Interview von Xavier Bettel in der Revue

"Wir haben eine gemeinsame Mission"

Interview: Revue (Stefan Kunzmann, Hubert Morang)

Revue: Herr Premierminister. Bei unserem letzten Interview vor einem Jahr haben Sie sich gewünscht, dass die Menschen sich impfen lassen und wir bald keine Maske mehr tragen müssen. Ihr erster Wunsch ging nur teilweise in Erfüllung, der zweite gar nicht. Was hätte anders gemacht werden müssen?

Xavier Bettel: Alleine kann ich das Virus nicht ausbremsen. Schließlich haben wir es mit einer weltweiten Pandemie zu tun. Wir befinden uns in einer Situation, die äußerst unvorhersehbar ist und welche viele Todesopfer gefordert hat. In vielen Ländern sind die Intensivstationen der Krankenhäuser voll, und wie Sie schon sagen, tragen wir immer noch eine Maske. Wir haben in den vergangenen beiden Jahren sicherlich nicht alles richtig gemacht. Daher ist es auch wichtig, von außen einen Blick auf die Krise zu werfen, um sie zu analysieren und um daraus Schlüsse zu ziehen. Die Regierung hat deshalb eine unabhängige Studie bei der OECD in Auftrag gegeben. Ich denke nicht, dass irgendein Regierungschef in Europa bereits Erfahrungen mit einer Pandemie gemacht hatte. Wir versuchen, das Gleichgewicht zwischen so vielen Freiheiten wie möglich einerseits und nötigen Restriktionen andererseits zu halten. In Luxemburg ist die Rate der positiv getesteten Personen halb so hoch wie in Belgien und liegt unter der von Deutschland. Obwohl wir hierzulande noch sehr viele Freiheiten haben. Ich habe aber in den letzten rund 20 Monaten gelernt, dass man nichts versprechen kann.

Revue: Es gibt aber Länder wie Portugal und Spanien, die zu Beginn der Pandemie besonders hart getroffen wurden...

Xavier Bettel:...und die jetzt besonders hohe Impfquoten von 90 Prozent (Portugal) haben. Sie hatten aber auch zu Beginn eine besonders hohe Zahl von Covid-19-Verstorbenen aufgrund der Pandemie. Dies hat sich auf die Impfquote ausgewirkt. Andererseits war zum Beispiel in Rumänien die Zahl der Covid-Verstorbenen zuerst niedrig, bevor sie nach oben schnellte. Wir haben zurzeit eine Quote von gut 83 Prozent der impffähigen Bevölkerung und 73 Prozent von der Gesamtbevölkerung, die eine erste Dosis erhalten haben. Wir sind also noch nicht am Ziel angekommen. Erst kürzlich begegnete ich einem Paar, das mir sagte, Covid-19 sei lediglich eine Grippe. Dazu muss ich sagen, dass ich schon im Krankenhaus lag und fünf Tage lang um Luft rang. Die 25-jährige Tochter eines guten Freundes, eine Sportlerin, hatte letztes Jahr Covid und kann auch heute noch keinen Sport treiben. Ich besuchte Menschen im Reha-Zentrum, die an Long-Covid leiden. Ich sah einen Mann, der mit einer Sauerstoffflasche herumlief...

Krankenpfleger konnten mir bestätigen, dass der Tod an Erstickung ein besonders schlimmer Tod ist.

Und dann muss ich mir anhören, es sei alles "Fake"... Wir haben jedenfalls die gemeinsame Mission, diese Krise zu bewältigen.

Revue: Wie ist die anvisierte Impfquote ohne Impfpflicht zu erreichen?

Xavier Bettel:...Eine Impfpflicht sollte der letzte Ausweg sein.

Sie ist nicht ausgeschlossen. Ich hoffe aber noch immer, dass die Menschen verstehen, wie wichtig die Impfung für sie selbst ist, aber auch für die Menschen, die ihnen nahestehen und die sie gernhaben. In einem Impfzentrum traf ich Leute, die mir sagten, sie ließen sich jetzt impfen, weil sie an Weihnachten ihre Eltern sehen wollen. Andere meinten, sie hätten keine andere Wahl, da sie arbeiten gehen müssen und sie es sich nicht noch komplizierter machen wollen. Eine Person sagte, sie hätte bisher keine Zeit gehabt, eine andere, sie hätte einen Freund, der schwer erkrankt ist. Es gibt also hunderttausend verschiedene Gründe, sich impfen zu lassen. Und medizinische Fakten beweisen, dass die Impfung wirkt. Das Personal aus der Reha erzählte mir von Corona-Leugnern, die anschließend am Virus erkrankt sind. Andere haben sich nicht impfen lassen und waren noch auf dem Sterbebett davon überzeugt. Der Großteil der Leute meinte aber, dass sie sich hätten impfen lassen, hätten sie das von vornherein gewusst. Die Impfpflicht ist ein delikates Thema. Deshalb versuchen wir die Menschen von der Impfung zu überzeugen und sie dazu zu ermutigen. Aber vom Tisch ist die Impfpflicht nicht.

Revue: Manche lassen sich argumentativ kaum überzeugen. Die Situation ist anlässlich der Protestaktion gegen die Covid-Maßnahmen am Wochenende eskaliert. Einige Demonstranten sind sogar vor Ihrem Haus aufgetaucht.

Xavier Bettel: Dass sie bei mir vor dem Haus erschienen, war nicht das Schlimmste. Ich bin Politiker und weiß, dass nicht jeder mit meiner Politik zufrieden ist.

Für mich war das Schlimmste, dass die Allgemeinheit in ihrer Freiheit eingeschränkt war, dass sich Leute nicht mehr in die Stadt trauen und Eltern mit ihren Kindern den Weihnachtsmarkt meiden, dass Vergleiche mit dem Holocaust gezogen wurden, indem einige Demonstranten einen gelben Stern trugen — eine Beleidigung für die sechs Millionen jüdischen Opfer — oder, dass die "Gëlle Fra" beschmutzt wird, ein Monument der Freiheit, Journalisten angegriffen werden, wenn sie etwas schreiben, was manche nicht gern lesen. All das ist für mich nicht akzeptabel.

Revue: Haben sich diese Tendenzen radikalisiert und ist die Stimmung im Laufe der Pandemie aggressiver geworden?

Xavier Bettel: Ich akzeptiere es, wenn Menschen anderer Meinung sind als ich, auch wenn wissenschaftlich und medizinisch bewiesen wurde, dass sie falsch liegen. Aber dass sie die Grenzen von Hass und Gewalt überschreiten — das geht nicht. Ich akzeptiere auch, wenn Leute die Nase voll haben, doch so geht es nicht nur ihnen, sondern hundert Prozent der Menschen haben die Nase voll. Niemandem gefällt es, wenn die Freiheiten eingeschränkt sind. Die jungen Leute, die ihre Jugend nicht ausleben dürfen, die Alteren, die keine Zeit mit den Menschen verbringen können, die sie gerne sehen würden. Wir können über alles reden. Aber dass diese kleine Minderheit mit Hass und Gewalt vorgeht und die düstersten Zeiten der Geschichte verharmlost, das akzeptiere ich nicht.

Und das ist ein Zeichen der Radikalisierung. Man darf in Luxemburg demonstrieren. Deshalb haben wir nun Zonen festgelegt, wo demonstriert werden darf. Wenn aber jemand an einer solchen Demonstration teilnimmt, bei der die Gelle Fra beschmutzt wird, der Weihnachtsmarkt gestürmt wird und Dinge zerstört werden, dann heißt das, dass er deren Aktionen zumindest indirekt unterstützt.

Revue: Was sagen Sie dazu, wenn die Polizei nicht eingreift, wenn zum Beispiel die Maskenpflicht nicht eingehalten wird?

Xavier Bettel: Die Polizei hat erklärt, dass sie eine Strategie der Deeskalation verfolgt. Wenn dann jeder Verstoß gegen die Maskenpflicht geahndet wird, so birgt dies Konfliktpotenzial. Sie machen die Leute auf die Maskenpflicht aufmerksam. Es gibt aber einen Unterschied zwischen einer Demonstration, bei der die Maskenpflicht nicht eingehalten wird, und einer Demonstration, bei der etwas zerstört wird.

Revue: Zu beobachten ist in vielen Ländern eine Polarisierung der Gesellschaft und der Politik. Populisten haben seit Jahren Zulauf. Eine Gefahr für die Demokratie?

Xavier Bettel: Für mich ist die Demokratie nicht in Gefahr, solange wir sagen, dass sie für uns wichtig ist. Das gilt auch für viele, die demonstrieren gehen. Man sollte sie nicht mit jener kleinen randalierenden Minderheit in einen Topf werfen. Nicht jeder, der demonstriert, ist ein Randalierer. Das ist das Eine. Das Andere ist, dass tatsächlich eine Radikalisierung stattfindet. Nicht im Sinne einer religiösen oder politischen Radikalisierung, von der international oft die Rede ist. Es gibt aber eine bestimmte Autoradikalisierung, bei der die sozialen Medien eine große Rolle spielen. Wenn zum Beispiel den Inhalten auf Facebook mehr Glauben geschenkt wird, als den Aussagen eines Arztes, Wissenschaftlers oder Journalisten. Deshalb bin ich auch für eine Orientierungsdebatte zum Thema im Parlament. Die Leute müssen mit der Realität konfrontiert werden. Und die Zweifler — ich weiß, dass das nicht möglich ist — sollten mal einen Blick in eine Intensivstation werfen. Die meisten, die dort an Covid sterben, sind nicht geimpft.

Revue: Ein anderes Thema: Die Luxemburger Wirtschaft wächst und wächst, auch in der Pandemie. Nächstes Jahr wird die CO2-Steuer erhöht. Aber wie soll das Land seine Klimaziele erreichen?

Xavier Bettel: Wir haben zum ersten Mal in der Geschichte unseren nationalen Energiebedarf der Haushalte durch erneuerbare Energien gedeckt. Wenn wir unsere Ziele erreichen wollen, müssen wir weniger produzieren und anders produzieren. In der Industrie und beim Bauen sehen wir, dass das, was gestern noch richtig war, heute vielleicht nicht mehr zeitgemäß ist. Klimaschutz bekommen wir nicht zum Nulltarif.

Luxguard produziert jetzt zum Beispiel etwas ganz anderes, als sie vorher produziert haben. Es gilt, die Emissionen zu verringern. Das geht zum Beispiel im Verkehr durch Fahrräder und Elektroautos. Das ist eine ganz andere Qualität und eine neue Realität. Ich tue mich schwer damit, den Menschen Lektionen zu erteilen, wenn wir als Staat selbst unsere Hausaufgaben diesbezüglich noch zu machen haben. Zum Beispiel sind viele Dächer von staatlichen Gebäuden nicht so, wie sie sein sollten, und auch in Sachen Fotovoltaik muss hier noch einiges passieren. Ich gehöre nicht zu jenen, die der Auffassung sind, dass man den Menschen alles verbieten soll. Wir sollten sie motivieren und ermuntern mitzumachen. Deshalb werde ich auch im Januar den "Biergerrot" präsentieren, der den Dialog fördern und uns aufzeigen soll, was die Bürger in Sachen Klimaschutz erwarten. Mich beschleicht nämlich hin und wieder das Gefühl, dass die Politik in dieser Thematik zögerlicher ist als die Bürger selbst.

Revue: Die Inflationsrate ist — auch aufgrund der hohen Energiepreise — momentan sehr hoch. Drückt dies auf die soziale Kohäsion?

Xavier Bettel: Wir haben in Luxemburg noch immer das Glück, dass wir den Index haben, welcher als automatischer Mechanismus die Kaufkraft der Menschen hierzulande unterstützt und für einen gewissen sozialen Frieden sorgt. Das ist noch längst nicht in allen Ländern der Fall. Außerdem haben wir die Teuerungszulage angepasst und das Kindergeld rückwirkend indexiert. Der Regierung ging es darum zu schauen, wie man den Menschen, bei denen jeder Euro zählt, entgegenkommen kann. Gratis Essen in den Schulkantinen ist für viele Menschen eine immense Ersparnis.

Revue: Die sozialen Ungleichheiten wollen Sie also abfedern?

Xavier Bettel: Zumindest belegen Studien, dass die Schere zwischen Arm und Reich durch die Krise nicht noch weiter auseinanderging. Das war ein Risiko. Um die Inflation effektiv zu bekämpfen, bedürfte es sowieso europäischer Lösungen.

Revue: Die Wohnungspreise sind ein weiteres Element, das stark auf die Budgets der einzelnen Haushalte drückt. Sind diese mittelfristig überhaupt zu stabilisieren?

Xavier Bettel: Ganz ehrlich gesagt: Die Preise von heute auf morgen zu reduzieren, halte ich für ein Ding der Unmöglichkeit. Ein erstes Ziel muss es sein, die Preisentwicklung auszubremsen und die starken Anstiege, die wir in den letzten Jahren gekannt haben, zu vermeiden.

Dies geht nur in Zusammenarbeit mit den öffentlichen und privaten Bauträgern. Zurzeit werden viele größere Projekte umgesetzt. In Zukunft will der Staat auch verstärkt Wohnungen zur Miete anbieten, weil wir wissen, dass nicht jeder eine Wohnung kaufen kann. Dass wir in Zukunft Menschen, die mit Wohnungen oder Bauland spekulieren, zur Kasse bitten, ist nur ein weiteres Element. Hier kommt es allerdings zu einem Paradigmenwechsel: Die Regierung spricht nicht mehr nur darüber, wie in den vergangenen Jahrzehnten, sondern wir handeln. Aber die Wohnungsproblematik ist und bleibt eine der größten politischen Herausforderungen.

Revue: Wie gehen Sie eigentlich mit den im Raum stehenden Plagiatsvorwürfen um?

Xavier Bettel: Ich konnte die letzten 22 Jahre ruhig schlafen und hatte ein ruhiges Gewissen. Ich habe niemanden getäuscht.

Der Universitätsprofessor, der mich betreute, hat ja auch schon erklärt, dass er sich der kopierten Elementen der Arbeit bewusst war und meine Arbeit entsprechend schlecht bewertete. Aber die Arbeit bestand aus einem schriftlichen und einem mündlichen Teil — und im mündlichen Teil habe ich damals die Defizite des schriftlichen wettgemacht. Aber es war sicherlich keine Glanzarbeit. Es tut mir leid, dass dies zur Politikverdrossenheit beitragen kann. Aber die Bürger sollen meine Arbeit als Premierminister in den letzten acht Jahren bewerten und nicht das, was ich vor 22 Jahren als Student gemacht habe.

Revue: Die DP schneidet vielleicht auch deshalb bei der "Sonndesfro" schlecht ab. Aber muss die Partei insgesamt den Kurs ändern?

Xavier Bettel: Es wäre sicherlich falsch, aufgrund von Umfragewerten einen Zickzack-Kurs zu fahren und die eigene Politik vollständig umzukrempeln. So würde die Partei ihre Glaubwürdigkeit verspielen.

Man darf nicht vergessen, dass wir uns aktuell in einer Krise befinden und es schier unmöglich ist, eine hundertprozentige Zustimmung zu erhalten.

Es scheint, als würden in der Krise die traditionellen Parteien an Vertrauen verlieren oder stagnieren und kleinere hinzugewinnen. Das wird aber nichts an meiner politischen Linie ändern, die bleibt dieselbe. Im Oktober 2023 können die Wähler dann die Regierungsarbeit bewerten und entscheiden, ob sie den Bettel noch als Premierminister und die DP noch in der Regierung sehen wollen. Ich werde das Verdikt akzeptieren.

Revue: In Sachen Außenpolitik scheint es auf EU-Ebene immer schwieriger, gemeinsame Entscheidungen zu treffen, Stichwort Migrationspolitik. Wie sehen Sie das?

Xavier Bettel: In der EU wird seit einiger Zeit immer nach dem Prinzip des "kleinsten gemeinsamen Nenners" gehandelt, damit kommt man allerdings nicht sehr weit. Das gilt leider nicht nur in der Migrationsfrage.

Revue: Vor allem einige Länder, wie Polen und Ungarn, stellen sich in vielen Fragen quer. Wie kann man hier wieder vorankommen?

Xavier Bettel: Erstens muss ich sagen, dass es ziemlich müßig ist, bei jedem zweiten Treffen immer wieder darauf hinweisen zu müssen, welche Regeln innerhalb der EU gelten und welche Werte zählen. Die EU ist nämlich vor allem sowohl ein Friedens- wie auch ein Werteprojekt. Wenn dann einige Länder versuchen, alle anderen Mitgliedstaaten zu erpressen, indem sie sagen: "Wenn sie uns bei den Menschenrechtsfragen auf die Füße treten, dann blockieren wir in Sachen Klima", dann sagt das mir, dass wir ein Problem haben.

Revue: Sie kriegen mit Olaf Scholz jetzt einen neuen Kollegen...

Xavier Bettel: Ja, ich kenne ihn bereits aus der Zeit, als er Bürgermeister von Hamburg war, und freue mich, ihn jetzt besser kennenzulernen. Aber ich möchte auch nochmals die außerordentlich gute Arbeit von Angela Merkel loben, mit der ich immer gut klargekommen bin und die es auf europäischer Ebene immer wieder geschafft hat, dass ein Konsens zustande kam.

Revue: Letzte Frage: Interviewen wir Sie in zwölf Monaten noch immer mit Maske?

Xavier Bettel: Ich kann nichts garantieren, wie ich schon zu Beginn des Interviews erklärt habe. Es gibt einfach zu viele unbekannte Faktoren. Schauen Sie sich nur die unterschiedlichen Aussagen zur neuen Omikron-Variante an. Ich bin weder Arzt noch Virologe, sehe aber, dass zurzeit die Impfung das einzige Mittel ist, das wirkt.

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