"Luxemburg ist das am meisten zersiedelte Land"

Interview von Claude Turmes im Luxemburger Wort

Wort: Claude Turmes, wie empfinden Sie als langjähriger Europa-Abgeordneter die Verteilung der europäischen Topposten? 

Claude Turmes: Dieses Postengeschacher ist eine einzige Katastrophe. Das, was geschehen ist, ist umso bedauerlicher, als im Mai derart viele Bürger von ihrem Wahlrecht Gebrauch machten, so dass die EU-Wahlen eine positive Reaktion gegen die rechtspopulistischen Tendenzen waren. Eigentlich haben die Grünen diese Wahlen gewonnen und nicht die Rechtspopulisten. Folglich wirkt es dann absurd, wenn Angela Merkel und Emmanuel Macron eine künftige Kommissionspräsidentin durchsetzen, die einerseits nicht dem Spitzenkandidatenmodell entsprang und andererseits nicht an einer Allianz mit dem Wahlgewinner interessiert war. Dieses Vorgehen musste nach außen in einem Kommunikationsdesaster enden. 

Wort: Im Europaparlament waren Sie es gewohnt, fraktions- und parteiübergreifende Allianzen zu schmieden. Wie schwer fällt da die Umstellung auf das klassische Schema Mehrheit-Opposition? 

Claude Turmes: Das ist schon arg gewöhnungsbedürftig. Die Opposition zeigt keinerlei guten Willen, um mit der Regierung zusammenzuarbeiten und politisch wichtige Felder wie die Energie- und Klimapolitik. gemeinsam zu beackern. Diese Konstellation kann ich aber nicht allein beeinflussen. Wer keine Allianzen eingehen will, will eben nicht. Also werde ich, wie schon in Brüssel und Straßburg, die Kooperation mit anderen Akteuren suchen, ob nun mit dem Handwerk und den Gemeinden, um mit unserer Solarkampagne voranzukommen, oder mit der Fedil, um Instrumente zu schaffen, mit denen die Industrie in die Energieeffizienz investiert. Meine Strategie bleibt es, den dramatischen Herausforderungen unserer Zeit mit einem möglichst breiten Konsens zu begegnen. 

Wort: Konsenssuche war auch bei den "plans sectoriels" nötig, die Sie unlängst auf den Instanzenweg gebracht haben. Jetzt fehlt nur noch die Neufassung des "programme directeur", um über ein umfassendes Arsenal an Landes-planungsinstrumenten zu verfügen. 

Claude Turmes: Nach zehn, zwölf Jahren, die wir mit Diskussionen zugebracht haben, sind wir mit den Leitplänen nun auf die Zielgerade eingebogen, so dass sie endlich Gesetzeskraft erhalten. Das ist eine wichtige Etappe, ob nun beim Plan zu den Grünlandschaften, wo beispielsweise durch natürliche Schneisen zwischen Ortschaften Tabuzonen geschaffen und ein effektiver Naturschutz möglich wird, ob beim Wohnungsbau, wo wir im allgemeinen Interesse eine Marke von 30 Prozent an bezahlbarem Wohnraum einführen, oder bei den Gewerbegebieten, wo es nicht bloß um Ausweisen geht, sondern auch wie Industriezonen erschlossen werden, um ein Plus an Akzeptanz und Lebensqualität für alle zu gewährleisten. Als nächstes werden wir uns dann um das "programme directeur" kümmern, das als Zielhorizont 2035 hat. Dabei geht es mir unter anderem darum, flächendeckend ein Mindestangebot an Dienstleistungen zu schaffen. Ich bezeichne das als eine offensive Politik der Dekonzentration. 

Wort: Müsste die Landesplanung aufgrund der wirtschaftlichen Anziehungskraft Luxemburgs nicht in viel stärkerem Maße den Aspekt der Großregion berücksichtigen? 

Claude Turmes: Wir benötigen in der Tat eine bessere Zusammenarbeit über die Grenzen des Landes hinweg. Im Herbst wollen wir eine detaillierte Analyse über die Landesplanung in der Großregion vorlegen, die als Basis für die künftige Zusammenarbeit dienen soll. Die Ausrichtung des "programme directeur" wird folglich auch eine großregionale Dimension haben. 

Wort: Einzelne Gemeinden meldeten Bedenken am Leitplan zu den Industriezonen an, da es nicht mehr attraktiv sei, Unternehmen anzuziehen, da die Gewerbegebiete vornehmlich regional und national ausgewiesen werden sollen. 

Claude Turmes: Wir können nicht weitermachen wie bisher und in jeder Gemeinde eine Aktivitätszone einrichten. Luxemburg gehört heute schon zu den am meisten zersiedelten Ländern. Vor diesem Hintergrund muss man den Mut für einen politischen Richtungswechsel aufbringen und eine regionale Herangehensweise bevorzugen. Jene Gemeinden, die diesen Weg mitgehen, können finanzielle und logistische Hilfe erwarten. 

Wort: Bei der Energieversorgung überschneiden sich Ihre Ressorts Landesplanung und Energie. Wie wollen Sie das umstrittene Tanklager-Dossier angehen? 

Claude Turmes: Wenn wir 2050 klimaneutral sein wollen, heißt das, dass in 30 Jahren kein Auto, kein Kastenwagen und kein Laster mehr mit Benzin oder Diesel fährt. Die entsprechenden Versorgungsbedürfnisse von heute gibt es dann nicht mehr. Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, in der wir den rückläufigen Verbrauch simulieren. Daraufhin treffen wir dann eine Entscheidung zu den Tanklagern. Es führt zu nichts, jetzt aus der Hüfte zu schießen. Vielmehr müssen wir uns der Dringlichkeit der Klimafrage stellen und festlegen, wie wir aus der fossilen Mobilität aussteigen. 

Wort: Als Energieminister ist der nationale Energie- und Klimaplan Ihre wichtigste Hausaufgabe. Wie realistisch sind die darin enthaltenen Ziele, beispielsweise - 50/55 Prozent beim CO2, + 23 Prozent bei den Erneuerbaren - in Anbetracht einer wenig optimistisch stimmenden Realität? 

Claude Turmes: Gegenfrage: Was ist Realismus in Zeiten der Klimakrise? Wir befinden uns in einer Krise und müssen bei den erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz schleunigst in den Krisenmodus schalten. Das eigentliche Problem in Luxemburg ist, dass es auf einer kleinen Fläche eine gigantische Energienachfrage gibt. Ändert sich nichts an diesem Niveau der Nachfrage, können wir niemals 100 Prozent erneuerbare Energien auf dieser Fläche schaffen. Deshalb lautet meine oberste Priorität Energieeffizienz, Energieeffizienz und nochmals Energieeffizienz. Das gilt für Standards und Beihilfen im Wohnungsbau und das gilt vor allem bei der Elektromobilität. Sie ist unsere größte Klimaschutzmaßnahme und wird folglich mit einer pro-aktiven Politik gefördert. 

Wort: Vom Durchbruch ist die Elektromobilität dennoch weit entfernt ...

Claude Turmes: ... weil die Automobilkonzerne sie jahrelang boykottiert hat. Diese Zeiten sind jetzt passé aufgrund einer sehr strengen EU-Richtlinie. Und ich bin stolz, dass Luxemburg mit dazu gehört hat, um diese Nuss zu knacken, so dass die Industrie nun für attraktive Angebote an E-Autos sorgen muss. Wir befinden uns in einem ganz anderen Szenario als vor einem Jahr, was auch beweist, dass sich etwas bewegen lässt, wenn die Politik die passenden Antworten formuliert. 

Wort: Passende Antworten müssen auch auf die Kritik gefunden werden, wenn es einerseits um die Herstellung der Batterien geht und andererseits um deren Entsorgung. 

Claude Turmes: Diese Probleme werden wir nicht in Luxemburg lösen. Sobald die neue EU-Kommission ihre Arbeit aufgenommen hat, wird es zu einer Überarbeitung dér Batterie-Recycling-Direktive kommen. Sie soll, dafür haben wir uns schon in den vergangenen Jahren in Brüssel eingesetzt, extrem verschärft werden und eine vollkommene Entsorgung beinhalten. Was jetzt schon quasi spruchreif ist, ist eine neue Eco-Design-Richtlinie für Batterien. Und dann wird es für die EU darum gehen, gemeinsam mit anderen Staaten Standards festzulegen, nach denen die in den Batterien enthaltenen Stoffe abgebaut werden. 

Wort: Ein Mobilitäts- und gleichzeitig auch Budgetproblem bleibt der Tanktourismus. Wann ist der große Wurf zu erwarten? 

Claude Turmes: In einer Arbeitsgruppe bestehend aus Energie-, Finanz-, Klima- und Wirtschaftsministerium, sind wir uns einig, dass der Verkauf von Benzin und Diesel nicht mehr sein kann, als die nationalen Klimaziele erlauben. Im Mai dieses Jahres erfolgte eine erste Anpassung, im Herbst werden wir dann über weitere Schritte beraten. Wichtig ist, dass wir uns von einer Finanzplanung verabschieden, die für 2021, 2022 und 2023 mehr Benzin- und Dieseleinnahmen einkalkuliert, als klimaverträglich sind. Wenn wir bis 2050 die Klimaneutralität anpeilen, müssen wir in diesem Punkt von schwindenden Einnahmen ausgehen und folglich in den kommenden Jahren einen ernst gemeinten Übergang planen. 

Wort: Sie bewerben Ihre Politik gerne mit markigen Begriffen. Was müssen wir uns konkret unter dem Solar-Tsunami vorstellen? 

Claude Turmes: Der Begriff der massiven Solar-Offensive passt wohl eher. Mir geht es darum, dass jeder seinen Beitrag leisten kann und die Fotovoltaikkampagne geht genau darauf ein. Die Bürger, die Gemeinden und das Handwerk machen mittlerweile in einem Maße mit, dass die Auftragshefte der Unternehmen voll sind und wir nun vor der Herausforderung stehen, ausreichend Fachkräfte zu finden, um die Solaranlagen zu installieren. 

Wort: In puncto Energieverbrauch erntet die Regierung zurzeit mit den Beispielen Fage und Google viel Kritik. 

Claude Turmes: Bei Fage ist der Wasserverbrauch das Problem. Google hingegen ist ein ganz großer Stromkonsument. Wobei dies kein rein luxemburgisches Problem ist. Die Datenzentren von heute stehen im kompletten Konflikt zum Klimaschutz. Wenn wir es nicht schaffen, künftig Datenzentren zu bauen, die energieeffizienter sind, wird der Stromverbrauch explodieren. Im Zeitalter von Big Data sind Datenzentren unverzichtbar; die Betreiber müssen fortan aber größere Anstrengungen leisten, um effizienter zu funktionieren. Und die Politik ist gefordert, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen und europäische Mindeststandards für Datenzentren zu erlassen. 

Wort: Zur Nachhaltigkeit gehört neben der wirtschaftlichen und ökologischen auch die soziale Komponente. Wie will die Regierung mit ihrer Klimapolitik eine für viele Menschen drohende Energiearmut verhindern? 

Claude Turmes: Wir werden, so wie es die europäischen Vorgaben verlangen, der Energiearmut im nationalen Energie- und Klimaplan ein gesondertes Kapitel widmen. Eine Riesenherausforderung stellt die Gebäudeisolierung dar. Hier benötigen wir innovative Lösungen und wir stehen bereits in Beratungen mit Verbänden wie der Caritas und den Sozialämtern. Klimaschutz ist eine wesentliche politische Aufgabe. Aber genauso wichtig ist es, die Voraussetzungen zu schaffen, um die soziale Ausgrenzung zu vermeiden. . 

Wort: Mit Blick auf die Koalition wird die Arbeit von Déi Gréng zurzeit besonders kritisch begleitet. Können Sie diese Kritik nachvollziehen oder werden zu hohe Maßstäbe angewandt? 

Claude Turmes: Es bewahrheitet sich eben, dass Politik ein raues Geschäft ist. Als Grüne betreuen wir eine Reihe von Dossiers, mit denen wir politisch an vorderster Front stehen, sei es die Energie- und Klimafrage, die Umsetzung der Datenschutzrichtlinie, oder der Wohnungsbau. Hinzu kommt, dass Déi Gréng die vergangenen Chamber- und EU-Wahlen gewonnen haben, was einen gewissen Neid schürt. Dass sich die Opposition derart auf die Grünen einschießt, hat für mich auch damit zu tun, dass wir es waren, die diese Koalition im Oktober 2018 gerettet haben - und dass die Perspektive gegeben ist, dass das Dreierbündnis noch ganz lange Bestand haben kann. 

Wort: Machen Déi Gréng nicht dennoch die Erfahrung, dass Ideen aus der Opposition doch nicht so einfach in die Praxis umzusetzen sind, umso mehr, wenn man sich auch noch mit zwei Koalitionspartnern verständigen muss? 

Claude Turmes: Wir sind bestrebt, professionell zusammenzuarbeiten und das Koalitionsabkommen, das der gemeinsame Nenner von Grünen, Liberalen und Sozialisten ist, eins zu eins umzusetzen. Wenn ich sehe, dass im Vorfeld der vorigen Parlamentswahlen viele Bürger davon ausgingen, dass es keine Neuauflage von Blau-Rot-Grün geben wird, dann bin ich mittlerweile immens optimistisch, dass diese Regierung dem Land in ihrer jetzigen Zusammensetzung noch sehr lange erhalten bleiben wird. Das ist allemal der Modus, in dem diese Koalition funktioniert. 

Wort: Was tut Claude Turmes, um in seinem Urlaub Abstand von der Politik zu gewinnen? 

Claude Turmes: Für mich gibt es ein Leben ohne Politik. Das ist mir wichtig. Ich werde in diesem Sommer mit meiner Frau gemütliche Ferien in Frankreich verbringen. Ein Teil dieses Urlaubs ist das Meer, ein Teil die Berge und ein Teil ein Yogatisch. 

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