Jean-Claude Juncker, Laudatio en l'honneur de la lauréate du prix "Vision for Europe 2006" Angela Merkel, Luxembourg

Mr. Chairman, cher Edmond,
sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin,
Herr Parlamentspräsident,
Herr Ehrenstaatsminister,

Es mag so aussehen, als ob ich inzwischen den Rang dessen erreicht hätte, der seine Freizeit und Teile seiner Arbeitszeit damit verbringt, deutsche Bundeskanzler zu loben. Wieso konnte dieser Eindruck entstehen? Er entsteht deshalb, weil es so etwas wie deutsch-luxemburgische Geschichte gibt. Die war schwierig und ist einfach geworden und deshalb gehört es zur luxemburgischen Staatsraison zur Bundesrepublik Deutschland freundschaftliche Entwicklungen sich vollziehen zu lassen, und zu deutschen Regierungschefs, wie zur deutschen Bundesregierung überhaupt, freundliche bis freundschaftliche Beziehungen zu pflegen.

Manchmal, weil man dies in Deutschland in den einzelnen politischen Lagern weniger gut versteht, und auch das Verständnis in Luxemburg massiv unterentwickelt ist in diesem Bereich, pflege ich zu sagen, dass es für einen luxemburgischen Premierminister deutsche Bundeskanzler gibt, die keiner Partei angehören. Sie gehören aber einer Partei an. Und wenn man Luxemburger ist und wenn man, dies ist der Fall für meine Generation, im Vollgenuss dessen groß werden konnte und groß bleiben darf, dass die Deutschen uns die besten Nachbarn geworden sind, die sie uns je waren, gehört es zum anständigen Umgang miteinander sich gegenseitig zu mögen, wenn man das schafft. Und der Zufall will es, dass ich das bislang immer geschafft habe. Das hat nicht nur mit mir zu tun, sondern auch mit denen zu tun, die ich gemocht habe und immer noch mag.

Wenn man sich zu deutschen Bundeskanzlern äußert, kann man dies aus vornehmer Distanz heraus tun, weil sich Freundschaften manchmal langsam entwickeln, sich an den Ereignissen die man gemeinsam erlebt, gestaltet, durchlebt, eigentlich erst entwickeln. Freundschaften entstehen nicht spontan. In dem Ereignis was uns heute Abend zusammenführt ist die gegenteilige Mitteilung angebracht. Ich kenne Angela Merkel seit vielen Jahren und ich habe sie spontan gemocht. Das hat weniger mit gemeinsamem Engagement in derselben parteipolitischen Familie in Europa zu tun als mit ihrer Person selbst.

Nun ist die Annäherungsweise an einen deutschen Bundeskanzler oder an eine deutsche Bundeskanzlerin für einen Luxemburger, wenn man dies vom historischen, empirischen Ablauf her betrachtet, immer etwas schwierig, weil die Deutschen sich mit ihrer Biographie schwer tun und weil wir uns auch sehr oft mit ihrer Biographie schwer taten, manchmal auch noch tun. Zu dem deutschen Wesen, zu der Art und Weise wie Deutsche sich ihren Nachbarn gegenüber verhalten, gehört wesentlich, dass die Deutschen, die wir nach Kriegsende kennen gelernt haben, allesamt eine gebrochene Biographie hatten. Es gab keine sich kontinuierlich entwickelnde deutsche Biographie. Es gab immer, bei denen die wir, manchmal etwas arrogant, die anständigen Deutschen nannten, gebrochene Biographien, weil die Nazizeit, die Zeit zwischen 1933 und 1945 deutsche Biographien die auf Kontinuität ausgerichtet waren, durcheinander gewirbelt haben, sie eben gebrochen haben. Wir haben dies mit unserer Art und Weise uns mit Deutschland auseinanderzusetzen, umso einfacher integrieren können, weil auch die Deutschen selbst sich zu diesem Gebrochensein der individuellen und kollektiven Biographie bekannten.

Für viele überraschend gibt es seit 1989 noch einmal eine gefaltete deutsche individuelle Biographie, dadurch dass Deutsche aus Ost und Deutsche aus West zu einer gemeinsamen Nation zusammenwuchsen, weil plötzlich, fast wider Erwarten, ebenfalls zum Erstaunen vieler, zusammenwuchs was zusammen gehört. Weil plötzlich deutsche Geographie und deutsche Geschichte wieder zueinander fanden.

Angela Merkel, die Bundeskanzlerin unseres größten Nachbarlandes, kommt aus dem Osten Deutschlands. Wer ist diese Frau?

Wer in der Biographie von Angela Merkel, der jungen Angela Merkel blättert, wird feststellen, dass sie in Hamburg geboren wurde und im Kindesalter in die damalige sowjetische Besatzungszone mit ihrem Vater, der protestantischer Pfarrer war, übersiedelte. Über ihre Kindheit ist wenig bekannt und sie gehört auch nicht zu den Menschen, die alles über sich erzählen möchten, aber ich glaube irgendwo gelesen zu haben, dass sie ihre Kindheit als glücklich empfunden hat.

Sie hat als junger Mensch natürlich Anteil genommen an dem was in der Welt um sie herum passierte. In der damaligen DDR, aber auch in dem was wir damals, in grenzenloser Verkennung geographischer Elementarien, Osteuropa nannten. Es handelte sich eigentlich um Mitteleuropa. Der Einmarsch der sowjetischen Truppen, im übrigen auch der DDR-Soldaten, in Prag hat sie sehr beeindruckt und sie hat, ohne auf Krawall gebürstet zu sein, auch in dem Umfeld das damals ihres war, sich kritisch zu diesen Vorgängen geäußert. Sich kritisch zu Vorgängen äußern die den eigenen Raum, den eigenen abgeschotteten Raum betreffen, mag uns als sehr normal, selbstverständlich, vorkommen. In der damaligen DDR war das nicht ohne denkbare Folgen.

Sie hat Physik studiert in Leipzig, nicht weil sie Physik studieren wollte, sondern weil sie dies als Herausforderung empfand, sie die eigentlich als Lieblingsfächer Englisch und Russisch hatte. Dieser Drang besondere Herausforderungen anzunehmen ist eigentlich etwas, was sich jedenfalls durch den bekannten Teil ihres Lebens quasi wie ein roter Faden zieht.

Aber nicht alle Herausforderungen wollte sie annehmen. Als sie mit ihrem Physikstudium begann, wurde sie von der Stasi angesprochen. Scheinbar passierte das oft. Und vielleicht ist es symptomatisch für die Klugheit, auch die Lebensklugheit dieser jungen Frau, dass sie der Stasi sagte: "Ich kann nicht mit Ihnen zusammenarbeiten, weil ich kann den Mund nicht halten. Es ist für die Stasi zu gefährlich mit mir in Kontakt und in einen weiterführenden Kontakt zur treten".

Ich hab sehr gemocht, dass sie gesagt hat, zwei Ereignisse hätten ihr Kindesalter und ihr Jugendalter sehr bestimmt. Das wäre der Bau der Berliner Mauer gewesen, weil ihre Mutter über Tisch geweint hätte, während wir nur aufgeregt und besorgt waren. Die Menschen im Osten Deutschlands haben geweint, weil sie wussten was Mauern bedeuten, was Absperrungen zur Folge haben, wie viel Trennung Mauern beinhalten. Wir haben Mauern als Hindernis erlebt. Die Menschen im Osten Deutschlands haben sie als Aussperrung von anderem Denken und anderem Fühlen empfunden.

Und ich hab sehr gemocht als sie gesagt hat, sie wäre in den Tagen der Wende, nach dem Mauerfall, nach dem 9. November 1989, so begeistert gewesen, dass sie nie müde geworden wäre, so spannend wäre es gewesen.

Ich frage mich manchmal, was die wissenschaftliche Ausrichtung ihrer Ausbildung an politischen Konsequenzen gezeitigt hat. Sie hat promoviert zu einem Thema das ich mir aufgeschrieben habe: „Die Berechnung von Geschwindigkeitskonstanzen von Elementarreaktionen am Beispiel einfacher Kohlenwasserstoffe“. Ich habe sehr oft gemerkt, in früheren Jahren und auch jetzt, dass diese doch sehr konzentrierte Hinwendung zu dem was wissenschaftlich ist, zu dem was genau ist, die Art und Weise wie sie Politik gestaltet, Politik begreift, Politik zu verstehen versucht, sie wesentlich beeinflusst hat. Sie ist eine Frau die schnell versteht, die aber immer nachfragt, die es gerne genau wissen möchte. Sie möchte es genau wissen, weil sie auch, so sehe ich das, von dem Drang erfüllt ist den Menschen dann auch genau zu vermitteln was Sache war, was entschieden wurde und wie Dinge zu richten wären.

Diese Frau, die aus Ostdeutschland kam und die jetzt nicht nur in Westdeutschland sondern in Deutschland angelangt ist, hat, wenn ich dies so beschreiben darf, nicht unbedingt einen einfachen Weg in der Politik und in der innerdeutschen Befindlichkeit gehabt. So normal, wie uns das heute erscheint, war das nicht, dass eine aus Ostdeutschland stammende Frau Vorsitzende einer großen deutschen Volkspartei wird und zur ersten deutschen Bundeskanzlerin wird.

Dies war kein einfacher Weg, weil sie hat sich – sie, die es sofort nach der deutschen Wiedervereinigung, nachdem sie stellvertretende Regierungssprecherin der letzten DDR-Regierung gewesen war, zu deutschen Ministerehren gebracht hatte - zuerst einmal abnabeln müssen. Und zwar von Helmut Kohl. Und jemand wie ich, der ja, ein sehr freundschaftliches Verhältnis mit Helmut Kohl pflegte und heute noch pflegt, weiß dies richtig einzuordnen. Es gab einen berühmten Aufsatz von ihr in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der ein Abnabelungsaufsatz war und der auch so in Erinnerung geblieben ist. Und weil man nie mehr nachliest ob das, was in der Erinnerung haften geblieben ist, auch wirklich so war, muss ich hier hinzufügen, dass in diesem, von mir als Abnablungsaufsatz qualifizierten Schreiben, auch der Satz stand, dass man später, nach einigen Jahren, die Lebensleistung von Helmut Kohl richtig einordnen würde. Und zu der richtigen Einordnung dieser Lebensleistung hat sie in besonderem Masse beigetragen.

Jetzt ist Angela Merkel, die in Hamburg geborene, in der DDR aufgewachsene Pfarrerstochter und Physikerin auch in Europa angekommen. Sie ist aber nicht in Europa angekommen, wie viele in Europa angekommen sind, nämlich einfach so. Die meisten landen in Europa, wenn sie Premierminister werden oder Aussenminister werden - einfach so, jenseits von Gut und Böse und diese europäische Welt entdeckend.

Ich habe bei einer jüngst vorgetragenen Laudatio, einer launigen, differenzierteren, erwähnt, dass manche Bundeskanzler ins Amt kommen, ohne vorher direkte Erfahrungen mit europäischen Dingen gehabt zu haben, und dass sie dann mehr oder weniger schnell hinzulernen, die Dinge begreifen, die Temperatur dieses Kontinents spüren, sich an der Wärme des Kontinentes manchmal verbrennen und über die Kälte desselben manchmal staunen.

Ich habe Angela Merkel lange Jahren beobachtet, ihr auch zugehört - sie mir manchmal auch - in den Reihen der europäischen Volkspartei, wo Regierungschefs und Oppositionsführer sich regelmäßig treffen um über europäische Dinge reden. Nichts was europäisch war, kein einziges europäisches Problem, weder innereuropäisch noch außereuropäisch, war ihr unbekannt.

Ich hab einigermaßen gestaunt - obwohl ich mir immer einbildete sie eigentlich gut zu kennen, weil wir soviel miteinander geredet und telefoniert haben, uns immer wieder getroffen haben - über die Art und Weise, wie sie ihren ersten Auftritt im europäischen Rat gestaltet hat. Ja, da war viel Gestaltung dabei, im architektonischen Sinne des Wortes. Aber das war kein plumper Plan. Dass die deutsche Bundeskanzlerin sich um den Endkompromiss bemüht - ich rede über die Sitzung des europäischen Rates vom Dezember 2005, wo wir uns mit finanzieller Vorausschau zu beschäftigen hatten, das war der Genuss, den Herr Blair mir im Juni vorher nicht gegönnt hat - dass sie es verstand die Dinge auf den Punkt zu bringen und es verstand mit allen und jeden im kleinsten Kreis, manchmal im intimsten Kreis, über die Probleme zu reden, die das jeweilig anzusprechende Land eigentlich mit der in Vorschlag gebrachte Lösung hatte, das hat mich doch schon sehr beeindruckt. Diese Merkel-Methode, auf jeden zuzugehen, jeden gleichwertig ernst zu nehmen, sich auch zu investieren um Positionen kleinerer Mitgliedstaaten, um in der Summe zu verstehen, was eigentlich individuelle und kollektive Sache ist, dies setzt eine Bereitschaft zum europäischen Kompromiss, der immer auch eine Lösung sein muss voraus, die bei Regierungschefs größerer Mitgliedsstaaten eigentlich in der Form nicht anzutreffen waren in der Vergangenheit.

Dass sie dies mit Einfühlvermögen, mit Augenzwinkern und mit Brückenschlägen zwischen Groß und Klein tut, tut Kleineren sehr gut, weil nicht immer Brückenschläge zu den Kleineren gesucht wenn Große handeln. Und deshalb, liebe Angela, bist Du, ich darf dies so formulieren, auch für Luxemburg ein Glücksfall.

Nun ist dies ein Preis für europäische Visionen, Vision for Europe. Was sind die politischen Visionen, die europolitischen Visionen von Angela Merkel? Vieles was einem normal erscheint, wenn man Luxemburger ist, gehört zum Visionskreis des Gedankengutes von Angela Merkel. Beispielsweise dass Europa ökonomisch stärker werden muss, um den Wettbewerb mit den Vereinigten Staaten von Amerika auszuhalten, zu denen sie Europa nicht im massiven Wettbewerb stehend sieht, sondern in einem edlen Wettbewerb der Ideen, der Produkte, der menschlichen Leistungen.

Zu ihren Visionen, Ideen, Ansichten über Europa gehört auch, dass sie ein diffuses Europa der Unverbindlichkeit eigentlich nicht mag. Das hat mit ihrer wissenschaftlichen Ausbildung zu tun, aber auch mit ihrem Drang, die Dinge auf den Punkt zu bringen. Wenn entschieden wird, muss man wissen wieso so entschieden wird, weshalb so entschieden wird und in welche Richtung in der Weiterentwicklung diese Entscheidungen sich werden bewegen können.

In diesem Aufsatz in der FAZ hat sie zum Ausdruck gebracht, wie sie sich das Europa des Jahres 2020 vorstellt. Ihre Vorstellung ist, dass die meisten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Jahre 2020, den Euro ihre gemeinsame Währung nennen werden. Das sehe ich auch so. Aber nicht alle Länder werden das Schaffen können sagt sie und das heißt, dass sehr wohl in ihrem Denken die Notwendigkeit besteht, dass die Zulassungskriterien zur Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion von den neuen Mitgliedstaaten so zu erfüllen sind, wie dies für die sich jetzt im Euroraum befindlichen Mitgliedsstaaten der Fall war. Im Übrigen, in Sachen Euro gehört sie nicht zu den Spätberufenen. Sie war immer der Meinung, dass die europäische Wirtschafts- und Währungsunion und die einheitliche Währung der richtige Weg der Europäischen Union in eine sich massiv komplizierende internationale Zukunft wären.

Ihr Wunsch wäre es - der wird in Erfüllung gehen - dass der Euro bis zum Jahre 2020 dieselbe Wirkung entfalten wird wie dies der US-Dollar tut. Meine Wette wäre, der Euro wird dies schon wesentlich früher tun und das tut mir besonders gut für die, die immer dachten, wir würden diesen Euro nie auf die Beine kriegen.

Ihre Vorstellung ist, dass alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Schengener Raum zusammengefasst wären, sich dort wieder finden würden, weil sie denkt, dass Freiheit, dass Gerechtigkeit europäische Werte wären, auf die die Bürger der Europäischen Union einen strikten Anspruch hätten.

Sie wünscht sich, dass die Europäische Union es zur integralen Verteidigungsfähigkeit gebracht hätte bis zum Jahre 2020 - nie als Gegenentwurf zur NATO oder als Konkurrenzunternehmen zu den Vereinigten Staaten von Amerika, sondern als ein eigenständiger europäischer Teil, auch in den sich komplizierter entwickelnden Felder gemeinsamer Außen- und Verteidigungspolitik und als ein komplementärer Teil zu dem was die Vereinigten Staaten von Amerika ausmacht.

Sie wünscht sich, dass die Entwicklung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dazu führen möge, dass die europäische Union mit einer Stimme im Weltsicherheitsrat vertreten wäre und legt weniger Eifer an den Tag um für Deutschland als ein ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates zu werben.

Und sie wünscht sich letztendlich in der Schnittmenge zwischen dem was deutsch ist und dem was europäisch ist, dass Deutschland ein Land würde das von seinen Nachbarn gemocht würde und das seinen Nachbarn ein guter Nachbar wäre. Ich sage das ist Deutschland schon.

Wenn diese Zukunftsperspektive dessen was europäisch zu sein hat und sein muss, diejenige von Angela Merkel ist, und dies ist von ihr so dokumentiert und protokolliert worden - nicht nach ihrem Einzug ins Kanzleramt, sondern schon als Oppositionsführerin im deutschen Bundestag - dann fühlen wir Luxemburger uns mit der Gedankenwelt dieser Bundeskanzlerin sehr in Harmonie.

Und weil wir nur denjenigen hier in Luxemburg Preise überreichen, die so denken wie wir, bin ich froh, liebe Angela, dass Du diesen Preis heute in Empfang nehmen kannst. Dies ist ein Preis, der sich Vision for Europe nennt. Es ist eigentlich ein Preis, ja, fast für Anfänger, für diejenigen die sich an die europäischen Dinge herantasten.

Du hast die europäischen Dinge begriffen und wir sind froh, dass wir sie gemeinsam mit Dir immer wieder greifen können. Ich beglückwünsche Dich zu diesem Preis, der Dich ehrt, der uns aber auch ehrt, weil wir genau wissen wen wir mit diesem Preis auszeichnen.

Vielen Dank.

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