Interview von Jean Asselborn im Südkurier

"Die EU kennt keine Apartheid"

Interview: Südkurier (Stefan Lutz / Walther Rosenberger)

Südkurier: Herr Asselborn, der nahe Osten ist in Aufruhr, die USA und China führen einen Handelskrieg und Europa sucht verzweifelt seine Rolle. Wann haben Sie das letzte Mal eine schlaflose Nacht verbracht?

Jean Asselborn: Also ich bin Außenminister, aber auch Immigrationsminister. Da sind die schlaflosen Nächte einigermaßen häufig. Wenn ich die Weltlage mit dem Zustand von 2004 vergleiche, als ich angefangen habe, gibt es schon einen Unterschied. Generell würde ich sagen, dass wir 2004 auch in Europa noch viel mehr Hoffnung hatten. Das war nach dem Irak-Krieg. Im Nahen Osten wurde Abbas gewählt. Zwischen Amerika und Russland war Tauwetter. In Europa haben wir uns angestrengt, wieder normale Beziehungen mit Amerika hinzubekommen. Dann kam die Finanzkrise, dann die Migrationskrise und jetzt die Angriffe auf die Werte der Europäischen Union von innen. Das tut schon weh. Aber nicht schlafen ist keine Lösung. Denn dann hat man am anderen Tag keine Energie, um sich gegen die Entwicklungen zu wehren.

Südkurier: Wie sollte sich Europa denn wehren?

Jean Asselborn: Europa wurde nicht gebaut, um eine militärische Macht zu werden. Es wurde gebaut, um durch Diplomatie zu versuchen, sich besser zu verstehen und Kriege zu verhindern. Wir haben bewusst keine militärische Macht aufgebaut, sondern wir haben Werte errichtet. Und Werte garantieren auf Dauer den Frieden mehr als militärische Macht und Waffen.

Südkurier: Dennoch wirkt Europa fragil und unentschlossen, auch mit Blick auf die Werte, die es vertritt. Verpasst der Kontinent derzeit nicht eine Chance, jenseits der Wertediskussion eine aktivere ordnungspolitische Rolle in der Welt einzunehmen und seinen Einfluss so zu sichern?

Jean Asselborn: Europa wird nie Ordnung schaffen können durch militärische Stärke. Wenn ordnungspolitisch heißt, dass wir uns auf den Multilateralismus, auf das internationale Recht, auf die Menschenrechte basieren, dann sind wir schon lange eine ordnungspolitische Macht.
Wir können uns als Europäer immer nur darauf besinnen, dass der Patriotismus und nationaler Stolz, wie ihn Donald Trump predigt, nicht unsere Referenz ist. Gesunder Patriotismus ist gut, aber nicht übersteigert. Unser Weg ist es, den Multilateralismus und das internationale Recht zu respektieren.
Und da ist Europa bis jetzt noch immer ein Fels in der Brandung. Wir haben 70 Jahre mit Ausnahme des Balkankriegs keinen bewaffneten Konflikt in Europa gehabt. Das Friedensprojekt Europa funktioniert.

Südkurier: Warum wird die Stimme Europa in der Welt dann immer weniger wahrgenommen?

Jean Asselborn: Ich bezweifele diese These. In der Iranfrage hat Europa bewiesen, dass es bedeutsam ist. Ohne Europa wäre das Atomabkommen mit dem Iran nicht zustande gekommen und der Iran hätte heute die Atomwaffe. Dass es jetzt mutwillig zerstört wurde, steht auf einem anderen Blatt. Wir sollten nun alles dafür tun, dass das Abkommen weiter trägt. Dies ist schwierig, sehr schwierig. Wir müssen verhindern, dass im Iran die Urananreicherung wieder voll anläuft.

Südkurier: Wer bekommt die Europafeinde innerhalb der europäischen Regierungschefs in den Griff?

Jean Asselborn: Die Europafeinde, die unsere Werte mit Füßen treten, haben in den vergangenen Jahren Verstärkung bekommen. Es gibt Länder heute in Europa, die haben keine freie Presse mehr. Es gibt Länder, die haben keine unabhängige Justiz mehr. Es gibt Länder, in denen die Trennung der Gewalten nicht mehr existiert. Das ist etwas, was bekämpft werden muss.

Südkurier: Für wie gefährlich halten Sie das innere Auseinanderdriften der EU?

Jean Asselborn: Europa wird nicht aus ökonomischen Gründen und auch nicht aus politischen Gründen scheitern. Wenn es zusammenbricht, dann weil Solidarität und Rechtsstaatlichkeit erodieren. Daher hoffe ich, dass die EU-Kommission, die jetzt ihre Arbeit anfängt, insbesondere bei der Migrationsfrage vorankommt. Es geht nicht nur um Flüchtlinge. Es geht auch um das Prinzip der Aufteilung der Lasten in der Europäischen Union generell. Es kann nicht sein, dass die einen Wahlen gewinnen, weil sie gegen Migration sind und die anderen Wahlen verlieren, weil sie Herz haben und Flüchtlinge aufnehmen.

Südkurier: Bei der Flüchtlingsdebatte hat Europa jahrelang auf Freiwilligkeit der Staaten gesetzt. Ist das der falsche Weg?

Jean Asselborn: Auf Freiwilligkeit in der Flüchtlingsfrage zu setzen, war ein kapitaler Fehler des Europäischen Rates. Und ich weiß auch nicht, wie wir da wieder rauskommen. Wenn es zum Beispiel um die Aufnahme von Bootsflüchtlingen geht aus Malta oder Italien, gibt es vier, fünf, sechs Länder, die sich erbarmen und die Menschen aufnehmen. Alle anderen sagen: Nein! Das ist nicht unsere Sache. Das darf sich Europa nicht leisten.

Südkurier: An der Migrationsfrage entscheidet sich das Schicksal unserer Union?

Jean Asselborn: Das könnte der Fall sein. Denn die Migrationsfrage ist ja keine Frage, die in den nächsten zwei, drei, vier Jahren gelöst ist.

Südkurier: Was ist denn die Lösung? Ist das Dublin-Abkommen überhaupt noch reformier-bar oder muss man einen ganz anderen Ansatz wählen?

Jean Asselborn: Die neue Kommission wird im März ein neues Paket vorlegen, um Dublin zu reformieren. Wir werden sehen.

Südkurier: An den Außengrenzen Europas wird keine Ruhe einkehren, weder in der Ägäis, noch in Nordafrika, wo Libyen im Chaos versinkt. Auf was müssen wir uns einstellen?

Jean Asselborn: Man kann dem türkischen Präsidenten Erdogan für wirklich vieles kritisieren, aber man muss dabei sehen, dass die Türkei Millionen von Flüchtlingen aufgenommen hat. Die EU muss weiter Milliarden in Projekte in der Türkei investieren wie in Schulen oder Spitäler für die Flüchtlinge. In Libyen haben wir dagegen die Situation, dass 750 000 Menschen illegal im Land sind. Wir müssen mit der Uno zusammen Menschen, die im Norden Libyens sind, in die südlichen Nachbarstaaten evakuieren. Zum Beispiel in den Niger oder auch nach Uganda und von dort in die EU aufnehmen. Das sind Menschen, die schwerste Torturen mitgemacht haben.
Ich verstehe nicht, warum Polen beispielsweise Ukrainer oder Weißrussen auf der Flucht aufnehmen würde, Nordafrikaner aber nicht. Alle sind gleich, alle sind Menschen. Die EU kennt keine Apartheid.

Südkurier: Gibt es eine Möglichkeit, zum Beispiel Viktor Orban in der Sache effektiv unter Druck zu setzen?

Jean Asselborn: Was die Flüchtlingsfrage in Ländern wie Italien und Griechenland angeht, hat der Europäische Gerichtshof klar gesagt, dass jedes Land seinen Teil schultern muss.

Südkurier: Und was passiert, wenn ein Land sich widersetzt?

Jean Asselborn: Das Prinzip der Einstimmigkeit in der EU macht es sehr schwierig, auf solche Situationen zu reagieren. Die Sanktionsmöglichkeiten sind hier leider endlich. Aber die EU kann auf Dauer keine Mitgliedstaaten mitschleppen, die das Gemeinschaftswesen und die obersten Regeln der Verträge mit Füßen treten.

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