Interview mit Jean Asselborn im Tageblatt

"Nur Putin kann diesen Krieg beenden"

Interview Tageblatt (Armand Back)

Tageblatt: Ein Jahr Krieg und es ist kein Ende in Sicht. Oder sehen Sie Zeichen für einen möglichen Frieden?

Jean Asselborn: Nein, ich sehe keines. In seiner Rede diese Woche sprach Wladimir Putin vom Westen, der den Krieg begonnen hätte und voll mit Nazis wäre. Zu einer diplomatischen Lösung, zur Frage, wie Frieden zu erreichen sei, verlor er kein Wort. Das ist die bittere Realität — es ist kein Anhaltspunkt erkennbar, an dem man sagen könnte: Setzen wir uns wenigstens einmal zusammen und schauen, was dabei herauskommt. Putin will keinen Frieden und sucht keine diplomatischen Lösungen. Dabei ist er der Einzige, der diesen Krieg beenden könnte. Sogar morgen, wenn er das wollte. Weder die Chinesen, noch Joe Biden, noch die NATO oder sonst jemand kann das. Ich hatte lange gehofft, dass der Jahrestag vielleicht ein kleines Fenster für Gespräche über den Frieden öffnen könnte. Jetzt muss ich feststellen: Leider sind wir nicht da.

Tageblatt: Wie wird der Krieg weitergehen? Wie wird der Westen sich weiter verhalten?

Jean Asselborn: Mit großer Wahrscheinlichkeit, das sagen alle Experten, werden die kommenden Wochen und Monate ausschlaggebend sein. Darum muss der Westen die Ukraine weiter unterstützen. Hier sind nicht zwei dabei, miteinander zu streiten - hier ist einer, Russland, der den anderen, die Ukraine, umbringen will. Im internationalen Recht ist klar festgehalten, dass derjenige, der angegriffen wird, das Recht auf Verteidigung hat. Dieses Recht steht der Ukraine zu. Und die Ukraine darf demnach eine Koalition aus hilfsbereiten Ländern bilden, um sich verteidigen zu können. Genau dabei machen die Europäische Union und somit auch Luxemburg als Teil einer Koalition mit. Wir sind nicht im Krieg mit Russland, aber wir sind da, um der Ukraine zu helfen. Damit ihr diese Verteidigung gelingt, braucht die Ukraine dieselben Mittel, über die Russland verfügt. Sonst wird sie niedergewalzt.

Tageblatt: An den Waffenlieferungen entfacht sich aber auch immer wieder Kritik. Der Hauptvorwurf lautet, diese würden den Krieg unnötig verlängern.

Jean Asselborn: Dass die Lieferung von Waffen und Munition an die Ukraine den Krieg nur verlängert, ist falsch. Das ist ein Narrativ Putins, das Gegenteil ist wahr! Aber das ist die ganze Konfusion in der Diskussion jener, die Frieden wollen, aber gegen eine militärische Unterstützung der Ukraine sind. Jeder will Frieden, doch man muss wissen, dass wir Putin nicht einfach anrufen können, um ihn zu fragen, wann wir endlich verhandeln können - dafür müssten dann alle akzeptieren, dass die Krim und die vier von Russland besetzten ukrainischen Oblasten russisch sind, und dass die Ukraine nie Mitglied der NATO oder einer anderen westlichen Organisation wird. Nur wenn die Ukraine sich wehren kann, wird der Moment kommen, an dem Putin einsehen muss, dass er diesen Krieg nicht mit Gewalt gewinnen kann und an den Verhandlungstisch kommen muss. Wenn wir die Ukraine nicht so ausstatten, dass sie die nächste anstehende russische Offensive abwehren kann, ist es zu spät, dann ist es vorbei mit der Ukraine. Das ist der Einsatz, um den es geht.

Tageblatt: China war zuletzt doppelt in den Schlagzeilen. Einmal preschte das Land mit dem Angebot vor, den Krieg diplomatisch beenden zu wollen. Dann aber meldeten die Amerikaner, China wolle vielleicht Waffen an Russland liefern. Wie ist das zu verstehen?

Jean Asselborn: Wir sollten diese Warnung der USA ernst nehmen. Dass die Amerikaner so etwas einfach hinausposaunen, kann ich mir nicht vorstellen. Es waren auch die Amerikaner, zusammen mit den Briten, die vor Kriegsbeginn vor ebendiesem warnten. Diese Warnung hat damals bei weitem nicht jeder ernst genommen. Sollten die Chinesen Russland tatsächlich mit militärischem Gerät unterstützen, das dieses in der Ukraine einsetzt, stünde China auf einer Stufe mit Iran, das Moskau mit Kampfdrohnen versorgt. Das würde Sanktionen gegen China nach sich ziehen, zum einen. Zum anderen muss man sich die Welt, wie sie dann wäre, einmal vorstellen - mit auf der einen Seite dem Westen und auf der anderen Seite Russland und anderen riesigen Ländern wie China, vielleicht Indien und je nachdem Brasilien, aber auch anderen Staaten, die sagen, das sei ein Krieg der Europäer, der sie nichts angehe. Das ist aber nicht der Fall, und es ist auch kein Krieg der Europäer - es ist ein Krieg der Demokratie gegen die Diktatur, so einfach ist es. Und wer eins und eins zusammenzählen kann und weiß, dass das zwei wird, muss auch erkennen, wer Angreifer und Angegriffener ist, und muss wissen, dass dem Angegriffenen zu helfen ist.

Tageblatt: Was droht denn, wenn Putin diesen Krieg gewinnen sollte?

Jean Asselborn: In dem Fall ist das Schicksal aller Länder im Umfeld Russlands vorgezeichnet, ob das nun Armenien, Georgien, Moldawien oder ein anderes ist. Wenn es Putin gelingt, ein Land mit Gewalt in die Knie zu zwingen - warum sollte er das dann nicht mit anderen Ländern versuchen? Die baltischen Staaten und Polen haben deswegen eine andere Angst als jene europäischen Länder, die etwas weiter im Westen liegen und meinen, so etwas könne nicht geschehen.

Tageblatt: Dass Russland einen NATO-Staat angreift, bleibt gleichwohl sehr unwahrscheinlich - oder sehen Sie das anders?

Jean Asselborn: Schauen Sie: Kaum jemand dachte, dass es zum Brexit kommen könnte. Kaum jemand dachte, dass Donald Trump gewählt würde. Und kaum jemand dachte, dass Putin diesen Krieg lostreten würde. Wir befinden uns in einer Zeit, in der nichts unmöglich ist. Wir müssen weiter aufklären und schauen, dass die Mehrheit der Staaten der Welt bereit bleibt, an die normalen Regeln des internationalen Rechts zu glauben und sich daran zu halten. Auch deswegen müssen wir die Ukraine weiter unterstützen.

Tageblatt: Wie lange können wir uns diese Unterstützung noch leisten?

Jean Asselborn: Wer ist wir? Wenn damit der Westen gemeint ist, muss ich sagen, dass wir da keine wirkliche Wahl haben. Wir können den Russen nicht befehlen, diesen Krieg zu beenden. Zurzeit zeigt Russland auch kein Interesse an einem Waffenstillstand oder an einem Einfrieren des Konfliktes. Militärisch ist das trotzdem nicht zu lösen. Wenn es zu einer Konfrontation zwischen Russland und der NATO, also dem Westen, kommt, ist jede Steigerung in Richtung totaler Zerstörung möglich. Dass diese Unsicherheit noch Jahre bleibt, kann ich nicht ausschließen.

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