,7 sind wir auch dabei, mit dem " Parlament zu diskutieren. Für mich als zuständiger Minister eines Ressorts ist es mir wichtig, dabei weiterzukommen. Für mich als Premierminister ist es wichtig, damit die Verfassung weiterkommt. Auch wenn daraus jetzt ein Zickzackkurs geworden ist. Die sozialen Maßnahmen sind genauso wichtig wie jene, die die Wettbewerbsfähigkeit betreffen. Da müssen wir ein Gleichgewicht finden.

Revue: Die Verfassungsreform als Ganzes ist vom Tisch. Sind Sie nicht enttäuscht?

Xavier Bettel: Ja und nein. Ich bin enttäuscht, weil wir wirklich eine neue und moderne Verfassung brauchen. Ich bin aber nicht enttäuscht, weil wir viele Modernisierungen und Änderungen im Text erhalten und eine Verfassung bekommen, die nicht mehr aus dem Postkutschenzeitalter ist und wo dann 2020 steht und nicht anno Tobak.

Revue: Könnten Sie den Kurs der CSV nachvollziehen? War er denn konstruktiv?

Xavier Bettel: Hauptsache ist, dass er zum Schluss konstruktiv war, auch wenn er vorher holprig verlief.

Revue: Was ist die Priorität der Regierungspolitik in naher Zukunft?

Xavier Bettel: Die Klimapolitik mit den konkreten Zielen, die Steuerreform, an der wir arbeiten, die Infrastrukturen, in die wir weiter investieren, dann die Wohnungsbaupolitik, die wirksamer sein soll, weil die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergegangen ist, denn der Bereich Logement hat darauf einen entscheidenden Einfluss, dann kommt noch die Reglementierung von Marihuana. Jedes Ressort hat etwas, was in den nächsten Wochen auf die Tagesordnung kommt. Das größte Stück vom Beefsteak wird aber die Steuerreform sein.

Revue: Zunehmend wird hierzulande über das Wachstum gesprochen. Wie lange soll noch an dem Wachstumsdogma festgehalten werden?

Xavier Bettel: In der Regierung gibt es keinen einzigen Wachstumsfetischisten. Es gibt auch niemanden, der morgens aufsteht und sich fragt, wie man das Wachstum erhöhen könnte. Nehmen wir das Beispiel Google. Wir haben alle Smartphones. Daten sind nun mal die Realität. Wir können nicht den Zug der Daten, von denen wir wissen, dass sie das Erdöl von morgen sind, verpassen. Auch deshalb das Datencenter.

Revue: ...und eine Joghurt-Fabrik?

Xavier Bettel: Wenn sie unsere Kriterien erfüllt, dann ja, wenn nicht, dann nein. Wir haben Spielregeln und die können wir nicht für einen einzelnen Akteur ändern. Es ist eigentlich egal, welche Firma nach Luxemburg kommt — es gibt nämlich viele und weitaus mehr als diese beiden, die stark mediatisiert werden — es gilt immer folgende Rechnung zu machen: Was bringt uns eine Firma in Sachen Arbeitsplätze, Finanzen, Lebensqualität und auch in Sachen Image? In der Regierung ziehen wir jedenfalls alle an einem Strang und ein Projekt, wie das Google-Datenzentrum wird von der ganzen Regierung getragen.

Revue: Die Folgen des Wachstums (unter anderem in Sachen Mobilität, Wohnungsbau) sind jetzt schon deutlich zu erkennen. Wie weit kann Luxemburg noch wachsen?

Xavier Bettel: Mein Vorgänger hat bereits vom 700.000-Einwohnerstaat gesprochen Es wurde aber damals verpasst, die nötigen Maßnahmen zu treffen, welche nötig gewesen wären, um diese Entwicklung richtig zu begleiten. Es gibt also einen großen Nachholbedarf, den die aktuelle Regierung auffangen muss. In Sachen Infrastrukturen wird sehr viel unternommen von Schulen über Straßen bis hin zum Tram und dem Zugverkehr. Wir passen alles den aktuellen Bedingungen an und versuchen aber auch vorzugreifen, a'if das, was noch in Zukunft kommt.

Revue: Auch in Sachen Wohnungsproblematik?

Xavier Bettel: Hier muss man sich vielleicht einmal die Frage stellen, wie wir in Zukunft bauen sollen. Antworten auf Fragen wie zum Beispiel die, wie wir mehr und schneller bauen können, wo man überhaupt noch bauen kann und wie man den Leerstand bekämpfen kann, kann der Staat aber nur in Zusammenarbeit mit den Gemeinden finden. Auch wenn ich liberal bin, kann ich nicht nachvollziehe}, wenn auf der einen Seite Wohnungen über Jahre leer stehen und es auf der anderen Seite ein Manko an Wohnraum gibt. Im Koalitionsabkommen werden Pisten aufgezeigt, die wir; analysieren werden, wie zum Beispiel eine Reform der Grundsteuer. Es ist aber eine schwierige Aufgabe, wenn wir zum Beispiel finanzielle Unterstützungen fürs Wohnen auszahlen, treiben wir die Preise mit. Zahlen wir keine, können sich die Menschen kaum noch eine Wohnung leisten.

Revue: Der Sozialdialog hat in den letzten Wochen für reichlich Diskussionen gesorgt. Wie sehen Sie die aktuelle Lage?

Xavier Bettel: Dialog ist wichtig, und wenn ich die Ausdrucksweisen — die ich jetzt nicht wiederholen werde — der einen und der anderen Seite höre, um den aktuellen Sozialdialog zu beschreiben, dann stelle ich mir Fragen. Das Luxemburger Modell ist eines des Dialogierens. Ich weiß, dass viele/es nicht mehr hören können, wenn ich sage, es geht darum, Brücken zu bauen, aber das ist nun mal eine der Starken des Landes. Wir haben Brücken zwischen verschiedenen Ländern gebaut, aber auch hierzulande Brücken zwischen den einzelnen Sozialpartnern. Egal ob es die Gewerkschaften oder die Arbeitgeber sind, beide Seiten sollten sich beruhigen und wieder den Weg finden, einen normalen Dialog untereinander zu führen.

Revue: Ansonsten?

Xavier Bettel: Schadet dies jedem der Beteiligten. Sowohl den Arbeitgebern, wie den Gewerkschaften, aber auch dem Image unseres Landes. Wenn wir den Sozialdialog auf eine Konfliktsituation reduzieren, ist dies sicherlich nicht gut. Bislang haben wir es immer geschafft; im Konsens oder zumindest im Dialog die Dinge zu klären.

Revue: Inwieweit ist es dann an der Regierung zu intervenieren?

Xavier Bettel: Es ist ja eh so, dass die Politik die Verantwortung trägt. Die Abgeordnetenkammer stimmt über die Gesetzestexte ab und kein anderer. Nicht die Gewerkschaften, nicht die Arbeitgeber und auch nicht die Regierung. Es ist natürlich deutlich besser, wenn wir es schaffen, im Vorfeld dieser Abstimmung die Sachen auszudiskutieren und zu klären. Wenn Nicolas Bück sagt, es sei an der Politik, Verantwortung zu übernehmen, dann kann ich dem nur zustimmen. Es ist mir aber allemal lieber, dass wir Positionen vertreten, welche auf einem breiten Konsens fußen, anstatt Texte zu haben, die immer von einer Seite beanstandet werden. Dialog, gegenseitiger Respekt und Kompromissbereitschaft sind, wie gesagt Schlüsselelemente im Erfolgsmodell Luxemburg.

Revue: Ein paar Affären (Carole Dieschbourg in der Traversini-Affäre, Corinne Cahen und ihre E-Mail) sorgten in letzter Zeit für Aufregung. Wie sehr schaden solche Dinge dem Image?

Xavier Bettel: Natürlich sind solche Sachen nicht positiv, wenn es um das Erhalten des Vertrauens in die Politik geht. Verschiedene Leute versuchen auch, daraus Kapital zu schlagen, in dem sie sagen, dass die Politik nicht den richtigen Weg vorgibt. In der einen Affäre macht die Justiz aktuell ihre Arbeit, deshalb werde ich die nicht kommentieren, in der Frage rund um Corinne Cahen hat der Ethikrat entschieden und. festgehalten, dass die Ministerin eben nicht gegen den Deontologiekodex verstoßen hat. Corinne Cahen hat ja selbst gesagt, dass es nicht opportun war, diese Mail über ihren Minister-Account zu verschicken. Daraus allerdings eine Affäre zu machen, als würde Korruption vorherrschen, als würden Dinge vertuscht werden oder als hätte jemand daraus Profit schlagen wollen, halte ich dann doch für stark übertrieben. Das Vertrauen in die Politik wieder herzustellen und zu festigen ist eine Aufgabe für die Zukunft, denn wir haben das Glück, dass wir hierzulande noch keinen Front national und keine AfD haben.

Revue: Ist dieses Aufbauschen von Affären nicht auch ein Anzeichen eines neuen politischen Klimas?

Xavier Bettel: Nehmen wir den "Film fund". Ich habe dieses Audit in Auftrag gegeben, weil ich Klarheit schaffen wollte, bevor über ein Budget diskutiert wird. Das wurde dann so aufgebauscht, als würde der ganze Filmsektor unter Verdacht stehen. So etwa ist nie gut. Die CSV hat gefragt, dass ich in der Abgeordnetenkammer Stellung beziehen soll, was ich gern getan habe, weil eben keine Missstände festgestellt wurden. Richtig ist aber auch, dass es bei den Vorwürfen um "olle Kamellen" geht. Aus Zeiten, als die CSV Verantwortung für diesen Bereich getragen hat.

Revue: Kann man gegensteuern?

Xavier Bettel: Ich glaube, hier steht die Presse in der Verantwortung und diese muss unterstützt werden. Ein Presseorgan hat eine andere Rolle als die sozialen Medien. In Bezug auf Fake-News müssen Journalisten die Menschen mit objektiver Berichterstattung informieren.

Revue: 2020 steht vor der Tür. Was erwarten Sie sich für die nächsten zwölf Monate?

Xavier Bettel: Hierzulande sozialer Frieden im weitesten Sinne und eine soziale Kohäsion. Und dass wir ein Gleichgewicht zwischen Wachstum und Lebensqualität weiterbringen können. Auf internationaler Ebene etwas mehr Ruhe, weil wir zum Bespiel in der Wirtschaft aktuell viel mit Reaktionen, Gegenreaktionen, Sanktionen und Gegensanktionen funktionieren. Neue Konflikte brauchen wir nicht. Für Europa hoffe ich, dass wir uns alle wieder bewusst werden, dass Europa nicht das Problem, sondern die Lösung des Problems ist.

 

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