Interview mit Jean Asselborn im Tageblatt

"Dieser Krieg kann ganz Europa mit hineinziehen"

Interview: Tageblatt (Armand Back)

Tageblatt: Müssen wir uns auch in Luxemburg Sorgen machen wegen des russischen Vorgehens gegen die Ukraine?

Jean Asselborn: Dieser Krieg kann ganz Europa mit hineinziehen. Wenn die russischen Ansprüche über die jetzige Demarkationslinie im Donbass hinausreichen, kann ich die Folgen nicht voraussehen. Ich kann das als Außenminister eigentlich nicht sagen, aber ich befürchte ganz, dass es dann wirklich brennt – und zwar so, dass es schwer wird, diesen Brand zu löschen.

Tageblatt: Die ganze Welt fragt sich, was Wladimir Putin will. Was denken Sie, was der russische Präsident vorhat?

Jean Asselborn: Ich weiß, was er nicht will. Putin will verhindern, dass in einem Land wie der Ukraine, die größer ist als Deutschland und Frankreich zusammen, ein anderes System möglich ist als in Russland – eines, das Rechtsstaatlichkeit und individuelle Freiheiten garantiert. Es geht nicht nur um die beiden ostukrainischen Provinzen, vielleicht nicht mal nur um die Ukraine. Putin will Einflusszonen. Einen solchen Weg können wir nicht gehen. Die Zeiten sind vorbei, die Mauer ist gefallen.

Tageblatt: Trotzdem gibt Russland das Tempo vor und hat am Montag die beiden Separatisten-Provinzen im Osten der Ukraine anerkannt. Was sind die Folgen dieses Schrittes?

Jean Asselborn: Seit Montagabend ist das Minsk-Abkommen kaputt. Damit ist die Idee gestorben, vielleicht auf dem Weg dieser Verhandlungen zwischen Ukrainern und Russen einen Ausweg aus der Krise zu finden. Es wird jetzt sehr schwer werden, wieder in die diplomatische Schiene zurückzufinden und weiter daran zu glauben, dieses Problem sei mit Diplomatie zu lösen. Was passiert ist, ist gewaltig. Russland hat unter einem Vorwand, der nach internationalem Recht nicht zu rechtfertigen ist, ein großes Stück der Ukraine abgeschnitten. Indem es die beiden "Volksrepubliken" als unabhängig anerkennt, besetzt es sie. Und es wird nicht lange dauern, bis es zu dem kommt, was in anderen Ländern schon passiert ist: einer Annexion.

Tageblatt: Ist eine diplomatische Lösung überhaupt noch möglich?

Jean Asselborn: Am Montag hat Wladimir Putin den Tisch umgeworfen und alles an Vorschlägen weggeschmissen, was in den vergangenen Wochen und Monaten von den Amerikanern, der NATO, der Europäischen Union und aus dem NATO-Russland-Rat gekommen ist. Wir sind jetzt auf einer Schiene, die bereits im 20. Jahrhundert unglaubliches Leid ausgelöst hat: Ein Land macht aus der Logik des Stärkeren heraus das, was ihm gerade in den Kram passt, ohne sich um die Konsequenzen zu scheren – und verändert mit Angst und militärischer Macht Grenzen. Das ist ein Eingriff in die funktionierenden internationalen Regeln, wie er schlimmer nicht sein könnte. Für mich, als jemand, der schon länger dabei ist, ist das traumatisierend.

Tageblatt: Putin sagt, er fühle sich von der NATO bedroht.

Jean Asselborn: Die NATO ist ein Verteidigungspakt und hat noch nie einen Soldaten nach Russland geschickt. Vor dem, was wir jetzt von Russland sehen, muss man Angst haben. Da sitzen mehr als 150.000 russische Soldaten quasi mit laufendem Motor an den Grenzen zur Ukraine. Der unrechtmäßige belarussische Präsident Alexander Lukaschenko und Putin liegen sich in den Armen und feiern gemeinsam ihre Manöver, von denen die russischen Truppen, anders als angekündigt, gar nicht zurückkehren sollen. Dazu hört man, dass wieder Nuklearraketen in Belarus aufgestellt werden sollen. Bis nach Polen ist es von dort nicht weit. In den beiden nun von Moskau anerkannten Provinzen in der Ostukraine sollen vielleicht russische Militärstützpunkte entstehen. Das wird eine Art permanente Gefahr –aus der eine extrem negative Dynamik entstehen kann. Dass die NATO eine Bedrohung sein soll, ist angesichts dessen doch ein Witz.

Tageblatt: Putin hat seine Anerkennung der beiden "Volksrepubliken" damit gerechtfertigt, dass dort vier Millionen Menschen von der Ukraine massakriert werden könnten.

Jean Asselborn: Diese Rede Putins war doch surreal. Wo kommt der daran, so etwas zu behaupten? Das ist alles extrem besorgniserregend. Bei der Krim wurde dauernd argumentiert, dass die schon immer russisch gewesen sei. Die Teile der Ostukraine, über die wir jetzt reden, waren nie russisch. Wo soll das hinführen? Das größte Land der Welt hat doch wirklich genug Platz. Andere Länder unter Druck zu setzen und Stücke abzuschneiden – das wird kein gutes Ende finden. Inzwischen verstehe ich die Reaktionen im Osten Europas und die Angst der Menschen dort viel besser.

Tageblatt: Sergej Lawrow ist seit März 2004 russischer Außenminister, Sie sind seit Juli 2004 Luxemburgs Chefdiplomat – hat sich Lawrow mit den Jahren verändert? Ab wann haben Sie erkannt, in welche Richtung Russland drängt?

Jean Asselborn: Eigentlich war sogar ein Treffen mit Sergej Lawrow vorgesehen. Wir haben uns immer gut verstanden. Er war ein Diplomat mit allen Allüren, die er in seinem Land und damit in einem anderen System als dem unseren gelernt hat. Aber ich habe ihn immer so erlebt, dass er das Richtige und das Falsche in der internationalen Politik auseinanderhalten kann. Er war lange bei den Vereinten Nationen und weiß, was internationales Recht bedeutet und was nicht. Dass man sich jetzt über alle diese Wahrheiten einfach hinwegsetzt mit dem Argument, dass dort vier Millionen Menschen getötet würden, ist bizarr. Ich verstehe Sergej Lawrow nicht mehr. Dabei habe ich die Beziehungen zu Russland, trotz aller Probleme wie beim Kosovo oder Georgien, nie nur negativ gesehen, ganz im Gegenteil. Aber seit dem Krieg 2014 in der Ukraine ist immer mehr verloren gegangen.

Tageblatt: Wie konnte es so weit kommen?

Jean Asselborn: Das ist die Gefahr eines autokratischen Staates. Es gibt kein Gegengewicht mehr. Die Presse und die Justiz wurden ihrer Unabhängigkeit beraubt. Es gibt keine politische Opposition mehr, weder in der Duma noch in den großen Regionen. Aber genau das ist, auch wenn es nervenaufreibend sein mag, die Essenz der Demokratie: Immer für seine Positionen und Ideen zu kämpfen und sich durchzusetzen. Wenn man aber nur noch eine Wahrheit hat, diese von einem Thron herunter verkündet und alle anderen müssen sie nicht nur annehmen, sondern auch noch verteidigen, dann ist man dort, wo Russland jetzt steht. Ich sehe auch nicht, wie sich von innen heraus in Russland etwas verändern könnte. Die Menschen dort hören keine Gegenargumente mehr, keinen Widerspruch. Die große Gefahr ist, dass sie Putin glauben.

Tageblatt: Glauben Sie, dass Russland von einer noch größeren Militäraktion abzuhalten ist?

Jean Asselborn: Die Russen wissen, dass sie mit dieser Operation nicht auf militärischen Widerstand treffen werden. Darauf aufbauend, scheint ihnen alles andere egal zu sein. Putin pokert sehr hoch. Das passt nicht ins 21. Jahrhundert. Und es passt nicht zu einem Land, das Mitglied des UN-Sicherheitsrates ist.

Tageblatt: Lange hieß es vom Westen, im Fall einer Invasion würde ein ganzes Sanktionspaket losgetreten. Alles auf einen Schlag, damit es seine volle Kraft entfalten kann. Jetzt schickt Putin Truppen in den Donbass und die Sanktionen kommen trotzdem nur scheibchenweise. Ist das keine Invasion, was gerade geschieht?

Jean Asselborn: Das ist eine Frage der Definition. Bis jetzt gab es keinen kriegerischen Vorgang. Wenn militärische Gewalt angewendet worden wäre, hätte es das volle Sanktionen-Paket gegeben, keine Frage. Jetzt sind wir in einer Situation wie 2014 mit der Krim. Wieder wurde ein Stück Land abgeschnitten und es besteht die Gefahr, dass es nicht dabei bleibt. Vorhersagen sind schrecklich schwer, aber ich glaube, wir gehen richtig vor, indem wir nicht sofort das ganze Paket an Strafmaßnahmen auspacken. So setzen wir starke Signale, ohne all unser Pulver auf einmal zu verschießen.

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