Es ist sinnlos, jetzt Beitrittsdaten zu nennen. Premierminister Jean-Claude Juncker zu den Aufgaben des EU-Gipfels in Nizza

Herr Ministerpräsident, vom 7. bis 9. Dezember verhandeln die Regierungschefs der Europäischen Union über den Reformprozess. Mit welcher Erwartung fahren Sie nach Nizza?

Jean-Claude Juncker: Die Europäische Union muss sich über folgende Fragen verständigen: die künftige Zusammensetzung der EU-Kommission, die Neugewichtung der Stimmen der Mitglieder im Europäischen Rat, die Ausweitung des Prinzips der Mehrheitsentscheidungen und die Vertiefung der Zusammenarbeit. Sollten hier keine abschließenden Regelungen getroffen werden, ist der Gipfel gescheitert.

Welche dieser Fragen sind noch strittig?

Jean-Claude Juncker: Im Augenblick sind alle Fragen, die in Nizza behandelt werden sollen, noch strittig. Aber ich weiß, dass wir uns einigen werden. Die Inszenierung von Krisen vor einem Gipfel gehört zum regelmäßigen Ritual aller Akteure. Das beeindruckt mich wenig.

Die Zahl der EU-Kommissare ist einer der Punkte. Wie soll die künftige EU-Kommission aussehen?

Jean-Claude Juncker: Die großen Staaten sind der Auffassung, die Kommission müsse verkleinert werden, um die Arbeit effizienter zu gestalten. Die kleinen, wie Luxemburg, sind eher daran interessiert, dass ihre Vertreter mit am Tisch sitzen, wenn Entscheidungen getroffen werden. Wir haben während der letzten Regierungskonferenz in Amsterdam festgelegt, dass die Großen, die zwei Kommissare stellen, nur noch einen Kommissar bekommen. Bedingung dafür war, dass es zu einer Neugestaltung der Stimmenverhältnisse im Europäischen Rat, den die Ministerpräsidenten bilden, kommen muss.

Der Vorschlag einer Rotation von Kommissaren ist also vom Tisch?

Jean-Claude Juncker: Unser Vorschlag ist es, dass es auch nach der Erweiterung der Union auf bis zu 27 Mitglieder bei einem Kommissar pro Land bleiben wird. Erst später könnte ein gleichberechtigtes Rotationsverfahren einführt werden.

Für diese Vorstellung braucht es in Nizza Einstimmigkeit.

Jean-Claude Juncker: Wer sich dem Vorschlag widersetzen würde, trüge ein gerüttelt Maß Verantwortung am Scheitern des Gipfels.

Der Vorschlag - ein Kommissar pro Land - reduziert das Gewicht der Großen. Welchen Preis müssen die Kleinen dafür bezahlen?

Jean-Claude Juncker: Ich habe den Eindruck, dass die Großen die Frage der Zusammensetzung der Kommission relativ hoch hängen, damit die Kleinen in der Frage der Neugewichtung der Stimmen den Kopf einziehen. Man braucht uns aber nicht davon zu überzeugen, dass in einer so großen Europäischen Union, wie wir sie in zehn Jahren haben werden, auch die Stimmen der Staaten neu gewichtet werden müssen. Das relative Gewicht der großen Mitgliedsstaaten muss gestärkt werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass im Falle von Mehrheitsentscheidungen im Rat auch die demografische Mehrheit in der Union repräsentiert wird. Wir brauchen da keine wochenlangen Intensivkurse in demokratischer Demografie. Das verstehen wir auch so. Es ist eine Frage des gesunden Menschenverstandes, dass das spezifische Gewicht der Bundesrepublik Deutschland gestärkt werden muss.

Aber wie kann das geschehen?

Jean-Claude Juncker: Würden wir den Eindruck bekommen, dass die Großen das ganze Geschäft unter sich regeln wollen und die Kleinen nur noch Zaungäste sind, dann wehren wir uns dagegen. Wir brauchen eine Entwicklung, die demografische Legitimität und demokratische Effizienz miteinander kombiniert. Unser Vorschlag nennt sich "doppelte Mehrheit". Zuerst wird im Rat abgestimmt und dann wird überprüft, ob diese Mehrheit auch die demografische Mehrheit in der EU reflektiert. Das bedeutet, dass das volle Gewicht Deutschlands zum Tragen kommt. Hier sind viele kleine und das größte Mitgliedsland einer Meinung. Auch die Kommission ist der Auffassung, dass dieses System allen Anforderungen gerecht wird.

Gleichzeitig soll der Katalog der Themen erweitert werden, die mit Mehrheit entschieden werden können. Schafft das nicht die Gefahr einer Aufsplitterung der Union in viele mehr oder weniger kleine Gruppen?

Jean-Claude Juncker: Wir haben ja heute schon in vielen Bereichen Mehrheitsentscheidungen. Diejenigen, die in der Minderheit sind, müssen die von der Mehrheit gesetzte Norm in nationales Recht umsetzen. Wenn diese Regel jetzt ausgeweitet wird, müssen wir sehr darauf achten, dass wir bei den Entscheidungen möglichst viele an Bord haben. Auf Dauer wird es die Regierung eines Mitgliedsstaates zu Hause nämlich nicht verkraften, wenn sie laufend überstimmt wird. Ich bin sehr für Mehrheitsentscheidungen, aber auch für einen vernünftigen Umgang mit diesem Instrument.

Welche Entscheidungen wird man auch künftig nur einstimmig treffen können?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube nicht, dass der Katalog dieser Themen lang sein wird. Heute erfordern noch 70 Vertragsartikel Einstimmigkeit. Auch in Zukunft werden Änderungen des EU-Vertrages nur einstimmig getroffen werden. Ich fände es auch absonderlich, steuerpolitische Beschlüsse mit Mehrheit zu fassen, weil es kein einheitliches europäisches Steuerkonzept gibt. Fragen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik können in stärkerem Maße mit Mehrheit entschieden werden. Dies gilt auch für den Bereich der inneren Angelegenheiten, die Justiz, die Asyl- und die Visapolitik.

Es wird offensichtlich immer komplizierter, die EU arbeitsfähig zu halten. Welche Bestrebungen gibt es, die Entscheidungsprozesse für den Bürger in den Mitgliedsländern durchschaubarer zu machen?

Jean-Claude Juncker: Die EU ist ein kompliziertes Konstrukt. Wer denkt, man könnte einen komplizierten Kontinent einfach organisieren, der verschätzt sich. Auch in den Nationalstaaten können die Bürger nicht spontan alle Entscheidungsprozesse nachempfinden. Ich glaube, weniger als zehn Prozent der Menschen in Deutschland verstehen die Rentendebatte. Trotzdem kommt niemand auf die Idee, am Prozess der Entscheidungsfindung in Deutschland größere Veränderungen vorzunehmen. Ich glaube aber, dass wir uns in der EU um eine Straffung der Arbeit bemühen muss. Wir leiden unter einer Vielfalt der Fachräte. Es würde Sinn machen, wenn die Staaten ein hochrangiges Kabinettsmitglied zwei Tage in der Woche nach Brüssel schicken, um ein europäisches Kabinett zu bilden. Es müsste die Aufgaben übernehmen, die zurzeit der Allgemeine Rat der Außenminister wahrnimmt. Diese sind viel zu oft mit den internationalen Fragen beschäftigt und viel zu wenig mit den eigentlichen Sachthemen Europas.

Werden auf dem Gipfel in Nizza Termine genannt, wann die EU neue Mitglieder aufnimmt?

Jean-Claude Juncker: Es macht wenig Sinn, zur Beruhigung der Kandidaten jetzt individuelle Beitrittsdaten zu nennen. Es gilt das Prinzip, das vom Europäischen Rat in Luxemburg im Dezember 1997 beschlossen wurde. Alle Kandidaten werden aufgrund ihrer individuellen Fortschritte bei der Transformation beurteilt. Davon sollte man nicht abgehen.

Wenn kein Termin genannt wird, dann vielleicht die Zahl.

Jean-Claude Juncker: Die EU wird erst nach Ratifizierung des Nizza-Vertrages durch die einzelnen Parlamente erweiterungsfähig. Das wird zum 1. Januar 2003 der Fall sein. Das Land, das sich zu diesem Zeitpunkt als aufnahmefähig erweist, kann beitreten. Ab 1. Januar 2003 steht die Tür offen. Realistisch muss man davon ausgehen, dass es zu keinem Beitritt vor dem 1. Januar 2004 kommt.

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