Discours de Jean-Claude Juncker, Premier ministre, Chambre des métiers de Düsseldorf

Vorgetragene Rede von Jean-Claude Juncker,
Premierminister des Großherzogtums Luxemburg, anlässlich der 51. Meisterfeier der Handwerkskammer Düsseldorf am 26. März 2000

Sehr geehrter Herr Präsident Hauser,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich bin heute morgen „live“ zu haben und das hat damit zu tun, dass das Handwerk eigentlich nicht so weitsichtig ist, wie man immer denkt. Als die Handwerkskammer vor 100 Jahren hier gegründet wurde, hätte man daran denken müssen, dass kurz danach Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen stattfinden und es sich also passt, dass man sich im nahen Ausland nach Festrednern umsieht und nicht vor Ort.

Für die Weitsicht des nordrhein-westfälischen Handwerks aber spricht, dass ich letztes Jahr – vor einem Jahr – den Europäischen Handwerkerpreis gekriegt habe, so dass man damals schon wusste: Wenn wir den nächstes Jahr fragen nach Düsseldorf zu kommen, dann kann der nicht absagen.

Und deshalb bin ich auch gerne gekommen auf dem Weg von Lissabon zu Frau Christiansen heute abend und, obwohl ich in Düsseldorf gelandet bin, bin ich mit einer Privatmaschine in Düsseldorf gelandet. Es gibt in Luxemburg mehr Banken als in Düsseldorf, aber für mich sorgt ein spendenfreudiger Steuerzahler heute morgen.

Europa und Jugend heißt mein Thema. Ich sage meinem Freund Jürgen Rüttgers: Man muss mit den Kindern anfangen, dann wird es was, es dauert manchmal lang. Ich habe im Flugzeug von meinen Mitarbeitern erfahren, dass mir für diese Festrede exakt 25 Minuten zur Verfügung stehen. Das brauche ich normalerweise, um mich auf das Thema zuzubewegen. Dann brauche ich noch einmal 25 Minuten um mich von dem Thema wieder wegzubewegen und dazwischen sage ich meistens auch noch ein paar Worte zum Thema. Ich muss mich heute also auf das Thema konzentrieren, weil der Weg dorthin und den Weg von dort zum Schluss meiner Rede hat Herr Hauser mir gründlich vermasselt durch die Kürze der Zeit, die er mir hier zur Verfügung stellt, das ist aber in Ihrer aller Interesse.

Europa und Jugend ist mein Thema und beides passt zusammen. Wer über Europa redet, wer die Jugend im Kopf hat, wer die Jugend im Herzen trägt, wer an Zukunft interessiert ist, der muss beides zusammen sehen. Es gibt europäische Erfolge, es gibt europäische Misserfolge, Stärken und Schwächen halten sich in etwa die Waage und dort, wo wir Erfolge haben, können wir uns dieser Erfolge eigentlich nicht erfreuen, obwohl es vor allem Erfolge sind, die zukunftsorientiert und zukunftsträchtig sind.

Der Euro ist ein derartiger Erfolg. Er schwächelt zur Zeit etwas in seinem Miteinander und Nebeneinander mit dem US-Dollar, aber der Vorteil des Euros, auch den Vorteil den selbständig handelnde Jungmeisterinnen und Jungmeister, die ich sehr herzlich begrüßen möchte, in Zukunft erfahren werden, ist, dass man ohne Risiko den Weg über die Grenze antreten kann. Das, was in früheren Jahrzehnten nur multinationalen Konzernen erlaubt war, die Risikofürsorge und -vorsorge auch treffen konnten, wird morgen in diesem neu zusammenwachsenden Europa kein Ding der Unmöglichkeit mehr für mittelständisch Handelnde sein und darüber sollte man sich freuen. Es wird ja auch über den Euro kaum noch Schlechtes berichtet. Mit Ausnahme der Nachrichten im deutschen Fernsehen, wo der Euro sich regelmäßig von einem Pfeil, der nach unten zeigt, begleiten lassen muss und den Menschen dadurch suggeriert wird, mit dem Euro wäre es nicht so toll wie die Politiker sagen würden. Aber es gibt kaum noch Politiker, die gegen den Euro als solchen zu Felde ziehen. Das war vor drei, vier Jahren etwas anders. Ich bin jetzt 17 Jahre Mitglied der Regierung in Luxemburg, man kann das also schaffen länger als 16 Jahre in der Regierung zu bleiben. Und in den letzten zehn Jahren beschäftigten wir uns mit dem Euro - als Finanzminister, Premierminister hatte ich sehr viel damit zu tun. Und ich bin etwas erstaunt, wenn ich mir heute die lange Schar derer ansehe, die immer schon für den Euro waren. Wenn die katholische Kirche so viele Spätberufene hätte wie der Euro, gäbe es keinen Priester mehr.

Aber es reicht nicht, den Euro auf den Weg zu schicken. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass das Wachstum, das zum Teil auch eurobedingt ist, ein dauerhaftes, inflationsfreies, beschäftigungsintensives Wachstum bleibt, d. h. in Europa ist nicht die Zeit angesagt, wo man sich genüsslich im Sessel zurücklehnen darf. Jetzt kommt die Zeit der eigentlichen Reformer. Der Euro war die Voraussetzung um europäische Ökonomien näher aneinander zu bringen, sie eigentlich aneinander zu schmieden. Jetzt kommt die Zeit der Umsetzung und jetzt ist ein gewaltiger Reformschub in Europa angesagt. Es reicht ja nicht sich in öffentlichen Reden darüber zu beklagen, dass es uns um ein Vielfaches schlechter geht als dies in den Vereinigten Staaten von Amerika der Fall ist. Wir müssen uns auf die selbe Leistungshöhe aufschwingen, wie die Amerikaner dies getan haben. Dabei gehöre ich überhaupt nicht zu denen, die die amerikanische Volkswirtschaft, das amerikanische Sozialmodell - mal angenommen es gäbe ein solches - als vorbildhaft für Europa betrachten. Also ein Beispiel für uns kann das nicht sein. Ich möchte, dass die Menschen vor allem hier in der Mitte Europas - ich sage das mal so - gemütlicher zusammenleben können, dass auch für die großen Risiken des Lebens Vorkehr getroffen wird. Eine europäische Gesellschaft, wenn sie überleben will, muss eine solidarische Gesellschaft bleiben. Deshalb ist Amerika nicht immer ein Vorbild.

Aber dort, wo die Amerikaner stark sind, dort wo sie besser sind, leistungsfähiger sind als wir, sollten wir uns doch bitte an diesen transatlantischen Beispiel dort, wo es beispielhaft ist, inspirieren. Wenn ein junger Europäer eine gute Idee hat, wenn ein junger Europäer sich auf den Weg zum Patentieren befindet, dann tut er gut daran, seine Idee für sich zu behalten, sie mit ins Flugzeug zu nehmen, über den Atlantik mit der Idee zu fliegen und sie dort in Amerika zu verwirklichen. Dann hat er von Amerika aus auch in Europa Erfolg. Das müssen wir ändern. Wir brauchen überhaupt in Europa eine Initiative für mehr Selbständigkeit. Es ist ja schön und gut bei Meisterfeiern die Vorteile des Selbständigseins zu unterstreichen. Man muss aber diejenigen, die selbständig sind, die es geworden sind, auch selbständig sein lassen. Das heißt, die Regulierungswut müssen wir in den Griff kriegen.

Wir haben ein Problem, ein normatives Problem in Europa. Und in Deutschland nennt man das – ja das kann man im übrigen in keine andere Amtssprache der europäischen Union übersetzen - Ordnungspolitik. Ordnungspolitik lauert ja in Deutschland an jeder Straßenecke und trotzdem versteht außerhalb Deutschlands niemand was damit gemeint ist und in Deutschland finde ich auch, dass der Begriff sich langsam aus dem Raume des Konsenses entfernt.

Es gibt in Amerika nicht diese irrsinnig langen Genehmigungsverfahren wie in Nordrhein-Westfalen oder in Luxemburg. Wer hier etwas tun möchte, der braucht nicht nur eine gute Idee. Die Idee brennt an bis die Genehmigungsverfahren über die Bühne gebracht worden sind. Ich sage sehr oft hier in Deutschland, obwohl die Kritik auch auf Luxemburg und auf meine Regierung zutrifft, aber da muss ich das ja auch nicht vorformulieren, das tun andere: Wenn die Berliner Trümmerfrauen so lange auf eine Genehmigung hätten warten müssen wie dies heute der Fall ist, dann läge Berlin heute noch in Schutt und Asche.

Wenn Menschen etwas unternehmen wollen, wenn auch junge Menschen sich auf den Weg machen, um für sich selbst etwas Wertvolles zu schaffen und um anderen eine Arbeit zu bieten, dann sollte der Staat seine öffentliche Regulierungshände bitte in der Tasche lassen und Selbständigkeit stattfinden lassen. Und der Staat kann unwahrscheinlich viel tun, um auch die Menschen zu mehr Selbständigkeit heranreifen zu lassen. Ich erfahre eben, aber ich habe es schon gewusst, was eigentlich eine Meisterausbildung in Deutschland den Jungmeister gekostet hat, bevor er selbständig werden darf.

Also es ist mir eine außergewöhnliche Freude Ihnen mitzuteilen, obwohl nur zwei oder drei Luxemburger hier im Saale sind, dass der DGB-Vorsitzende mir eben gesagt hat, er hätte mehr Mitglieder im Landesverband des Deutschen Gewerkschaftsbundes als ich Landeseinwohner hätte. Dafür ist Luxemburg auch um ein Vielfaches erfolgreicher. Bei uns ziehen alle in eine Richtung. Wir sind eine nationale Gewerkschaft, insofern haben wir sehr gute Ergebnisse. Aber die Ausbildung zum Meisterbrief ist in Luxemburg kostenlos. Das heißt, der Jungmeister hat ein Startkapital bevor es überhaupt erst los geht. Und Meisterfirmen gibt es auch noch, die sind im übrigen für die öffentliche Hand ein bisschen weniger teuer, weil die öffentliche Hand die Ausbildung finanziert. Es ist eigentlich doch so, dass es nicht unbedingt weise und klug ist, dass man diejenigen, die man auf Selbständigkeit trimmen möchte, schon finanziell vorbelastet bevor die Selbständigkeit überhaupt aus den Startlöchern gehen kann.

Die Staats- und Regierungschefs haben am letzten Donnerstag und Freitag in Lissabon ein Reformprogramm für die nächsten zehn Jahre in Europa verabschiedet. Es war schwierig die europäische Wirtschafts- und Währungsunion an den Zielort zu bringen, das war ein verdammt schwieriges Unterfangen. Aber es war nicht schwieriger als das neue Ziel, das wir uns jetzt in Europa vorgenommen haben, nämlich noch vor Ende dieses Jahrzehntes die Vollbeschäftigung in Europa wiederherzustellen. Das, was heute wie ein Traum, wie ein leeres Versprechen, eine nichtige Aussage klingt, ist erreichbar, wenn wir die richtige Politik machen und die Ziele mit den richtigen Wegen und Mitteln zu unterlegen verstehen. Dazu gehört Offensive für mehr Selbständigkeit, dazu gehört auch, dass die Regierungen der Europäischen Union Ernst machen mit dem Satz, dass die Steuer- und die Abgabenlast reduziert werden muss. Wir dürfen diesen Weg in den absoluten Steuern- und Abgabenstaat nicht weitersetzen. Wir müssen auf die steuerlichen und sozialen Belastungsniveaus der Hauptkonkurrenten der Europäischen Union absenken, wenn wir auch in Zukunft konkurrenzfähig und deshalb auch beschäftigungsfördernd in Europa wirken wollen. Und hier müssen die europäischen Staaten an einem edlen Wettbewerb untereinander antreten. Es darf nicht mehr so sein, dass nur der tüchtig ist, der den Menschen viel Geld aus der Tasche nimmt. Tüchtig muss die Regierung sein, die maximale Leistung mit minimaler steuerlicher und sozialer Belastung zu kombinieren weiß und das ist möglich.

Ich bin von Hause aus - das wird Ihnen Freude machen - ein gestandener Sozialpolitiker und überhaupt nicht der Auffassung, dass diejenigen, die immer nach mehr Steuerabsenkungen fragen, per se schon recht haben mit dieser Forderung. Ich bin der Auffassung, dass wir das europäische Sozialmodell halten müssen, es umbauen müssen damit es haltbar wird. Aber das europäische Sozialmodell muss finanzierbar bleiben und es bleibt nur finanzierbar, wenn die Steuern ein Niveau erreichen, wo die Steuer nicht mehr die Steuer tötet sondern wo die niedrige Steuer maximale Wirtschaftseffizienz fördert. Das ist kein Widerspruch. Man kann mit niedriger Besteuerung maximale Resultate sowohl im Steuereinkommen als auch in der Allokation der öffentlich zustande gekommenen Mittel erreichen. Und deshalb ist die Rede nicht, dass überall dereguliert, überall privatisiert werden soll. Das soll man doch tun, wo diese Privatisierung und Liberalisierung, diese Deregulierung sich anbietet.

Ich bin aber auch der Meinung, dass wir in Europa so etwas wie einen Mindestsockel an Arbeitnehmerrechten haben sollten. Dies ist im übrigen auch nicht widerläufig zu den Grundanliegen des Handwerks in dieser Region Europas. Es ist in unserem Interesse, es ist im Interesse der arbeitenden Menschen, es ist im Interesse der arbeitgebenden Menschen, wenn es Mindestbedingungen in Europa, in diesem europäischen Binnenmarkt, in dieser europäischen Währungsunion gibt, an die jeder sich zu halten hat. Fiskaldumping und Sozialdumping haben mit einem europäischen Binnenmarkt und mit einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion nichts zu tun. Gemütliches Zusammenleben, solidarisches Europa erhalten, ein Europa, wo jeder seinen Platz hat, das ist die Aufgabe, die uns für die Zukunft gestellt ist. Und dieses Europa muss auch die Angst vor der Arbeit ablegen. Mich stört an vielen Dingen - auch in der Bundesrepublik Deutschland - dass man mehr über die Umverteilung von Arbeit redet als über die Mehrung von Arbeit. Ich bin ja nicht dagegen, dass Tarifpartner in freier Entscheidung Arbeitsverkürzung dort durchführen, wo sie finanzierbar ist, wo sie sozial gestaltbar ist, d. h., dass Menschen in Arbeit kommen, die heute ohne Arbeit sind. Arbeitszeitverkürzung ohne Abbau der Arbeitslosigkeit ist ein Unding, ist eine Beleidigung sowohl für die Menschen die arbeiten als auch für die Menschen die arbeitslos sind. Und deshalb sollte man vernünftige Arbeitszeitreduzierung machen.

Es ist nicht die Aufgabe von Regierungen über den Gesetzesweg Arbeitszeitverkürzung herbeizuführen. Es ist die Aufgabe von Regierungen durch die Schaffung korrekter Rahmenbedingungen dafür zu sorgen, dass alle Menschen in Arbeit kommen. Das sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Und aus Gründen der Einfachheit und aus Gründen der Vereinfachung zieht man sich manchmal die falschen Schuhe an den falschen Fuß an, weil man dann denkt besser laufen zu können. Wenn Sie aber die Laufstege der Politik genau beobachten, dann merken Sie sehr wohl, dass da einige am linken Fuß einen rechten Schuh haben und umgekehrt und das trägt der Eleganz der Bewegung nicht zu.

Wir müssen die Arbeit rehabilitieren. Es ist keine Unehre zu arbeiten. Und es gibt keine Arbeit in Europa, nicht hier in Düsseldorf und nicht in Luxemburg, die gemacht werden müsste. Es gibt keine Hierarchie der Arbeit. Müllmänner haben so viel zum Wirtschaftswachstum beizutragen, ich sage jetzt nicht wie „Möllemänner“ sondern wie alle anderen Männer. Jede Arbeit hat ihren eigenen Wert und das brauche ich hier ja nicht besonders auszuführen, weil Handwerker sind ja Menschen, die noch wissen was Arbeit ist. Die denken ja nicht, Arbeit wäre das, was bei der Freizeitgestaltung stören würde. Die wissen sehr gut, dass man Arbeit braucht, um Freizeitgestaltung vornehmen zu können. Und deshalb rede ich eigentlich auch immer gerne auf Handwerkerveranstaltungen, weil dort das Ethos der Arbeit - wenn ich dies so pathetisch ausdrücken darf - nicht zugrunde geredet wird. Man schämt sich nicht, wenn man arbeitet. Man soll stolz sein, wenn man arbeiten kann.

Europa und Jugend, das hat auch mit dem Europa zu tun, das wir in zehn, fünfzehn, zwanzig Jahren vorfinden werden. Und das Europa was in zwanzig Jahren sein wird, das ist das Europa an dem wir heute arbeiten, arbeiten müssen. Das Europa in zwanzig Jahren, die europäische Landschaft, die wir in zwanzig Jahren zur freien Gestaltung zur Verfügung haben werden, ist ein Europa, das sich vertiefend, stärker noch aufeinander zubewegt. Wir reden sehr viel über die Erweiterung der Europäischen Union. Wir müssen auch über die Vertiefung der Europäischen Union reden. Und das, was wir erreicht haben in jahrzehntehartem Einsatz - nicht nur Politiker sondern vor allem die Menschen selbst - das muss vor der Zukunft sicher gemacht werden und auf dem Weg befinden wir uns. Und es muss nach Ost- und Mitteleuropa hinein verbreitert, erweitert werden. Als die Berliner Mauer fiel, als diese jungen Demokratien in Ost- und Mitteleuropa entstanden, als Menschen sich auf den Weg zurück in ihre Heimat machten, nach Europa - sie waren nie weg, nur wir hatten vergessen, dass sie zu Europa gehörten - da waren wir alle hellauf begeistert. Mit Jubelstürmen wurde das Ende des Kommunismus in Europa begrüßt und hat viele dazu verleitet zu denken, das kapitalistische Wirtschafts- und Wertesystem wäre fehlerfrei. Es hat auch erhebliche Schwächen, autobiographische Mängel, die es zu beheben gilt. Und jetzt, wo diese Menschen aus Ost- und Mitteleuropa nach langer Mühe, fast am Ziel angekommen, an unseren Türen anklopfen, tun wir so als ob wir nie etwas mit ihnen zu tun gehabt hätten. Das ist kein Beispiel für die Welt, dass wir die europäischen Türen schließen für diejenigen, die unser gemeinsames europäisches Haus betreten möchten. Ich bin ein strikter Anhänger der Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa, weil dies ein Gebot der Stunde und ein Gebot des Friedens auf Dauer bleibt. Wir müssen deshalb die Türen öffnen, nicht die Türen schließen.

Aber ich bin gegen eine Erweiterung im Galopp. Ich bin gegen eine kontroverslose Erweiterung. Ich bin dagegen, dass man nicht mehr Fragen stellen darf zu Vorgängen, die die Erweiterung betreffen. Wir müssen die Menschen auch hier mit auf den Weg nehmen, wenn wir die Erweiterung zu einem Erfolg für die Europäische Union, für den europäischen Kontinent machen möchten. Und deshalb kann es keine Erweiterung zum Nulltarif geben, weder für diejenigen, die sich in Ost- und Mitteleuropa auf den Weg gemacht haben, noch für uns, die wir uns auch sehr profund ändern müssen, damit wir überhaupt aufnahmefähig sind zu dem Zeitpunkt wo diejenigen, die beitreten möchten, beitrittsfähig sind. Diese Art wie wir reden, dass wir den Menschen in Ost- und Mitteleuropa Vorgaben geben, die sie erfüllen müssen und so tun, als ob wir überhaupt nichts zu tun bräuchten damit dieses Europa zusammenwächst, ist ein ahistorischer Vorgang, der nur politischen Vereinfachungskünstlern einfällt. Auch in der Politik ist es so wie da steht: „Ohne Meister geht es nicht“. Und in der Politik fallen die Meister besonders gerne schnell vom Himmel. Das führt aber regelmäßig zu einer Bruchlandung wenn die Veranstaltung vorbei ist.

Zusammenwachsen wird Europa nur können, wenn es meisterhaft zusammenwächst. Das heißt, wenn wir uns für die Befindlichkeit für die Menschen in Ost- und Mitteleuropa interessieren und die Menschen in Ost- und Mitteleuropa die Befindlichkeit in diesem Teil Europas zur Kenntnis nehmen, damit wir beides zusammenbringen und aneinanderfügen können. Und deshalb gehöre ich eigentlich zu denen, die relativ optimistisch - wenn dann gehobene Staatskunst wieder zu etwas werden könnte, das auch im normalen Alltag wieder anzutreffen wäre - gehöre ich zu den Optimisten am Anfang dieses Jahrhunderts. Weil noch nie hat die Zukunft so wolkenlos ausgesehen wie dies zur Zeit der Fall ist. Ich rede hier nicht gerne so als ob es keine Probleme gäbe, ich tue nicht so, als ob alle Probleme schon gelöst wären. Mein Punkt ist: Noch nie waren die Voraussetzungen um die Zukunft der Menschen besser zu gestalten, besser als dies heute der Fall ist.

Als ich ein junger Mensch war … Eigentlich müsste jetzt gelächelt und gelacht werden, weil viele sich denken müssten, er ist es ja noch. Ich stelle fest, dass sich erstmals seit Jahrhundertbeginn diese Reaktion in einem Saal nicht mehr einstellt. Ich nehme das mit Bitternis zur Kenntnis. Ich gehe mal davon aus, dass Sie beim Zuhören denken: Der Mann hat Reife, er lernt. So möchte ich das positiv bewerten. Da kann ich Ihnen nur sagen: Auch gut gefüllte Säle sind nicht frei von Irrtum.

Noch nie waren die Voraussetzungen so gut. Früher, als ich ein Knabe war, hat man von der guten alten Zeit geredet und ich habe das wirklich geglaubt. Ich glaube aber nicht, dass die alte Zeit eine gute Zeit war. Sie war für niemanden gut. Sie war gut für diejenigen, die die Gnade der richtigen Geburt erlebt haben. Wer in den Villen der Stahlköche geboren wurde, wer auf Burgen und Schlössern auf die Welt kam, ja der hatte ein gutes Leben. Aber die große Zahl der Menschen, der arbeitenden Menschen, der Handwerker, hatte kein gutes Leben. Ich weiß überhaupt nicht was an dem Leben gut gewesen sein soll. Das Leben ist heute unwahrscheinlich besser. Das Problem ist nur, wir tun so als ob es noch immer so schlecht wäre wie es bei Jahrhundertanfang - ich rede vom 20. Jahrhundert - war. Wenn ich mir die Lebensleistung der Menschen, die nach dem Kriege Europa und ihre Heimat aufgebaut haben, vor Augen führe, wenn diejenigen, die aus den Konzentrationslagern, aus den Schlachtgräben, von den Kriegsfeldern zurückgekehrt sind und die jeden Grund gehabt hätten beide Hände tief in die Hose zu stecken und zu sagen „jetzt lasse ich mal die anderen machen, denn ich habe mein Bestes gegeben“, wenn die so kleinmütig gewesen wären, so hoffnungslos wie wir, wenn die gedacht hätten, sie hätten so schwer am Los zu tragen wie wir das heute tun, dann wäre aus uns nie etwas geworden, wenn die Menschen 1946/47 nicht angepackt hätten.

Und wir sollten uns eigentlich am Gründergeist, an der Begeisterung dieser Menschen inspirieren und davon anstecken lassen, uns vielleicht zu wenigstens 75 Prozent von deren Lebensleistung aufschwingen, damit wir die Dinge hier in Deutschland, in Luxemburg und in Europa wieder in den Griff kriegen und uns eigentlich an dem erfreuen, was wir haben. Ich bin strikt dagegen, dass man immer alles schönredet. Wenn alles in Ordnung wäre, dann bräuchte ich auch keine Politik zu machen. Politik macht man, wenn man denkt, es gibt noch einiges was es zu richten gilt. Aber wir sollten uns an dem erfreuen was wir haben. Und wir haben in Europa Frieden. Zum ersten Mal seit vielen Jahrhunderten haben wir Frieden. Am 10. Mai 2000 sind es sechzig Jahre her, dass die Wehrmacht in Luxemburg eingefallen ist und Luxemburg fünf Jahre lang besetzt hat, dass die Generation meiner Väter auf die Schlachtfelder und in die Konzentrationslager geschickt wurden. Dass sechzig Jahre danach ein luxemburgischer Premierminister in deutscher Sprache unter Freunden hier so reden darf, wie ich das heute getan habe, ist doch eine unwahrscheinliche Chance, die die Geschichte Europas uns in die Hände gelegt hat. Wir sollten sie nutzen.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

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