Jean-Claude Juncker, Transcription de la présentation du livre de l'ancien chancelier allemand Gerhard Schröder, Willy-Brandt-Haus, Berlin

Sehr verehrter Herr Bundespräsident,
lieber Gerd,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich befinde mich, und nicht zum ersten Mal im Leben, wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal, in einer unmöglichen Lage, in die ich mich selbst habe versetzen lassen. Ich bin ein christdemokratischer Premierminister aus einem, obwohl es sich selbst Großherzogtum nennt, als kleines Land bekannten Land, und ich bin zu Gast bei der SPD, die nicht Mitglied in der europäischen Volkspartei ist, obwohl fast jeder Mitglied der europäischen Volkspartei werden kann, und ich soll, wenn ich einer überregionalen deutschen Zeitung Glauben schenken würde, Gerd Schröder heute Morgen hier huldigen.

Es stand zu lesen: Juncker wurde bestellt, um dem Kanzler zu huldigen. Könnte ich das, würde ich es nicht tun. Aber über ihn und sein Buch zu reden, ist mir eine angenehme, vor allem auch persönliche Freude, und im Übrigen auch eine Ehre. Ich gehöre zu den wenigen, die das Buch gelesen haben. Ich habe es wirklich lesen müssen, bevor ich mich hier in Aufstellung brachte.

Nun ist es mit einer Buchpräsentation so wie mit einer Filmvorausschau. Der Rezensent, wünscht er dem Film, den es zu rezensieren gilt, Erfolg, sagt nicht viel über den Film. Weil dann nimmt er jede Spannung vorweg. Und derjenige, der ein Buch aus kluger aber freundschaftlicher Distanz heraus zu rezensieren hat, muss sich auch die Frage stellen: sage ich jetzt alles, was er da schreibt? Oder lasse ich dem Leser die Vorfreude, wohlwissend dass nicht jede Vorfreude sich beim Lesen in eitle Freude ergießen wird? Ich möchte ihnen einfach nur sagen, was mich an diesem Buch fasziniert hat, beeindruckt hat, begeistert hat.

Was mich am meisten berührt hat, ist das, was Gerd Schröder über seine Kindheit aufgeschrieben hat. Die, die ihn nicht sehr gut kennen, haben keine Ahnung von dem, was seine Kindheit war, von der er aber sagt, es wäre keine schwierige Kindheit gewesen. Aber beim Lesen wird klar, und auch manchmal beim Hineinhören in den Gerd Schröder, den man auch als Privatmensch sehr mag, war einem immer schon klar, es war keine unbeschwerte Kindheit.

Es gibt eine Beschreibung in dem Buch, die ich schön finde, weil sie so richtig ist. Nämlich in dieser kleinen Zweizimmerwohnung mit Küche, zusammen mit Mutter, die er "Löwe" nennt, und den Geschwistern und dem Stiefvater, der schwer krank war, lange Monate lang dieses nächtliche Husten des todkranken Stiefvaters zu hören, so dass es, so liest es sich, fast zum eigenen Husten wurde, was ihn nie mehr verlassen hat.

Dieses Aufwachsen im Lippischen nahe an einem Fußballfeld, zusammen mit Geschwistern in engen Räumen, wo nicht über Philosophie, nicht über Literatur, nicht über Kunst, auch nicht über Politik, über Weltpolitik schon überhaupt nicht, geredet wurde, und trotzdem aus dieser Enge heraus dem Geist breite Gassen zu bahnen, ist eigentlich schon eine Leistung an sich, und im Übrigen eine nicht nur Gerd Schröder kennzeichnende Leistung, sondern eine Lebensleistung, die viele seiner Generation kennzeichnet.

Im Zusammenhang mit der Schilderung seiner Kindheit findet er, und auch der Leser, den Satz eines hervorragenden Arbeiterführers wieder. Und der Satz heißt, und er steht irgendwie über dem Leben von Gerd Schröder: "Du sollst dich nie vor einem anderen Menschen bücken."

Das hat nichts mit Verachtung für Andere zu tun. Das hat mit dem Ehrgefühl zu tun, das Menschen haben, die aus kleinen Verhältnissen kommen, die manches erlebt haben, und die vieles nicht haben erleben dürfen was andere erleben konnten, ohne überhaupt zu merken, dass sie dabei sind etwas zu erleben, und die, aus dem was früher war, einen Baustein für den Rest des Werdeganges gemacht haben.

"Du sollst dich nie vor einem anderen Menschen bücken", heißt nicht, du sollst nie andere Menschen lieben, du sollst nie andere Menschen achten, du sollst nie andere Menschen respektieren. Es heißt aber, du hast auch Recht darauf, dass man dich und die Deinen genau so respektiert, wie du die Anderen auch respektierst.

Das Buch hört dann auf, zärtlich und heimlich zu sein, wenn er sich seinem späteren Leben zuwendet. Manche stellen ja die Frage: ist das überhaupt erlaubt, so schnell, so früh, so jung seine Memoiren zu schreiben? Und da startet er einen Erklärungsversuch, wie überhaupt das Buch von Beschreibungen, von Schilderungen, von Erklärungsversuchen, von Rechtfertigungsversuchen – gelungenen und weniger gelungenen – nur so strotzt. Er sagt eigentlich, dass er sich die Deutungshoheit sichern möchte und bietet dieses Buch als persönlichen Deutungsbeitrag an, das zu einer objektiven Gesamtbetrachtung gehören könnte.

Nun sind persönliche Erinnerungen nicht notwendigerweise dazu angetan, zur objektiven Gesamtbetrachtung einen wesentlichen und wichtigen Beitrag zu liefern. Und doch ist ihm das, wie ich finde, in hervorragender Weise gelungen.

Das Buch – er schreibt als Sozialdemokrat, der er immer war und der er geblieben ist, auch wenn Einige zwischendurch biographische Irrungen und Wirrungen an seinem Tun zu entdecken glaubten, das ihn von der Sozialdemokratie entfernen würde, so habe ich ihn nie erlebt, wenn es um die Sache ging –, das Buch ist nicht in allen Beziehungen freundlich zur SPD. Aber die SPD war ja auch nicht immer überfreundlich zu Gerd Schröder. Es ist aber immer von dem Gedanken getragen, dass hier Menschen etwas Gemeinsames gestalten, dass man zu unterschiedlichen Beurteilungen einer bestimmten Sachlage kommen kann, dass man immer wissen muss, wenn es um die Substanz geht, dann zieht man an einem Strang und bewegt sich in eine Richtung.

Interessant an dem Buch ist – und ich sage dies nicht, weil ich mich jetzt darauf kaprizieren würde, hier Widersprüchliches oder nicht in Gänze Gewachsenes herauszudestillieren. Das Buch ist auch das Buch eines eigentlich bescheidenen Selbstbetrachters, weil er, dort wo er sich irrte, auch sagt, dass er sich geirrt hat. Und dort, wo er nicht weiter wusste, die Weggabelung beschreibt an der er stand, nicht wissend, in welche Richtung er sich bewegen sollte.

Das Buch erzählt auch von Fehleinschätzungen, die unterlaufen sind. Das macht nicht jeder, der Erinnerungen schreibt. Und deshalb finde ich es gut, dass das Buch so schnell geschrieben wurde, weil ich ihm durchaus zutraue, dass er diesen Teil später nicht mehr hätte schreiben wollen. Aber er sagt, bevor er Kanzler geworden ist, beim Einzug ins Kanzleramt, dass er einige Dinge unterschätzt hatte. Das geht jedem so, nur die Wenigsten geben es im Nachhinein auch zu.

Globalisierung und Internationalisierung mit ihren feinen Verästelungen, bis hin in die innenpolitische doch sehr strukturkonservative Wirklichkeit hinein, fast eine Fehleinschätzung der realen Arbeitsmarktlage, jedenfalls der Gedanke, man kann das wenden und stößt sich dann an den Grenzen, an externen Schocks, an Einengungen, die von außen auf das Land zuwachsen. Auch das Eingeständnis in Sachen Rente und demographischer Faktor, nicht alles bei Amtsantritt genau besehen und betrachtet zu haben. Aber immer dann auch der Hinweis darauf, dass man versucht hat die Dinge zu richten, anders zu machen. Er wollte ja nicht alles anders, sondern vieles besser machen. Und er gibt sich Mühe auch zu zeigen, wo er die Dinge besser gemacht hat. Und da gibt es viele Dinge, die er besser gemacht hat.

Auch das Eingeständnis zu jenen gehört zu haben, die nicht an die Wiedervereinigung geglaubt haben. Nicht dieser Satz, den fast alle schreiben, "Ich hätte nie gedacht, dass zu meinen Lebzeiten noch die Wiedervereinigung stattfinden würde", sondern einfach der Satz, "Wir in meiner Generation haben nicht mehr daran geglaubt".

Und dann der Hinweis auf die schwere und auch die spurenhinterlassende Last dieser Generation, die ich einfach mit der Vokabel – das ist auch seine – der westlichen Sozialisierung beschreiben würde. Das sind ehrliche Worte. Und ich denke, dass die Männer und Frauen seiner Generation, auch noch viel jüngere, obwohl er nicht alt ist, weil er möchte ja nicht Altkanzler genannt werden, dass es denen genau so geht, und dass die sich in diesem Ambiente des beschriebenen Momentes doch sehr gut zurechtfinden. Dass es dort eine republikweite Befindlichkeit gab, die bei vielen so war.

Dann aber auch dieses fast schon sture, trotzige Sich-Bekennen zur Deutschen Einheit, und der Hinweis darauf – der perspektivisch gemeint ist, weil aktuell noch nicht ganz erreicht –, dass die Deutschen das schaffen werden. Die Sache, wenn ich dies so salopp ausdrücken darf, mit der deutschen Wiedervereinigung.

Über die eigentlichen innenpolitischen Themen, die er in epischer Breite manchmal erörtert, möchte ich mich ausschweigen dürfen. Obwohl wir über die Dinge sehr oft gesprochen haben und auch dort keine dramatischen Auseinandersetzungen zu erwarten wären, würde ich das kommentieren.

Mich wundert immer sehr in großen Ländern, dass die, die regieren, die, die regiert haben, und die, die regieren wollen, nur in den seltensten Fällen ein gutes Wort füreinander haben. Das ist in kleinen Ländern total verschieden. Da mögen wir uns einfach so, spontan. Und ich finde, dass der Harmoniepegel unter der führenden politischen Klasse dieses Landes eigentlich nach oben total ausbaufähig ist. Und ich möchte diese sich anbahnende harmonische Mühle auch nicht durch überspitzte Kommentare hier in Gefahr bringen. Es wäre nur mein Wunsch, dass alle die, die ich mag, sich auch mehr mögen würden, als sie dies, erkennbar jedenfalls, zur Zeit tun.

Schröder schreibt dort mit kräftiger Hand und mit gut überlegten Redewendungen, wo es um die Schnittmenge zwischen Wirtschaft und Politik geht, und vor allem dort, wo – von dort herkommend, aber nicht nur von dort herkommend – Schnittmengen zwischen Außen- und Innenpolitik zustande kommen.

Ich möchte hier sagen, dass ich Gerhard Schröder besonders dann in starker Erinnerung behalten werde, und zwar lebenslänglich, wo er, und er allein, gefordert war. Wo ich weiß, dass viele ihm zuarbeiteten, zudachten auch, man kann ohne die Gedanken anderer nicht denken. Aber ich habe während der dramatischen Entscheidung, wo der deutsche Bundeskanzler 1999 zum ersten Mal in der Bündnisgeschichte, zum ersten Mal in der europäischen Nachkriegsgeschichte und zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte deutsche Soldaten in den Kampfeinsatz nach Kosovo schickte, die Zeit habe ich auch wegen der Gespräche, die wir geführt haben, in fast erdrückender Erinnerung, weil ich weiß, dass dies auch ein Kampf mit ihm selbst war. Er mit sich, und zwar ganz alleine. Mache ich das, mache ich das nicht? Darf ich das überhaupt machen? Bin ich jemand, der legitimiert ist, um dies zu tun? Und selbst wenn ich legitimiert bin, ist die Entscheidung dann richtig?

Das war ein Ringen mit sich selbst, und es war ein Ringen mit der eigenen Mehrheit, weil er darauf verzichtet hat, sich mit einer eigentlich informell vorhandenen Mehrheit zu begnügen, sondern seine eigene Mehrheit, in seinem Lager, wenn ich mich so ausdrücken darf, zu suchen. Aber das war nicht der schwierigere Teil der Entscheidung. Der Weg zur Entscheidung, deutsche Soldaten in den Kampfeinsatz zu schicken, das war das eigentlich Zermürbende, Aufwühlende. Und man hat ihm das angesehen.

11. September, ähnlicher Verlauf, wenn auch mit anderen historischen Vorzeichen letztendlich. Aber auch dort sofort die Erklärung, dass man den USA gegenüber uneingeschränkte Solidarität zu üben hätte. Und dieser Satz, dieser Hinweis auf uneingeschränkte Solidarität, der wurde an dem Tag vom deutschen Publikum und von vielen anderen eigentlich nur konsumiert. Aber der, der diesen Satz gesagt hat, dem war klar, was dieser Satz in letzter Konsequenz bedeuten würde.

Und die letzte Konsequenz, die vorletzte Konsequenz, war eigentlich der Afghanistan-Einsatz des Bündnisses, weil wir erstmals seit Gründung der NATO auch damals dem Bündnis von Artikel 5 des NATO-Vertrages zu entscheiden hatten. Und jeder wusste, und das war der immense Druck, der auf der deutschen Politik und vor allem auf den Schultern des Kanzlers lastete, diese uneingeschränkte Solidarität, diesen Anwendungsfall des Bündnisfalles, dieses gemeinsame Reagieren aller gegen eine neue Gefahr, die nicht genau zu orten war, ist ohne das deutsche Mitmachen nicht zu gestalten. Die internationale Reaktion wäre, hätte es das aktive Mitgestalten der Deutschen nicht gegeben, niemals zustande gekommen.

Irakkrieg. Ich habe gedacht, jetzt lässt er eine Rechtfertigungslawine los. So hat er es nicht gemacht. Er lässt andere für sich sprechen. Immerhin interessant, dass jemand, der ja dabei ist zu zeigen, dass er schreiben kann – dass er reden konnte wussten wir schon immer – darauf verzichtet, sich selbst gewissermaßen in Pose zu bringen, und zu zeigen, dass er ja Recht behalten hat. Nein, er lässt andere für sich sprechen.

Auf den 516 Seiten Buchtext stehen allein sechs Seiten Zitat aus der "New York Times". Er überlässt der "New York Times" die Aufgabe, das, was er angedacht hat, durchgedacht hat, und zu Ende gedacht hat, in seiner Richtigkeit zu belegen. Er zitiert sogar auf zwei Buchseiten den früheren amerikanischen Sicherheitsberater Clarke. Das hättest du eigentlich auch alles selbst schreiben können. Warum sie genau das geschrieben haben, was du eigentlich hättest sagen können, musst du wahrscheinlich als guten Einfall eines neuen Schriftstellers, der sich dem eigenen Wort gegenüber noch misstrauisch verhält, empfunden haben.

Europa ist ein großes Thema im Leben des Gerd Schröders geworden. Und ich darf, ohne dass ich hier Betriebsgeheimnisse verrate, sagen, ich habe nicht den Eindruck, dass das immer so war. Ich glaube, Gerd Schröder ist Kanzler geworden ohne ein genügend hohes Maß an Berührungsintensität mit europäischen Dingen gehabt zu haben. Und ich sage dies nicht despektierlich, er schreibt das. Nicht so schroff, wie ich das jetzt hier vortrage, aber so hat er es eigentlich gemeint, wenn er nicht einen etwas gnädigeren Umgang mit sich selbst für diese etwas schwächelnde Phase seiner politischen Laufbahn hätte wählen wollen.

Ich kann mich auch noch fast anekdotenhaft an einen Besuch des damaligen Ministerpräsidenten Schröder in Luxemburg erinnern, wo wir über den Euro geredet haben. Ich war dafür, er war auf dem Weg dahin. Wenn wir so zusammensaßen und er dann, gegen andere, mit großer Werbung, mit Elan, die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion verteidigt hat, erklärt hat, angemahnt hat, dass die Dinge ernsthaft betrieben werden müssen, habe ich immer gesagt: "So redet eigentlich nur ein Spätberufener."

Und dass er, obwohl jeder wusste, dass er dem europäischen Währungsprozess, um es freundlich auszudrücken, aber ich glaube schlimmer war es auch nicht, abwartend gegenüber stand, hat er sich sehr intensiv auch in diese währungs- und wirtschaftspolitisch relevanten Gesamtdinge eingebracht.

Seine ersten europapolitischen Auftritte waren nicht so, wie sie hätten sein sollen, und wie sie zum Schluss, Gott sei Dank, geworden waren. Weil er hat auch, haarscharf an der luxemburgischen Grenze, in Saarbrücken, auf einem SPD-Europakongress erklärt, es wäre jetzt Schluss damit, dass wir Europäer das deutsche Geld in Brüssel verbraten würden.

Das hat viele damals erschreckt, mich auch – nicht weil er an der luxemburgischen Grenze stattfand, da gab es schon schlimmere Ereignisse –, aber weil ich mir auch dachte: "Was wird das jetzt werden mit diesem neuen deutschen Bundeskanzler?" Und es wurde eine schöne gemeinsame Geschichte, weil Gerd Schröder, der anfänglich sich wie auf Samtpfoten in dieses europäische Wirrwarr und Sammelsurium hineinwagte, ab der Mitte seiner Kanzlerschaft und zum Schluss exklusiv führend zu den treibenden Kräften der Europäischen Union gehörte, und zum Schluss die treibende Kraft in der Europäischen Union war. Immer auf weiterführende integrationspolitische Schritte bedacht, niemals wieder zurückschauen, sondern Klarkurs behalten, auch wenn die Irrungen und Wirrungen anderer es eigentlich einfacher gemacht hätten, vom Kurs abzuschwenken.

Zwei Dinge waren ihm wichtig. Mehrere. Zwei möchte ich zurückbehalten. Die deutsch-französische Freundschaft. Dieses immer beschworene Traumpaar der Europäischen Union. Dieses Traumpaar hat er manchmal zum Tanzen gebracht. Nicht in Nizza. Da standen sich die Tänzer des Tanzens absolut unwillig gegenüber. Die hatten überhaupt keine Lust, sich die Hand zu geben um zu tanzen. Aber beide, Chirac und Schröder – darf ich hier sagen, Schröder noch mehr als Chirac – haben damals erkannt, wenn wir so weitermachen, dass Deutsche und Franzosen plötzlich in Substanzfragen europäischen Zuschnittes nicht mehr miteinander können, dann scheitert die gesamte Veranstaltung. Und ab dann gab es einen deutsch-französischen Schulterschluss, der uns manchmal sehr auf die Nerven gegangen ist, der aber immer für Fortschritt in der Sache gesorgt hat.

Die Kleineren in der Europäischen Union – ich weiß, von wem ich da rede, wenn ich von Kleineren rede – mögen es überhaupt nicht, wenn Deutsche und Franzosen vorschreiben, wo es langgeht. Aber niemand wird nervöser als die Kleinen, wenn Deutsche und Franzosen in verschiedene Richtungen abdampfen. Insofern ist es gut für alle, für Deutsche und Franzosen, und für die Kleinwüchsigen in der Europäischen Union, dass dieses deutsch-französische Paar sich harmonisch in die europäische Zukunft hineinbewegt.

Obwohl es im deutsch-französischen Verhältnis so ist, wie im deutsch-nichtdeutschen Verhältnis überhaupt. Es ist nicht so, dass auch in dieser deutsch-französischen Intimität nationale Interessen nicht vertreten würden. Und es ist nicht so, dass Deutsche und Franzosen sich immer in allem einig wären. Wenn man Luxemburger ist, deutsch redet, französisch redet, öffentlich-rechtliche elektronische Medien aus Deutschland, und auch einen gewissen Programmrausch aus Frankreich jeden Abend ins Büro kriegt, dann merkt man sehr gut, auch wenn man mit den beiden, die miteinander geredet haben, später redet, so einig waren die sich eigentlich nicht. Das ist das Schöne daran, dass man dann sieht, da gibt es noch ein kleines Stückchen, das kannst du selbst bewegen. Und es stört die nicht, weil die haben ja schon erklärt, sie wären in allen Sachfragen eh einer Meinung und sich einig.

Das was ich über das deutsch-französische Verhältnis sage, das möchte ich hier auch über das deutsch-polnische Verhältnis sagen. Ich habe in einem Gespräch mit dem neuen polnischen Premierminister vor ein paar Wochen gesagt: "Herr Premierminister – weil ich war dabei, ihm mein Deutschlandbild zu erklären und das ist völlig anders als seines –, Herr Premierminister, die deutsch-französische Freundschaft war wichtig für das Zustandekommen der Europäischen Union. Der deutsch-polnischen Freundschaft kommt für die Zukunft genau die Bedeutung zu, die der deutsch-französischen Freundschaft für die Vergangenheit zukam."

Und wer aus falschem historischen Blick, aus partieller Nachbetrachtung, und aus dem nicht-in-die-Zukunft-schauen-wollenden Grundreflex, diese schwierige Freundschaft, und das war die deutsch-französische ja zu Anfang auch, in Gefahr bringt, der bringt nicht nur das Verhältnis Deutschland-Polen in Gefahr. Der bringt das Ambiente, den Grundkonsens selbst in der Europäischen Union in Gefahr und er belastet, das wird sehr oft übersehen, das deutsch-russische Verhältnis in einem unerhörten Maße.

Und dieses deutsch-russische Verhältnis ist ja auch wichtig, weil das europäisch-russische Verhältnis wichtig ist. Es gibt keine europäische Skizze die zu einem fertigen Bau werden kann, wenn bei der architektonischen Grundüberlegung nicht immer Russland auf dem Radarschirm der europapolitisch Tätigen und Handelnden ist. Das hat Gerd Schröder, wie seine Vorgänger auch, mit sehr viel Energie und auch mit sehr viel Herzensblut betrieben. Dieses Nicht-Zulassen, dass Russland auf dieser neuwachsenden kontinentalen Solidarität ausschert, sondern immer wieder dafür zu sorgen, dass die Russen uns achten und dass alle Europäer Russland, weil es Russland ist – Russland mit seiner Dichte, mit seiner Tiefe, mit dem, was es auch kulturell auf unserem Kontinent bewirkt hat – immer wieder ins Boot zu bringen.

Dass man ihm Kumpanei mit Putin vorwirft, finde ich so nicht richtig. Ich weiß nicht, was das Spektakel soll, dass Staatsmänner der obersten Liga dauernd aufeinander einprügeln sollen, um sich besser untereinander verständigen zu können. Es ist ein Glücksfall, dass russische Präsidenten und deutsche Bundeskanzler miteinander können. Es wäre verheerend für Europa, wenn sie das nicht tun könnten, und deshalb finde ich den Russlandbeitrag der Schröderschen Außenpolitik für einen besonders wichtigen und für einen besonders gelungenen.

Schröder schreibt nicht über egal was. Er sagt, er hätte sich nur mit Zukunftsthemen beschäftigt, die über den Tag hinaus reichten. Und wer von der Wichtigkeit der behandelten Materie her eine Kategorisierung des von Schröder Beschriebenen aufstellen würde, wird sich sehr schnell in den großen Zukunftsfragen unserer Zeit, und der Zeit die nach unserer Zeit kommt, wiederfinden.

Das demographische Problem, die demographische Explosion weltweit, die entwicklungspolitischen Fragen, der Kampf, den er zu einem europäischen erklärt hat, gegen Armut und Elend auf der Welt – damit hört sein Buch auf. Und damit, wenn auch unter völlig anderem Vorzeichen – und dieser Vergleich ist so wie ich ihn jetzt vortrage, nicht zulässig – aber das Buch hört dort auf, wo es um die Menschen geht, um ihr Glück, für das er sich nicht zuständig fühlt, aber um die Verhältnisse, die es Menschen erlauben glücklich werden zu können, jedenfalls zufrieden werden zu können, dort knüpft er wieder an, an den Anfang seines Buches. Du sollst dich vor keinem Menschen bücken, und du sollst dich, das will der Satz ja auch sagen, um jeden Menschen bemühen. Ich sage nicht gerne, er hat sich redlich bemüht, weil ich weiß, dass das auf dem Grabstein von Willy Brandt steht. Aber Nachfolger von Willy Brandt ist er in allen Beziehungen.

Er ist, wie ich fand, leichtfüßig ins Amt gesprungen. Das geht, denke ich, allen so. Wer schon alles erlebt hat, wer denkt, er wüsste alles, wen nichts mehr beeindrucken kann, der soll sich von politischen Spitzenämtern fernhalten. Man muss sich auch im politischen Spitzenamt – und das Amt des deutschen Bundeskanzlers ist eines der wichtigsten politischen Ämter weltweit – immer wieder von Ereignissen und von Menschen beeindrucken lassen wollen. Er hat sich oft beeindrucken lassen wollen und er hat auch viele beeindruckt.

Er ist aus dem Amt gegangen – ich rede jetzt nicht von deinem Fernsehauftritt, denn wir sind gute Freunde, aber höflich miteinander. Er ist aus dem Amt gegangen als ein anderer Mann als der, der in dieses Amt gekommen ist. Weniger leichtfüßig, viel ernster, viel besorgter auch um die Menschen und ernsthaft besorgt für die Zukunft dieser Welt. Du warst ein großer Kanzler.

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