Gegen Erweiterung im Galopp. Premierminister Jean-Claude Juncker über die Reform der EU

Herr Juncker, laut Kommissar Günter Verheugen ist es realistisch, dass die EU schon im Jahr 2003 einige osteuropäische Länder aufnimmt.

Jean-Claude Juncker: Mir erscheint das sehr optimistisch. Richtig ist: Wenn wir uns im Dezember auf dem Gipfel in Nizza auf eine Reform unserer Institutionen einigen können, sind wir ab dem Jahr 2003 aufnahmefähig. Länder, die die Kriterien erfüllen, können dann beitreten. Aber ich bin gegen eine Erweiterung im Galopp.

Im Gespräch ist auch ein so genannter Big Bang mit zehn neuen Mitgliedsländern im Jahr 2005.

Jean-Claude Juncker: Wer glaubt, wir könnten in einem Jahr den Beitritt von zehn Ländern verdauen, der überschätzt die Leistungsfähigkeit der EU. Andererseits sind einige Kandidatenländer vielleicht bereits vor 2005 so weit. Die kann man nicht vertrösten, bis die anderen bereit sind.

Muss die Union um jeden Preis in Nizza einen Kompromiss für die EU-Reform finden, um sich für den Kraftakt Osterweiterung vorzubereiten?

Jean-Claude Juncker: Wir müssen das in Nizza hinkriegen. Dazu gehört, dass wir künftig im Ministerrat wesentlich öfter mit Mehrheit entscheiden sollten statt einstimmnig - auch wenn diese Frage nicht so dramatisch wichtig ist, wie manche glauben. Dauerhaft einzelne Länder zu überstimmen ist auch gefährlich. Dann müssen wir die Stimmen im Rat neu gewichten und festlegen, wie viele Mitglieder die EU-Kommission haben kann. Besonders wichtig ist, dass es Gruppen von Ländern innerhalb der EU erlaubt wird, verstärkt und enger zusammenzuarbeiten, wenn sie das wollen.

Sie verteidigen Luxemburgs Recht auf einen eigenen EUKommissar auf Biegen und Brechen - auch wenn die Zahl der Kommissare von heute 20 auf 27 oder mehr steigt?

Jean-Claude Juncker: Eine Kommission mit bis zu 27 Kommissaren ist immer noch handlungsfähig. Vergessen wir nicht: Auch die neuen Mitglieder wollen an dem Tisch vertreten sein, an dem über alle Gesetzesvorschläge für die EU entschieden wird.

Sobald die Zahl der Mitglieder 27 überschreitet, ist Luxemburg bereit, zeitweise auf einen Kommissar zu verzichten?

Jean-Claude Juncker: Ein Kommissar pro Land - das sollte gelten, bis die jetzige Erweiterungsrunde abgeschlossen ist. Vor weiteren Runden sollte die Union in der Tat ein Rotationsmodell einführen: Jeder müsste mal verzichten.

Frankreichs Ministerpräsident Lionel Jospin drängt Sie zu weiteren Kompromissen. Er mahnt die kleinen Länder, sie sollten nicht vergessen, dass sie nur dank der EU eine Rolle auf der Weltbühne spielen. Warum wurde die Europäische Gemeinschaft gegründet?

Jean-Claude Juncker: Das geschah nach zwei verheerenden Kriegen, die wir weder begonnen noch provoziert hatten. Als die großen Länder hätten beweisen können, dass sie ohne uns auskommen, mussten Millionen dafür sterben. Die kleinen Länder gehören jetzt vielleicht zu den Gewinnern. Vorher waren wir ein Jahrhundert lang die Verlierer der europäischen Geschichte.

Der deutsche Aussenminister Joschka Fischer träumt von einem gewählten europäischen Präsidenten.Träumen Sie mit?

Jean-Claude Juncker: Ich würde mich nicht dagegen wehren. Mindestens so wichtig ist aber die Frage, wofür er zuständig wäre.

Der heutige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi wäre gern jetzt schon für die Wirtschaftspolitik im Euroland zuständig.

Jean-Claude Juncker: Herr Prodi ist Herr Prodi, und der Vertrag ist der Vertrag: Der sieht vor, dass die Wirtschaftspolitik von den Mitgliedsstaaten gemacht wird. Wahr ist: Wir müssen uns besser koordinieren. Wie jeder für sich hektisch auf die hohen Ölpreise reagierte - das war ein sehr schlechtes Beispiel.

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