Interview mit Jean Asselborn im Tageblatt

"Außenpolitik lernt man nicht über Google"

Interview: Tageblatt (Leila Redzepagic, Tim Lautem, Nina Schaack (3A*Média Lrsl))

Tageblatt: Wie beeinflusst die Pandemie Luxemburg?

Jean Asselborn: Weltweit sind alle Länder von der Pandemiebetroffen, von 193 Ländern in der UNO ist kein einziges Landverschont geblieben. Leider sind die ärmsten Länder auch am schwersten davon betroffen. Während sich in Indien jeden Tagunzählige Menschen anstecken und sterben, weil sie unterschrecklichen Bedingungen leben müssen, können wir in Luxemburg feststellen, dass wir zwar immer noch zu viele Sterbefälle und zu viele Menschen auf den Intensivstationen haben, aber dennoch nicht so stark betroffen sind wie ärmere Länder, wo man unheimlich viel leidet. Es ist offensichtlich, dass wir auch durch die Pandemie ökologisch, ökonomisch, sozial und politisch betroffen sind. Die Regierung und eine Majorität des Regierungsrats sind der Meinung, dass wir jedoch trotz allem einigermaßen gut davongekommen sind. Im Gegensatz zu anderen Ländern, die 5-7%anBIP verloren haben, hat Luxemburg nur 1,3%v0 verloren. Ein Punkt, auf den ich noch eingehen möchte, ist, dass jeder Luxemburger 5.000 als Hilfebekommen hat. Damit erreichen wir die absolute Spitze in Europa, da es kein anderes Land inEuropa gibt, welches so viel Hilfe pro Einwohner aufgeboten hat. Aus diesem Grund ist die Arbeitslosenquote bei uns in Luxemburgbei 6,1%g0 geblieben und nicht auf15%g0 gestiegen wie in anderen Ländern. Man kann also schlussfolgern, dass wir anders betroffen sind als andere Länder. Jedoch muss man auch erwähnen, dass auch hier zu viele Menschen ihr Leben verloren haben und zu viele Menschen stark gelitten haben. Pfleger, Ärzte usw. habenhöchstwahrscheinlich noch nie unter diesen schrecklichen Bedingungen arbeiten müssen.

Tageblatt: Was halten Sie davon, dass Deutschland die Grenzen geschlossen hatte?

Jean Asselborn: Davon halte ich nichts, denn das war nicht richtig. Wir habenhier in Luxemburg von Anfang an gesagt, dass Corona nicht an den Grenzen zu stoppen ist. Ein Virus kann man ja nicht stoppen mit einer Maschinenpistole und auch nicht mit Polizisten auf der Grenzbrücke in Schengen. Vor einem Jahr hat Deutschlandgeglaubt, dass der einzige Weg, sich zu schützen wäre, die Grenzen zu schließen. In Deutschlandwaren schließlich von 24 Grenzen nur noch 6 offen. Eine meiner Aufgaben damals war deswegen, einen Weg zu finden, manche Grenzen zumindest von Luxemburg nach Deutschland wieder zu öffnen, damit die Menschen, die in Deutschland wohnen und in Luxemburgarbeiten, keinen Umweg von 200km machen müssen, nur um zur Arbeit zu fahren. Grenzen zuschließen war also absolut falsch, und es ist immer noch falsch. Wir haben da ein Einverständnis mit dem Saarland und Rheinland-Pfalz gefunden, das darin besteht, dass wir Luxemburger in beide Bundesländer auch ohne Test für 24 Stunden einreisen können. Für Belgien gilt das Gleiche, nur dass wir dort sogar 48 Stunden ohne Test bleiben dürfen. In Frankreich gab es dieses Einverständnis nie, da es mit Frankreich aber auch nie ein Problem gab, was das Schließen der Grenzen betrifft. Für uns in Luxemburg ist das Ganze sehr wichtig, weil wir 200.000 Grenzgänger haben; davon 50.000 aus Deutschland, 100.000 aus Frankreich und 50.000 aus Belgien. Wir können also keine Grenzen schließen, weil unser System sonst nicht mehr funktioniert.

Tageblatt: Denken Sie, dass die rechtsextremen Tendenzen gestiegen sind durch die Corona-Pandemie?

Jean Asselborn: Rechtsextreme Parteien gab es schon immer. In der Migrationskrise wurde ja viel deutlicher als jetzt in der Pandemie, wo diese platziert sind. Ich brauch euch ja nur zwei Namen zu nennen: Salvini in Italien oder Orbán in Ungarn. Diese Parteien erzielen Stimmen, indem sie den Leuten Angst machen und Sachen erzählen, wie dass die Flüchtlinge uns die Arbeitsplätze wegnehmen und von unserem Sozialsystem profitieren. Für sie waren die Flüchtlinge ein Instrument, um an Macht zu gewinnen. Diese Tendenz hat aber nichts mit der Pandemie zu tun, sondern gab es durchaus auch schon vorher. Ich denke sogar, sie sind geschwächt durch Corona. Da zum Beispiel Marine Le Pen nicht mehr auf den Austritt aus der EU pocht wie 2017, aber auch Salvini in Italien ist ruhiger geworden. Dass die Amerikaner Trump abgewählt haben, ist gut, denn sein Slogan "America First" heißt so viel wie, wir sind die Base, wir haben den Lead und außer uns gibt's nichts, diese Einstellung von ihm fördert die rechtsextremen Tendenzen. Genau durch solche Einstellungen sind auch in der Vergangenheit die Nazis groß geworden und der Zweite Weltkrieg ist entstanden. Ich denke nicht, dass es während der Corona-Pandemie einen Push für den Rechtsextremismus gab, sondern eher während der Flüchtlingskrise, aber auch schon in der Finanzkrise.

Tageblatt: Sehen Sie durch die vielen rechtsextremen Parteien, die den Wunsch äußern, die EU zu verlassen, eine Gefahr für Europa, wenn diese Parteien noch mehr Macht erlangen?

Jean Asselborn: Ganz klar sind die nationalistischen Parteien durch die Präsenz von Europa generiert. Zum Beispiel in Ungarn oder Polen wird die Presse so wie die Justiz von der Regierung kontrolliert. Ganz klar ist es auch nur möglich, dass eine Demokratie sich als solche entwickelt, wenn eine Gegenmacht da ist, in diesem Fall die Presse. Wenn ein Land wie Polen die Presse und Justiz kontrolliert, entspricht das nicht den Prinzipien Europas. Ein Europa, wie wir es jetzt kennen, wäre nicht mehrexistenzfähig. Zudem besorgt mich auch Frankreich. Bei den nächsten Wahlen riskiert Marine Le Pen wieder in die zweite Runde zukommen. Wenn Marine Le Pen gewinnen würde und Frankreich dadurch in die falsche Richtung geht, wären die Auswirkungen katastrophal; nicht nur die Zukunft Frankreichs hängt davon ab, sondern auch die von ganz Europa. In Deutschland hingegen ist die AfD auch mächtig, aber es gibt mehr demokratische Parteien, und dass die rechtsextremen Parteien einen entscheidenden Platz in der Regierung erlangen können, ist unwahrscheinlich. Insgesamt gibt es europaweitviele rechtsextreme Parteien, z.B. auch in Holland, den skandinavischen Ländern und Italien. Nurin Luxemburg gibt es bisher keine Partei wie die AfD.

Tageblatt: Glauben Sie, wir gehen nach Corona in eine neue Welt, was die globale Außenpolitik betrifft?

Jean Asselborn: Ich denke nicht, dass Corona alles verändert. Ich denke, dass Corona uns zum einen gezeigt hat, wie sehr wir von anderen Kontinenten abhängig sind. Vor allem vom asiatischen Kontinent. Es müsste uns vielleichtzeigen, dass wir wieder mehr bei uns produzieren sollten. Zudem hat Corona dazu verholfen, dass endlich das Paket von Europa gestimmt wurde, um Ländern wie Portugal zu helfen, die sonst in der Arbeitslosigkeit versinken würden. Dieses Budget von 2021bis 2028 wurde die letzten zwei Jahre immer hin und her geschoben und jetzt durch die Pandemie auf die Beine gestellt. Zu guter Letzt hat Corona uns gezeigt, dass jedes Land alleine hilflos ist und wir nur in der Unionstark sind. Auch Luxemburg kritisiert ja zum Beispiel gerade, dass wir nicht genug Impfstoff kriegen. Aber würde die Union nichtexistieren, wo würde Luxemburg die Impfungen dann herbekommen? Das ist ja auch der Sinn von Europa, wie im Klimawandel oder der Migrationskrise, wenn ein Land Probleme hat, hilft eines der 27 anderen.

Tageblatt: Sie haben die Migrationskrise gerade angesprochen. Wie sieht da die Lage momentan auch in Bezug auf die Pandemie aus?

Jean Asselborn: Effektiv ist die Flüchtlingspolitik mit dem Aufkommen von Corona untergeordnet worden. Aber das Problem ist immer noch aktuell. Der Höhepunkt war 2015, aber auch 2016, 2017,2018 wurde täglich darüber gesprochen. Jetzt spricht niemand mehr drüber, aber das Problem ist immer noch präsent. Wir müssten uns zusammenzureißen und in Sachen Verantwortung und Solidarität eine europäische Flüchtlingspolitik aufzustellen.

Tageblatt: Denken Sie, dass Luxemburgunabhängiger werden möchte nach der Pandemie?

Jean Asselborn: Unabhängig sein ist ein großes Wort. Luxemburg ist und wird nie unabhängig werden. Wir sind ein kleines Land, flächenmäßig betrachtet und somit auch klein, was die Einwohnerzahl angeht, aber vor allem sind wir ein wichtiges Produkt von Europa. In sonst keinem anderen Land ist Europa so zusammengewachsen wie hier in der Großregion. Wenn man von Luxemburgspricht, muss man dies in den Kontext der Großregion setzen. Saarland, Rheinland-Pfalz, Wallonien, die deutschsprachigen Teile von Belgien sind hiermit gemeint, genau wie der Grand-Est, Lothringen und Luxemburg. Dies betrifft eine Bevölkerung von 11Millionen Menschen. Luxemburg ist der Kernteil dieser Großregion, das einzige Land. Wir werden nie unabhängig werden in diesem Sinne, dass zu einer Unabhängigkeit sowohl soziale, wirtschaftliche als klimapolitische Unabhängigkeit dazugehören. Man kann von Unabhängigkeit sprechen, wenn es um den Kauf von z.B. Lebensmitteln geht, also mehr lokal einzukaufen. Aber das Wort Unabhängigkeit passt nicht zu der momentanen Lage und auch nicht zum Luxemburger Land. Luxemburg ist ein souveränes Land, ja, wir habenunsere Regierung, unser Parlament, unsere Verfassung, was diese Punkte angeht, ist Luxemburg natürlich unabhängig.

Tageblatt: Wie hat die Corona-Pandemie im Allgemeinen die Außenpolitik beeinflusst?

Jean Asselborn: Zu Beginn der Pandemiehaben wir im Außenministeriumeine Rückholaktion gestartet für Luxemburger, die zu dieser Zeit im Ausland unterwegs waren und die in kürzester Zeit zurück nach Luxemburg einreisen mussten. Mehr als 100.000 Menschen aus Luxemburg waren betroffen. Für einige von ihnen war es kompliziert, zurück ins Land zu gelangen, da zu diesem Zeitpunkt bereits einige Flüge abgesagt wurden oder die Grenzen geschlossen waren. Wir als Außenministerium mussten uns dann wiederum darum kümmern, dass die Grenzen wiedergeöffnet werden. Außerdem war ich als Außenminister immer gewohnt, sehr viel um die Welt zu reisen, was während der ersten Corona-Welle fast nicht mehrmöglich war. Außenpolitik lernt man nicht über Google kennen, es steckt viel mehr dahinter. Sich einen Überblick über die Lage der einzelnen Länder und deren Schwierigkeiten zu verschaffen, kann man nur, wenn man vor Ort ist. Die ständigen Sitzungen übers Internet haben auch Auswirkungen auf unsere Arbeit im Außenministerium. Außenpolitik ist nun mal auch sehr eng mitpersönlichen Beziehungen verbunden.

Zum letzten Mal aktualisiert am