Interview mit Luc Frieden im Télécran

"Ich werde anders regieren”

Interview: Télécran: (Martine Folscheid)

Télécran: Das Ende eines jeden Jahres ist traditionell ein Moment für einen Rückblick. Wie würden Sie 2023 in einem Satz beschreiben?

Luc Frieden: Einzigartig.

Télécran: Was war Ihr emotionalster Moment?

Luc Frieden: Die Vereidigung als Premierminister am 17. November.

Télécran: Haben Sie einen bestimmten Moment vor Augen?

Luc Frieden: Ja, den Augenblick, als ich vor dem Großherzog stand, als Beginn einer neuen, wichtigen Etappe in meinem Leben.

Télécran: Und abgesehen von der Vereidigung?

Luc Frieden: Natürlich der Wahlabend mit einem Ergebnis, das ich mir eigentlich nicht direkt so erwartet hatte. Andererseits aber auch die Entscheidung im Januar 2023, als ich akzeptiert habe, Spitzenkandidat der CSV zu werden und alle meine beruflichen Aktivitäten niederzulegen - das war schon eine sehr schwierige persönliche Entscheidung.

Télécran: Ihre Ehefrau beschrieb Sie im Luxemburger Wort als sensiblen Menschen. Wie sensibel oder wie wenig sensibel muss man sein, wenn man eine Regierung bildet?

Luc Frieden: Ich glaube, dass Sensibilität wichtig ist. Dass man sich in andere Menschen hineinzufühlen vermag. Und das habe ich versucht - sowohl in Gesprächen mit vielen Kollegen aus der CSV und DP, aber auch mit den Vertretern anderer Parteien, die keine Regierungsverantwortung erlangt haben. Sich in diejenigen hineinzufühlen, die von einer Entscheidung betroffen werden, empfinde ich als sehr wichtig. Aber Sensibilität hat auch etwas mit einem selbst zu tun, dass man etwas positiv oder negativ empfindet, was andere über einen sagen und schreiben.

Télécran: Haben Ihnen eigentlich die vorigen Premierminister, Xavier Bettel und Jean-Claude Juncker, Ratschläge mit auf den Weg gegeben?

Luc Frieden: Ja.

Télécran: Möchten Sie diese mit uns teilen?

Luc Frieden: Nein. Ratschläge muss man hören, aber jeder hat seine eigene Persönlichkeit. Ich lerne sicher einiges von meinen Vorgängern, aber ich werde anders regieren als sie. Das ist ganz normal, denke ich. Ich suche aber auch nach Inspiration bei Regierungs- oder Staatschefs im Ausland. Bei Barack Obama zum Beispiel, oder Emmanuel Macron. Es ist nicht so, dass ich mich mit ihnen vergleichen würde, das ist nicht mein Ziel. Aber Inspiration zu suchen im Hinblick darauf, wie diese Personen etwas angehen, ist schon wichtig für mich. Ebenso wichtig ist es, daraus dann etwas für sich selbst zu entwickeln. Man soll keine Kopie einer anderen Person sein. Man soll sich selbst treu bleiben.

Télécran: Der vorige Premierminister und der jetzige: Wo liegen die größten Unterschiede?

Luc Frieden: Ich glaube, dass wir in dieser Aufgabe - und im Übrigen in der neuen Regierung - komplementär sein werden. Unterschiede sollten die Bürger selbst herausfinden.

Télécran: Man wird es also noch sehen?

Luc Frieden: Ich glaube, man hat es schon im Wahlkampf gesehen. Jeder von uns hat seinen eigenen Stil.

Télécran: Es wird viel über den "alten" und den "neuen" Luc geredet. Was halten Sie von solchen Kategorisierungen?

Luc Frieden: Ich finde es interessant, wie sich dieser Begriff vom "neuen" Luc im Laufe des Jahres 2023 weiterentwickelt hat.

Ich weiß bis heute nicht richtig, wer ihn erfunden hat. Tatsache ist, dass jeder Mensch sich im Leben entwickelt, und dass ich heute in der Tat etwas "cooler" an einige Themen und Situationen herangehe, wie das vielleicht in der Vergangenheit der Fall war.

Dabei hilft die Erfahrung im Leben, sowohl mit den Kindern als auch im Beruf, und auch die Erfahrung seit 2013 und in der Privatwirtschaft.

All das möchte ich mitnehmen in die neue Funktion. Sich stets seiner großen Verantwortung bewusst zu sein, mit Bestimmung das Regierungsprogramm umsetzen, zuzuhören was gesagt wird, aber auch eine Prise Humor und Distanz zu einigen Ereignissen zu nehmen: Das habe ich mir vorgenommen, um dieses schwierige Amt auszufüllen.

Télécran: Kommen wir zum Ausblick: Woran wird man 2024 am deutlichsten merken, dass Sie nun an der Spitze stehen?

Luc Frieden: Das ist an den Bürgern zu urteilen, nicht an mir. Aber ich glaube schon, dass es eine große Erwartung der Bürger gibt, dass diese Regierung einige Themen anders angeht. Das Wahlresultat hat klar gezeigt, dass sich eine Mehrheit der Bürger eine andere Regierung wünschte, und das muss sich nun auch inhaltlich widerspiegeln. Daran werden wir arbeiten. Darüber hinaus werde ich dieses Amt als Person natürlich anders ausfüllen. Aber wir müssen darüber Ende 2024 reden und nicht Ende 2023.

Télécran: Doch wenn wir die Uhr um ein Jahr vordrehen könnten: Was würden Sie sich Ende 2024 am stärksten wünschen, es getan zu haben?

Luc Frieden: Dass die Menschen im Land empfinden, dass ich meine Aufgabe gut gemacht habe.

Télécran: Die neue Regierung steht in der Kritik, weil der Spitzensteuersatz nun doch nicht erhöht wurde. Wäre denn die Erhöhung in diesen Zeiten, in denen die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht, nicht ein wichtiges Zeichen gewesen?

Luc Frieden: Für mich ist es wichtig, dass die Steuerlast nicht so hoch wird, dass wir für Arbeitnehmer im Vergleich zum Ausland nicht mehr attraktiv sind. Und im Übrigen wurden die CSV und die DP mit Wahlprogrammen gewählt, die sich in steuerlichen Fragen inklusive Spitzensteuersatz sehr ähnlich waren. Wir hatten ein klares Mandat von den Bürgern, um diese Steuerpolitik umzusetzen, und sie wird auch so umgesetzt werden.

Télécran: Bis 2026 soll ein Modell für die große Steuerreform vorliegen. Warum dauert es so lange?

Luc Frieden: Es betrifft die Abschaffung der Steuerklassen, eine extrem schwierige Aufgabe. Dies zu organisieren, wird eine technische und eine politisch sehr schwierige Aufgabe, die Zeit braucht. Die Frage lautet, wie man vorgeht, damit es für die Menschen nachvollziehbar und für den Staat finanzierbar ist.

Télécran: Sie stellen sich also auf große Debatten ein?

Luc Frieden: Ja. Man kann das nicht von heute auf morgen machen, weil es die Steuerlast von Tausenden von Bürgern betreffen wird. Deshalb haben auch die Vorgängerregierungen dies binnen zehn Jahren nicht umsetzen können, obschon sie es immer gewünscht haben.

Télécran: Laut dem aktuellen Unicef-Bericht gilt jedes vierte Kind in Luxemburg als armutsgefährdet. Nun soll es zwar Maßnahmen geben wie die Erhöhung des Kindergeldes für Kinder ab zwölf Jahren - aber zum Beispiel der Caritas geht das nicht weit genug. Sie vermisst tiefgreifende Veränderungen...

Luc Frieden: Jede Armut, ob bei Kindern, älteren Menschen oder generell, ist immer traurig. Ich möchte aber auch die Analyse vertiefen, was Armut wirklich heißt.

Ich weiß, dass es Menschen gibt, die leider in sozial schwierigen Verhältnissen leben müssen. Aber ich zweifele die Auslegung einiger Statistiken in unserem speziellen wirtschaftlichen Umfeld an.

Télécran: Was meinen Sie damit?

Luc Frieden: Ich glaube, man muss sich mehr mit individuellen Situationen beschäftigen als mit Statistiken.

Télécran: Die Kritik reißt nicht ab, dass Bildungsminister Claude Meisch auch noch das Ministerium für Wohnungsbau erhalten hat. Wäre es angesichts der massiven Krise im Wohnungsbau nicht tatsächlich besser, wenn es ein spezielles Ministerium nur für Wohnungsbau gäbe?

Luc Frieden: Wir haben darüber diskutiert, aber kamen zu der Schlussfolgerung, dass die Umsetzung dieses Vorhabens fast unmöglich wäre. Es hätte bedeutet, mit Steuer-, Umwelt-, Landesplanungs- und Bebauungsplanpolitik sowie sozialen Beihilfen Aufgaben von fünf Ministerien zusammenzulegen, was zwei Jahre gedauert hätte. Man kann Steuerpolitik nicht einfach in ein Wohnungsbauministerium geben. Die zweite Ursache war, dass solch eine wichtige Politik nicht von einer Person allein gemacht werden kann. Für mich war es wichtig, dass die Wohnungsbaupolitik, und übrigens auch Immigrationspolitik - zwei politisch komplexe Themen - von beiden Koalitionspartnern umgesetzt werden. Wenn mehrere Minister zuständig sind, wird uns das besser gelingen.

Télécran: Sie haben sehr viel vor in puncto bezahlbarer Wohnungsbau. Wie zuversichtlich sind Sie, dass Sie nun das richtige Rezept haben - nach all den Jahren, in denen keine Lösung gefunden wurde?

Luc Frieden: Wenn man dieses Amt, dass ich jetzt habe, angeht, muss man immer zuversichtlich sein, etwas erreichen zu können. Wenn man mit Pessimismus beginnt, erreicht man nichts. Ich glaube, wenn wir einige Änderungen, sowohl bei den Steuern wie auch bei den Prozeduren, fertigbringen, dann wird mehr Wohnraum entstehen, sowohl bezahlbarer wie allgemeiner Wohnraum. Unser Ziel ist es, das Angebot zu erweitern, und ich glaube, wir werden das schaffen.

Télécran: Sie sind generell ein optimistischer Mensch?

Luc Frieden: Ja, ich bin ein optimistischer Mensch, weil ich aus Erfahrung weiß, dass man Dinge verändern kann. Dies verlangt natürlich Entscheidungen, die nicht jedem gefallen werden.

Télécran: Welche Themen bergen das meiste Konfliktpotenzial?

Luc Frieden: Ich glaube, der Konflikt zwischen Umweltauflagen und Wohnungsbau wird ein schwieriger Konflikt werden.

Wir sind fest gewillt, Natur- und Umweltschutz innerhalb des Bauperimeters etwas einzuschränken, damit mehr Wohnraum entsteht. Das stand in den Wahlprogrammen der beiden Parteien, die diese Regierung bilden. Und das wollen wir umsetzen. Es bedeutet nicht, dass Natur- und Umweltschutz nicht wichtig sind, aber die Wichtigkeit muss sich vor allem auf den Bereich außerhalb des Bauperimeters konzentrieren. Wir wollen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit und der Effizienz in unsere Prozeduren einbauen. Das ist die große Aufgabe des Jahres 2024. Die Richtung ist klar.

Télécran: Innenminister Léon Gloden hat sich einer "verantwortungsvollen Immigrationspolitik" verschrieben, äußerte er kürzlich gegenüber Medien. Handelte Jean Asselborn, der ehemalige Minister für Immigration, denn nicht verantwortungsvoll?

Luc Frieden: Migrationspolitik ist ein sehr schwieriges Thema. Wir müssen alles tun, damit politisch Verfolgte Asyl bekommen. Aber wir haben nicht die Möglichkeit, jeden, der aus wirtschaftlichen oder anderen Gründen nach Luxemburg kommen will, aufzunehmen. Das heißt, dass wir Entscheidungen treffen müssen, damit die, die zu uns kommen, auch hier leben können, eine Wohnung und eine Arbeit finden. Aber wir können nicht jeden aufnehmen, so gern wir das auch tun möchten. Das bedeutet in der Folge, dass wir die Regeln bei Menschen, die keine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, strenger anwenden müssen.

Wenn wir den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft erhalten möchten, brauchen wir eine verantwortungsvolle Migrationspolitik. Sie bildet auch die Grundlage, um Rechtsextremismus und sozialen Sprengstoff in unserer Gesellschaft zu vermeiden.

Télécran: Ein beliebter Spruch unter Diplomaten in Brüssel lautet angeblich, dass Deutschland und Luxemburg mal wieder den Rest der EU isoliert hätten, weil sie häufig die einzigen Mitgliedstaaten seien, die gegen Asylrechtsverschärfungen protestieren. Wird dies unter Ihrer Regierungsverantwortung so bleiben?

Nein. Ich bin überzeugt, dass wir in dieser Frage einen positiven Beitrag zur europäischen Debatte leisten müssen und mit der großen Mehrheit der europäischen Staaten diese Asyl- und Migrationspolitik beschließen müssen.

Europa ist ein wesentlicher Teil der Lösung der Migrationsthematik. Ein kleines Land wie Luxemburg kann das nicht alleine tun und sollte auch anderen nicht Lektionen erteilen.

Télécran: Macht Ihnen die in vielen Ländern der Welt erstarkende Rechte Angst?

Luc Frieden: Absolut. Sie passt nicht in die Wertevorstellung, die ich von einem freien, demokratischen Europa nach dem Kalten Krieg habe. Es zeigt aber auch, dass wir bei einzelnen Themen die Sorgen der Menschen, die so wählen, ernst nehmen und verstehen müssen.

Die Meinung, die diese Menschen an der Wahlurne äußern, ist Ausdruck einer gewissen Angst oder Sorge, über die wir reden müssen.

Télécran: Und die wird befeuert unter anderem durch die Wohnungsbaukrise...

Luc Frieden: Es ist nicht nur eine Frage des bezahlbaren Wohnraums, sondern auch der sozialen Koexistenz. Und zum Teil kann es eine Frage der inneren Sicherheit werden — die Beispiele von Schweden und Holland zeigen, wie ernst man die Themen der Immigration und Integration nehmen muss, damit nicht das geschieht, was zum Beispiel in diesen beiden Ländern geschehen ist.

Télécran: Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass nach den nächsten Parlamentswahlen eine rechte Partei Luxemburgs mit am Koalitionsverhandlungstisch sitzt?

Luc Frieden: Sehr klein, weil wir alles tun werden, damit es nicht zu einer solchen Situation kommt.

Télécran: Wie lautet Ihre Position zum Einstimmigkeitsprinzip der EU? Es würde Jahre dauern, die Verträge zu ändern, sagten Sie kürzlich vor der Presse in Brüssel. Aber wäre es nicht langfristig sinnvoller, dieses Unterfangen einmal in Angriff zu nehmen, anstatt auf alle Ewigkeit mit Vetos wie denen von Ungarn konfrontiert zu sein?

Luc Frieden: In meinen Augen ist es besser, dass einige Staaten in einer verstärkten Zusammenarbeit vorangehen, wenn andere nicht mitgehen wollen — Beispiel Euro, Beispiel Schengen. Ich glaube, dieser Weg ist einer langjährigen Debatte über Vertragsänderungen vorzuziehen. Im Übrigen haben wir in den meisten Bereichen schon heute die Mehrheitsentscheidungen. Ich möchte aber auch nicht, dass durch zu viele Mehrheitsentscheidungen Europa in den Mitgliedstaaten zum einfachen Sündenbock werden kann.

Deshalb plädiere ich eher für eine verstärkte Zusammenarbeit in den Bereichen, in denen die Länder die Integration weiterentwickeln möchten.

Und ich möchte, dass Luxemburg im ersten Zugabteil dieser vertieften Integration sitzt. Denn ein kleines Land kann sich ohne gute Beziehungen zu seinen Nachbarn nicht positiv weiterentwickeln.

Télécran: Der Jahreswechsel ist traditionell die Zeit, in der viele Menschen gute Vorsätze fassen. Haben Sie welche?

Luc Frieden: Sicherlich für das nächste Jahr, da es das erste Jahr sein wird, in dem ich dieses Amt ausübe. Ich möchte einen Beitrag dazu leisten, dass die Menschen in diesem Land ein gutes Leben führen können. Dass sie friedlich und glücklich zusammenleben. Das ist mein Herzenswunsch für das Jahr 2024.

Télécran: Herr Premierminister, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.

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