Jean-Claude Juncker: EU betreibt eine pubertäre Aussenpolitik

Sie sind enttäuscht und verärgert über den Entwurf der ersten EU-Verfassung. Werden Sie das vorliegende Papier am EU-Gipfel in Saloniki zurückweisen?

Es sind zwei Punkte, die mir teilweise oder gar nicht passen: das institutionelle Gefüge, das die EU nach dem Konvent demnächst haben soll, und die Tatsache, dass wir in der gemeinsamen Aussen-und Sicherheitspolitik weiterhin einstimmig entscheiden werden. Ansonsten habe ich klar gemacht, dass der Konvent erhebliche Fortschritte erzielt hat. Dass wir überhaupt eine europäische Verfassung kriegen, ist ein Vorgang, der vor zwei Jahren noch unvorstellbar war.

Ist das viel beklagte Demokratiedefizit in der EU durch die neue Verfassung behoben oder verkleinert worden?

Es kommt zu einer wesentlichen Ausweitung der Mitentscheidungsverfahren im europäischen Parlament; auch werden die nationalen Parlamente in Zukunft ein stärkeres Mitspracherecht haben. Was die Aufhebung der festgestellten Demokratiedefizite betrifft, hat der Konvent wirklich Schritte in die richtige Richtung unternommen. Das ist übrigens ein weiterer Beweis dafür, dass ich nicht alle Resultate der Konventsarbeit als negativ beurteile.

Aber wenn die neue Verfassung die Institutionenfrage nicht klärt und die EU aussenpolitisch nicht handlungsfähig macht, dann hat der Konvent doch versagt.

Wenn man die Verfassungsgebung an sich als Nebensache betrachtet, wenn man die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen in mehreren Bereichen als eine Nebensächlichkeit betrachtet, kann man das so sehen. Für mich sind das keine Petitessen. Ich habe an vier Regierungskonferenzen teilgenommen, und ich war noch nie mit dem Ergebnis zufrieden. Aber wenn in Europa jeder, der mit einem Punkt nicht einverstanden ist, sofort in eine integrale Verweigerungshaltung verfällt, dann wird es nie zu einem Abschluss europäischer Dinge kommen. Jetzt muss man in der Regierungskonferenz versuchen, die Dinge zu verbessern.

Glauben Sie wirklich, dass das möglich ist?

Man wird zumindest klärende Gespräche führen müssen. Nehmen wir zum Beispiel den zu ernennenden Präsidenten des Europäischen Rates. Zwar sind ihm im Vergleich mit den ursprünglichen Plänen von Giscard, Chirac, Aznar und Blair die Flügel bereits derart gestutzt worden, dass er den Kommissionspräsidenten nicht mehr überflügeln wird. Aber wir müssen das jetzt so in der Verfassung einbetonieren, dass er auch in Zukunft nicht durch einen schleichenden Ausbau seiner Machtbefugnisse doch noch zu einem Rivalen des Kommissionspräsidenten wird.

Sie waren von Anfang an gegen diesen neuen EU-Ratspräsidenten, der den Einfluss der Nationalstaaten stärken wird.

Nein, ich halte es für stimmig, über eine andere Organisation des EU-Vorsitzes nachzudenken bei einer EU mit demnächst fast 30 Mitgliedländern. Aber ich hatte mehr Klarheit über die Art und Weise der Beschaffenheit dieses Vorsitzenden erwartet.

Sie haben gesagt, dass die Gefahr für Europa, «sich in eine gehobene Freihandelszone zurückzuentwickeln», mit diesem Verfassungsentwurf noch nicht gebannt ist. Wieso ist es nicht gelungen, in der neuen Verfassung die Schlüsselfrage nach der Endbestimmung der EU zu beantworten?

Die Verfassung macht einige finalitätsbeschreibende Schritte. Aber solange es so Ist, dass wir in Fragen der gemeinsamen Aussen-und Sicherheitspolitik auf Dauer dazu verdammt sind, mit Einstimmigkeit entscheiden zu müssen, wird es der EU nicht gelingen, zu einer wirklichen Grosse in der Weltpolitik aufzusteigen. Der Wunsch, dass das europäische Gewicht in der Gestaltung der Weltangelegenheiten stärker zur Geltung kommt, wird von vielen Menschen in Europa und in der Welt geteilt. Wenn wir uns jetzt eine Verfassung geben, die nach Giscards Aussage für 50 Jahre gelten soll, ohne in der Aussen-, Verteidigungs-und Sicherheitspolitik Mehrheitsentscheide zuzulassen, stecken wir uns selbst in eine Zwangsjacke, die uns zu einer immobilen Grosse in der Weltpolitik machen wird.

Welchen Sinn macht es, das Amt eines EU-Aussenministers zu schaffen, wenn man gleichzeitig bei der Einstimmigkeit bleibt?

Ich hätte es mir anders gewünscht. Es wäre schlüssig gewesen, man hätte dem neuen EU-Aussenminister die Möglichkeit zu einer strafferen europäischen Aussenpolitik durch das Instrument der Mehrheitsentscheide gegeben. Wenn er immer wieder an der Mauer der Einstimmigkeit aufprallt, wird er nicht konturenstark politisieren können.

Jetzt wird er zwangsläufig gegen die Mauer prallen. Wieso schafft man das Amt trotzdem?

Es macht Sinn, die Funktion des Aussenkommissars (derzeit Chris Patten) und des aussenpolitischen Repräsentanten (Javier Solana) in einer Person zusammenzufassen. Es wird aber darauf ankommen, wie der künftige EU-Aussenminister sein Amt begreift. Wenn er präventiv wirkt, wenn er angesichts eines nahenden Konflikts bereit ist, in die Befindlichkeiten der Mitgliedstaaten hineinzuhören, und dann langsam eine Schnittmenge an gemeinsamen Standpunkten definiert, indem er den nationalen Positionen frühzeitig die Spitze bncht, kann so etwas wie eine gemeinsame Aussenpolitik entstehen. Wenn er das intelligent und mit Fantasie tut, kann sich daraus mit der Zeit sogar eine Atmosphäre ergeben. In der am Ende auch mit Mehrheit abgestimmt werden kann.

Wer soll das schaffen, nachdem selbst Solana an dieser Aufgabe gescheitert ist?

Solana hat eine sehr anständige Arbeit geleistet. Man hat aber festgestellt, dass es so etwas wie gemeinsame europäische Aussenpolitik In der Irak-Politik nicht gab. Solana hat nicht über die Machtinstrumente verfügt, um zu verhindern, dass im entscheidenden Moment der Irak-Krise das Bild entstand, es herrsche in der EU ein völliges Durcheinander. Man muss sich allerdings fragen, ob die neue Verfassung daran etwas geändert hätte.

Und?

Nein, wohl kaum. Also wird man daran arbeiten müssen.

Wie erklären Sie sich die Spaltung zwischen dem «alten» und dem «neuen» Europa in der Irak-Frage?

Es gibt kein «altes» und kein «neues» Europa. Das ist eine amerikanische Erfindung, die aus oberflächlicher Betrachtung der realen Verhältnisse entstanden ist.

Und wie erklären Sie sich die Spaltung?

Damit, dass wir eigentlich eine pubertäre Aussenpolitik betreiben. Wir wissen sehr genau, dass sich dunkle Wolken zusammenbrauen, nehmen diese Veränderung der Himmelsfarbe aber überhaupt nicht zur Kenntnis. Wir haben nicht den Horizont im Blick sondern nur das aktuelle Tageswetter, beschäftigen uns deshalb nicht mit dem nahenden Unheil, und wenn es schon da ist, entdecken wir, dass die einen die Regenschirme aufklappen, während die anderen die Sonnenschirme ausfahren, also jeder total konträr zum anderen handelt. Das nenn ich pubertär. Die EU schwankt zwischen pubertärem und postpubertärem Verhalten und ist nicht fähig, eine erwachsene Aussenpolitik zu betreiben.

Es ist also ein Altersproblem. Man muss nur noch ein paar Jahre warten und die EU wird endlich erwachsen?

Die EU befindet sich seit ihrem Beginn in einer Entwicklungskrise, und ein Ende ist nicht absehbar.

Mit 50 Jahren immer noch in der Pubertät?

Ein Kontinent, der seit 50 Jahren versucht sich zu vereinigen, ist ziemlich genau das Gegenteil eines «alten» Europa: Wir bleiben ewig jung und suchen weiter.

Wie konnten sich die USA und Europa so weit auseinander leben?

Wir haben am 11. September, mittags um vier Uhr, in breitester Ökumene festgestellt, dass sich die Welt jetzt verändert hat. Aber ich habe den Eindruck, dass das für einige nur eine rhetorische Floskel war. Tatsächlich hat sich aber etwas verändert. Amerika fühlt sich bedroht und reagiert als eine sich zum ersten Mal in ihrer Geschichte bedroht fühlende Nation. Wir schätzen dieses Bedrohungspotenzial anders ein. Aber wir verständigen uns nicht über die Konsequenzen, die sich aus dieser unterschiedlichen Einschätzung ergeben.

Wäre diese Krise zu verhindern gewesen?

Ich glaube schon, wenn Europa mit einer einheitlichen Stimme in der Aussenpolitik aufgetreten wäre. Europa hätte ein stärkeres Gewicht ausüben können. Aber solange es «spezielle» Beziehungen zwischen den USA und Grossbritannien, Spanien, Polen usw. gibt, ist das doch aussichtslos. Demokratie heisst ja nicht Uniformität. Das muss ich ja gerade Schweizern nicht aufs Papier malen. Trotz unterschiedlicher Befindlichkeiten und Einschätzungen muss man zu gemeinsamer Beschlussfassung fähig sein. Was aber voraussetzt, dass man europäische Politik nicht mit der Durchsetzung nationaler Standpunkte verwechselt. Dieses nationale Durchmarschieren, die einige als die normale Fortbewegungsart in Europa empfinden, wird immer zum Scheitern der EU führen. Niemand hat in der Irak-Frage gepunktet.Insgesamt aber hat Europa verloren.

Die EU soll also zu einer Militärmacht werden. Wieso eigentlich?

Ich bin überhaupt nicht der Auffassung, dass Europa zu einem militärischen Muskelprotz werden soll. Wir sollten nicht glauben, dass wir die Europäer für Europa begeistern können, wenn wir aus unserem Kontinent einen hochgerüsteten Erdteil machen. Moderne Aussen-und Sicherheitspolitik setzt sich zusammen aus militärischen und politisch-zivilen Teilen. Wir Europäer werden immer auch nicht militärische Konfliktlösungsmodelle ins Spiel bringen müssen, bevor wir losschlagen.

Also wird für grössere Militäraktionen auch in Zukunft die Hilfe der USA nötig sein?

Nein, man muss sich die militärische Potenz durchaus geben. Aber diese darf nicht zum Selbstzweck werden. Es darf in der internationalen Politik nicht so sein, dassder, der die militärische Potenz hat, auf zivile Mittel verzichtet – nur weil er ja auch anders kann. Wir wollen anders können, aber nicht müssen.

Und die USA können nicht anders?

In der Bibel steht ein kluger Satz. Der heisst: «Wer bist du, dass du andere richtest?» Es wäre gut, wenn auch die Amerikaner wieder etwas bibelfester würden.Geplant war ja, mit dem Konvent die EU parallel zur Erweiterung zu vertiefen. Das hat offenbar nicht funktioniert, wie Ihre Kritik an der Verfassung zeigt... ... Ich kritisiere nur Teile davon.

Aber Sie haben mit dem so genannten Pralinengipfel mit Deutschland, Frankreich und Belgien neue Schritte in Richtung eines Kerneuropa gemacht. Das ist doch ein Zeichen dafür, dass die gleichzeitige Vertiefung und Verbreiterung der EU gescheitert sind?

Man muss lernen, dass es in Europa sehr unterschiedliche Befindlichkeiten gibt. Auch wenn ich es prinzipiell nicht akzeptiere, muss Ich verstehen, dass sich Länder wie Polen oder Ungarn sicherheitsmassig zu Amerika hingezogen fühlen, weil in den Köpfen und den Herzen der Menschen im Kalten Krieg der Gegenentwurf zur Sowjetunion nicht das europäische, sondern das amerikanische Modell war. Wir müssen jetzt im Angewöhnungsprozess, der jetzt in der EU einsetzen wird, deutlich machen, dass sich die europäischen Ambitionen eben nicht auf das Wirtschaftliche beschränken, sondern viel breiter ausgreifen. Diesen Prozess haben wir bei jeder Erweiterung erlebt. Die Iren, die Briten, die Dänen und die Schweden sind auch mit ihren nationalen Vorstellungen der EU beigetreten und haben sich erst langsam der zentraleuropäischen Sicht der Dinge angenähert. Weil wir heute nicht wissen, in welche Richtung sich der Anpassungsprozess diesmal entwickeln wird, müssen wir die Option haben, die Integration im kleinen Rahmen weiterzuentwickeln; in der Hoffung, dass sich später auch andere anschliessen.

Dass am Pralinengipfel nur «alte» Europäer geladen waren, zeigt doch, dass es diesen Graben in Europa gibt?

Ich bin durchaus bereit, mir alle amerikanischen Kommentare zu Europa anzuhören. Ich lasse mir aber nicht die amerikanische Beschreibung der europäischen Wirklichkeit so vorgeben, wie wenn ich nicht mehr zu selbstständigem Denken fähig wäre. Diese Wortklauberei mit dem «alten» und «neuen» Europa heisst für mich nichts anderes, als dass man weder weiss, was das «neue» Europa ist, noch je wusste, was das «alte» Europa war.

Gefällt Ihnen das Konzept «Kerneuropa» oder «Europa der zwei Geschwindigkeiten» besser?

Nein, ich halte dies nicht für einen idealen Zustand. Aber ich hätte schon gerne, dass die Staaten, die von einem stärkeren Integrationswillen angetrieben sind und sich in die Zukunft bewegen möchten, dies auch tun können, wenn die anderen dazu noch nicht bereit sind. Das ist nicht ideal, aber es kann in gewissen Momenten praktisch notwendig werden.

Was halten Sie denn vom Aufruf von Jürgen Habennas, die EU solle ihre Identität in einer Art Gegenmodell zu den USA finden?

In einer multipolaren Welt, wie ich sie mir wünsche, wird es so sein, dass sich Europa und Amerika eben nicht in einem Kontrastprogramm zueinander entwickeln, sondern dass wir in der amerikanischen Sicht der Dinge die Punkte isolieren müssen, die stimmig sind für uns beide. Und dass die USA das Gleiche mit unserer Politik tun.

Die EU soll also kein Gegenmodell sein?

Ich glaube nicht, dass dies wünschenswert wäre. Es gibt zwar in unseren Gesellschaftsmodellen relevante Unterschiede. Doch das hat uns nie daran gehindert, grosse Vorhaben in der Welt gemeinsam voranzutreiben.

Schon jetzt wird die erweiterte EU vor allem von Deutschland finanziert...

... Das ist eine höchst oberflächliche Betrachtung von gewissen Deutschen, vergleichbar mit jener der USA auf Gesamteuropa. Luxemburg leistet mit Abstand den höchsten Pro-Kopf-Beitrag, was die Finanzierung der Erweiterung anbelangt. Das hat hier zu Lande niemanden ins künstliche oder effektive Koma befördert. Und so wird auch Deutschland nicht an der Finanzierung der EU-Osterweiterung zusammenbrechen. Die deutsche Wirtschaft hätte im Gegenteil noch grössere Probleme ohne die Öffnung.

Sie glauben nicht, dass diese Schieflage immer mehr ein Problem wird?

Es gibt keine Schieflage! Luxemburg ist der erste Nettozahler in der Europäischen Union. Wir können in absoluten Zahlen nicht das Gleiche anbieten wie Deutschland. Aber die deutsche Wirtschaft profitiert auch maximal von der Erweiterung. Die luxemburgische natürlich auch. Die Debatte über Nettozahler ist eine unmögliche in der EU. Wenn wir den Gedanken aufgeben, dass die, die mehr haben, auch mehr geben, wenn wir dieses Elementarprinzip des Zusammenlebens und der Solidarität in Europa aufgeben, verabschieden wir uns vom Grundwesen der Union.

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