Interview mit Claude Turmes im Luxemburger Wort

"Wir verfügen über eine gute Planungskultur"

Interview: Luxemburger Wort (Marc Schlammes)

Luxemburger Wort: Claude Turmes, wie erklären Sie dem Laien das Programme directeur und dessen Bedeutung?

Claude Turmes: Im Programme directeur sind die großen Linien der Landesplanung zusammengefasst, die sowohl für die Regierung als auch die Gemeinden gelten, beispielsweise bei der Ausarbeitung ihrer Bebauungspläne. Das Programme directeur dient aber auch den privaten Akteuren als Orientierung, wie sich Luxemburg entwickeln soll. Und vor dem Hintergrund, dass unsere Wirtschaftskraft weit über die Grenzen hinausgeht, ist mir auch wichtig, dass wir territorial enger mit unseren Nachbarregionen zusammenarbeiten.

Luxemburger Wort: Die Bilanz des Vorgängerprogramms liest sich mehr als beunruhigend: Was ist in puncto Landesplanung in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten schiefgelaufen?

Claude Turmes: Eigentlich muss man den damaligen Ressortminister Michel Wolter (CSV) zum Inhalt seines Programms beglückwünschen, da es bis heute in vielen Punkten relevant bleibt, beispielsweise die Verknüpfung von Mobilität und Landesplanung. Das Problem ist nur, dass sich seine Regierungskollegen danach nicht an die Vorgaben gehalten haben. Daraus schlussfolgere ich, dass man nicht nur ein Orientierungsdokument benötigt, sondern auch über jene Instrumente verfügt, damit sich Staat und Kommunen an die landesplanerischen Zielsetzungen halten.

Luxemburger Wort: Die wesentliche Herausforderung, die sich auch schon 2003 beim letzten Plan directeur stellte, ist, Wunsch und Wirklichkeit aufeinander abzustimmen, beispielsweise bei der Gewichtung zwischen ländlicher und urbaner Entwicklung. Was stimmt Sie zuversichtlich, dass diese Abstimmung diesmal gelingt?

Claude Turmes: Wir haben diesmal eine konkretere Vision, denken Sie nur an den "Luxembourg in Transition"-Prozess und die Idee der Umgestaltung von Gewerbezonen wie Foetz in multifunktionale Gebiete. Und wir verfügen über eine gute Planungskultur, wie die Neunutzung der Industriebrachen in Belval, Wiltz oder auch Düdelingen beweist. Die Herausforderung besteht nun darin, diese Kultur, die eine andere Mobilität beinhaltet und mehr Wert auf Grünflächen legt, in bestehende Viertel einfließen zu lassen. Im Hinterkopf sollten wir stets behalten, die Lebensqualität der Bürger zu verbessern.

Luxemburger Wort: Sie heben die neue Planungskultur hervor. Mit Blick auf die Vielzahl an Akteuren mit ihren teils unterschiedlichen Interessen klingt dies ein bisschen wie die Quadratur des Kreises.

Claude Turmes: Wir benötigen eine Kultur des Zusammenwirkens. Nehmen Sie das Beispiel der Metzeschmelz: Dort haben staatliche Instanzen, die Gemeinden Esch/Alzette und Schifflingen und die Bürger zusammen einen Master-plan aufgestellt. Am Ende ist es eine Frage der Koordination und als Landesplanungsministerium stehen wir in der Verantwortung, dieser Koordination die nötigen Impulse zu geben. Das ist uns beispielsweise bei der CGDIS-Kaserne für die Nordstad gelungen, wo die Standortfrage dank des Impulses aus dem Ministerium geklärt wurde.

Luxemburger Wort: In puncto Zusammenarbeit legen Sie besonderen Wert auf die Beteiligung der Bürger. Beispielsweise mit dem "Biergerkomittee 2050" im Rahmen der "Luxembourg in Transition"-Initiative. Welche Erkenntnisse nehmen Sie aus dem partizipativen Ansatz mit?

Claude Turmes: Ich empfinde es als enorm ermutigend, dass man teils visionäre Ergebnisse erzielen kann, die über den derzeitigen politischen Konsens hinausgehen, wenn man den Bürgern eine passende Plattform anbietet. Für das Gelingen müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Es bedarf einer professionellen Betreuung und Begleitung des Prozesses und die Ergebnisse müssen am Ende ernst genommen werden. Folglich sind eine Reihe von Empfehlungen des "Biergerkomittee 2050" in das neue Programme directeur eingeflossen. Bürgerbeteiligung ist eine Notwendigkeit. Deshalb plädiere ich dafür, einen gesetzlichen Rahmen zu schaffen, um die Bürgerbeteiligung sowohl auf nationaler als auch auf staatlicher Ebene zu verankern.

Luxemburger Wort: Der frühere Premier Jean-Claude Juncker skizzierte einst den 700 000-Einwohnerstaat bis 2050. Das neue Programme directeur geht bis dahin von einer Million Einwohner und 760 000 Beschäftigten aus. Luxemburg verschreibt sich demnach weiter dem Wachstum.

Claude Turmes: Wir benötigen eine andere Qualität der Planung. Dann spielt die Zahl, ob nun 25 000 oder 150 000 zusätzliche Einwohner keine Rolle. In unseren Überlegungen zum Programme directeur inspirieren wir uns am Beispiel Basel, wo die Planung an folgenden Kriterien ausgerichtet ist: Mehr Platz für die Menschen, weniger Platz für Autos, Grünflächen in der Stadt und Grüngürtel um die Stadt, umliegende Dörfer, die ihre Seele nicht verlieren und ihren Bürgern einen Kern an Dienstleistungen anbieten. Das lässt sich planen, ohne sich auf eine Einwohnerzahl festzulegen.

Luxemburger Wort: Dennoch: Sind in Anbetracht der Entwicklungsszenarien bis 2035 und 2050 Vorhaben wie der Schutz der Biodiversität oder der schonende Umgang mit den natürlichen Ressourcen nicht utopisch?

Claude Turmes: Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Mit der Natur gibt es nichts zu verhandeln. Ich kann mich nur wiederholen: Wir benötigen eine Optimierung bei unseren Planungen. Das bedeutet beispielsweise, dass wir den demografischen Zuwachs in den städtischen Räumen organisieren müssen. Nur wenn wir heute ordentlich planen, legen wir die Basis dafür, dass Luxemburg seine Seele nicht verliert und dennoch ein dynamisches Land bleibt.

Luxemburger Wort: Als mitten in der Pandemie 2020 die Grenzen schlossen, führte dies die Bedeutung der Großregion für Luxemburg vor Augen. Wie findet sich das grenzüberschreitende Miteinander im Programme directeur wieder?

Claude Turmes: Mit den sogenannten "aires fonctionnelles" definieren wir ein neues Konzept, das all jene Grenzgemeinden umfasst, aus denen mindestens 50 Prozent der Beschäftigten ihr Geld in Luxemburg verdienen. Wir haben Interreg-Gelder über 50 Millionen Euro loseisen können, um acht Kooperationsprozesse zu organisieren und verfügen somit endlich über ein konkretes Instrument für eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit, die sich mit den alltäglichen Herausforderungen befasst.

Luxemburger Wort: Bei einer begrenzten Fläche von 2 586 Quadratkilometer ist eine kluge Flächennutzung unabdingbar. Wie realistisch ist dennoch die Vorgabe, den Bodenverbrauch ("artificialisation du sol") bis 2035 auf 0,25 Hektar/Tag und bis 2050 auf Null zu reduzieren?

Claude Turmes: Wir können nicht so weiterfahren mit dem enormen Grünlandverbrauch, schon allein aus Gründen des Klimaschutzes und des Erhalts der Artenvielfalt. Wir müssen also platzsparend und multifunktional planen. Allein in den bestehenden Bebauungsplänen ist heute schon Platz für 300 000 Einwohner. Was für den Wohnungsbau gilt, hat auch für die Industriezonen seine Gültigkeit: Der vorhandene Raum muss optimal genutzt werden, mehrere Zwecke erfüllen.

Luxemburger Wort: Mit Blick auf die Kommunalwahlen 2023: Inwieweit wird diese Beschreibung zum Gradmesser, wie die Parteien und Politiker die Entwicklung ihrer Gemeinde sehen?

Claude Turmes: Meiner Meinung nach müssen sie Antworten auf vier Themen formulieren: erschwinglicher Wohnraum, sanfte Mobilität, Schutz vor Überhitzung und soziale Kohäsion, wozu auch die Schaffung öffentlicher Begegnungsräume gehört.

Luxemburger Wort: Sie sprechen die Hitze an. In jüngerer Vergangenheit wurde Luxemburg gleich mehrfach von Wetterextremen heimgesucht. Wie geht die Landesplanung damit um?

Claude Turmes: Für unsere Planungen bedeutet das, dass die Schnittstellen zwischen Urbanisierung und Überschwemmungsgebieten enorm wichtig werden. Konkret müssen wir beispielsweise dafür sorgen, Starkregen in Zukunft an den Hängen abzufangen, also horizontal zu agieren. Da wird auch die Landwirtschaft eine wichtige Rolle einnehmen. Wir verfügen heute über eine breite und solide Datengrundlage, die sollten wir nutzen. Bei der Koordinierung zwischen Mobilitätsplan und Programme directeur haben wir das schon ganz gut fertiggebracht.

Luxemburger Wort: Das Programme directeur thematisiert auch den multiplen Krisenkontext. Zu den Folgen der Corona-Krise gehört, dass sich die Telearbeit etabliert hat. Inwieweit fließt diese Entwicklung in die landesplanerischen Überlegungen ein?

Claude Turmes: Die Telearbeit sollte eigentlich ein ganz wichtiger Bestandteil der künftigen Organisation von Arbeits- und Lebensformen sein. Wir müssen uns in Luxemburg aber auch dem politischen Problem stellen, dass wir mit den drei Nachbarländern unterschiedliche sozial- und steuerrechtliche Vereinbarungen haben. Das ist letztlich auch eine Frage der Attraktivität des Standortes.

Zum letzten Mal aktualisiert am