Jean-Claude Juncker: Soziale Mindeststandards sind ja keine obszöne Idee

Frankfurter Rundschau: Von dem ftranzosischen Schriftsteller und studierten Juristen Honoré de Balzac stammt der Ausspruch: "Geld nimmt keine Rücksicht auf Personen, Geld hat keine Ohren, Geld hat kein Herz." Was verbinden Sie mit Geld?

Jean-Claude Juncker: Ich habe ein zwiespältiges Verhältnis zu Geld. Persönlich eigentlich überhaupt keines, in dem Sinne, dass ich der Vermehrung von Geld nichts abgewinnen kann. Beruflich hingegen habe ich zumindest mit öffentlichem Geld ständig zu tun, so dass ich dazu ein intimeres Verhältnis entwickelt habe als zu privatem Geld. Ansonsten stimmt mich Geld eher skeptisch. Denn wir leben in einer gesellschaftlichen Atmosphäre, in der Geld äußerlich eine viel zu dominante Rolle spielt, während das Immaterielle, die eigentlich wichtigen Werte im Leben, ungenügend beachtet werden. Insofern bin ich als Finanzminister eigentlich fast eine Fehlbesetzung, da ich mit seinem wesentlichen Handwerkszeug auch Negatives verbinde.

Und was verknüpfen Sie mit dem Euro?

Jean-Claude Juncker: Hoffnung. Ich habe mich vor Jahren einmal zu der Formulierung verstiegen, dass der Euro Friedenspolitik mit anderen Mitteln wäre. Dazu stehe ich noch heute. Durch die Euro-Einführung ist das gemeinsame europäische Projekt definitiv irreversibel geworden. Damit können auch Heranwachsende hoffen, dass der Frieden, wie wir ihn zumindest in der heutigen EU seit längerer Zeit erleben, auch in den nächsten Jahrzehnten Bestand hat.

Wie verändert der Euro die Europäische Union?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube, dass vor allem die bevorstehende physische Einführung des Euro die Stimmung in der EU positiv beeinflussen wird. Derzeit stehen viele Menschen - gerade auch in der Bundesrepublik Deutschland - der gemeinsamen Währung skeptisch bis ablehnend gegenüber. Wenn die Menschen sich erst einmal im täglichen Leben mit ihr vertraut gemacht haben und - etwa auf Reisen - die Vorteile erkennen, dann wird der Euro ein identitätsstiftendes Element in der europäischen Politik sein. Denn es ist ja auch das einzige, das jeden Bürger direkt betrifft. Insofern glaube ich, dass mit dem Euro das Interesse an Europa wachsen wird.

Inwieweit kann der Euro auch das Selbstbewusstsein der Europäer gegenüber anderen Ländern, etwa den USA, stärken?

Jean-Claude Juncker: Das kann er, aber ich möchte mich dabei auf keinen konkreten Zeitpunkt festlegen. Die Europäer haben im Unterschied zu den Amerikanern zwei Nachteile. Erstens verfügen sie über weniger Geduld. Es hat die Amerikaner nie gestört, dass sie nach dem Ersten Weltkrieg 30 Jahre brauchten, um dem britischen Pfund als Weltleitwährung den Rang abzulaufen. Zweitens sind den Amerikanern Selbstzweifel fremd. Bei den Europäern ist das Gegenteil der Fall. Dabei liegen die Vorteile des Euro auch mit Blick auf die Globalisierung auf der Hand. Die Europäer sind damit weniger erpressbar sowie wirtschafts- und geldpolitisch weniger abhängig. Die tragischen Ereignisse des 11. September haben überdies deutlich gemacht, welch hohen Grad an währungspolitischer Stabilität der Euro heute schon gewährleistet.

Der Euro bildet eine Etappe im europäischen Integrationsprozess. Welche Schritte müssen nun folgen?

Jean-Claude Juncker: Der Euro wird uns dazu zwingen, die politische Union Stück für Stück flächendeckend zu verwirklichen. Kurzfristig wird das kaum möglich sein, da doch in vielen Ländern der EU eine große Zurückhaltung zu spüren ist, wenn es um mehr Europa geht. Die ablehnende Haltung der Iren gegenüber dem Vertrag von Nizza ist dafür nur ein - wenn auch symptomatisches - Beispiel. Es wäre sicher wünschenswerter gewesen, wenn eine voll ausgestaltete politische Union vor der Einführung des Euro etabliert worden wäre - aber das ist nun mal nicht möglich gewesen.

Was ist darüber hinaus auf wirtschafts-, steuer- und sozialpolitischem Gebiet dringend erforderlich, um die Integration voranzutreiben?

Jean-Claude Juncker: Sie haben zu Recht diese drei Gebiete im Zusammenhang genannt. Europa wird immer staatlicher werden, ohne dass es jemals einen europäischen Staat geben wird. Aber wir brauchen in Europa mehr Gemeinsamkeiten. Dazu gehören die Koordinierung und eine teilweise Harmonisierung der Wirtschafts- und Steuerpolitiken, aber vor allem auch soziale Mindeststandards etwa im Arbeitsrecht.

Was heißt das konkret in der Steuerpolitik ?

Jean-Claude Juncker: Meiner Meinung nach sollten wir sowohl bei der Kapitalertrag- als auch bei der Unternehmensbesteuerung europäische Mindestsätze einführen. Den einzelnen Staaten könnten wir es dann überlassen, darüber hinaus nationale steuerpolitische Akzente setzen zu können. Nur auf diesem Wege kann dem unfairen Steuerwettbewerb in der EU ein Ende bereitet werden. Ich bin überzeugt, dass dies auch so kommt, aber es wird noch eine Weile dauern.

Die Begeisterung für Ihren Vorschlag einer EU-Steuer hält sich ja in den meisten anderen Mitgliedsländern in Grenzen.

Jean-Claude Juncker: Da wird einiges durcheinander gebracht. Es geht ja bei diesem Vorschlag nicht darum, die Steuerlast insgesamt zu erhöhen. Sondern darum, dass jeder EU-Bürger weiß, was ihn die Europäische Union kostet. Das führt zu einer größeren Transparenz auf der Einnahmeseite und zu mehr Effizienz auf der Ausgabenseite. Damit könnte endlich auch die Mär beseitigt werden, Europa sei furchtbar teuer. Die gesamte EU verbraucht derzeit nicht mehr als 1,1 Prozent des durchschnittlichen gemeinschaftlichen Bruttosozialprodukts. Mir ist keine billigere Friedensordnung bekannt.

Sie plädieren eindringlich für ein sozialeres Europa. Auf breite Unterstützung können Sie aber auch bei diesem Thema in der EU derzeit nicht zählen. Woran liegt das?

Jean-Claude Juncker: Es ist ja nicht so, dass die Europäische Union eine soziale Wüste wäre. Aber was wir bislang in der Sozialpolitik erreicht haben, ist absolut ungenügend. Wir haben es bislang versäumt, auf diesem Gebiet die nötigen Konsequenzen aus der Errichtung des Binnenmarktes und der Einführung der gemeinsamen Währung zu ziehen.

Was müsste geschehen?

Jean-Claude Juncker: Wir brauchen soziale Mindeststandards im Arbeitsrecht, etwa beim Kündigungsschutz. Hier stößt man allerdings an nationale Grenzen. Das ist umso erstaunlicher, als die Sozialisten doch in den vergangenen Jahren für sich beansprucht haben, in der EU den Ton anzugeben. Aber offenbar wollen sich auch in diesem Kreis manche Regierende, beispielsweise im Arbeitsrecht, einige Hintertürchen offen halten, um bei Bedarf Wettbewerbsnachteile ausgleichen zu können.

Mit dem Euro entfällt ein wichtiges Korrektiv auf diesem Gebiet.

Jean-Claude Juncker: Ja, früher wurde die nationale Währung abgewertet, um konkurrenzfähiger zu werden. Das geht nun nicht mehr. Mit der Einführung des Euro könnte sich somit der Druck in einem Land verstärken, stattdessen die arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen zu beschneiden. Deshalb brauchen wir Mindeststandards - das heißt nicht, dass dabei luxemburgische oder deutsche Maßstäbe angelegt werden sollten. Aber es müsste auf jeden Fall gewährleistet sein, dass formulierte Mindeststandards EU-weit verbindlich gelten und von keiner nationalen Regierung unterlaufen werden können.

In vielen Ländern der EU wird aber derzeit eher über Sozialabbau diskutiert. Die Arbeitgeber fordern eine größere Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und begründen dies mit dem wachsenden internationalen Wettbewerbsdruck. Was halten Sie von diesem Argument?

Jean-Claude Juncker: Bei allem Verständnis für notwendige Anpassungen an Marktgegebenheiten reagiere ich geradezu allergisch auf diesen grassierenden Slogan einer größeren Flexibilität. Auch Arbeitnehmer haben ein Recht auf planungssicherheit, wenn es um die wesentlichen Inhalte ihres Lebens geht. Es mag ja für einige Konzerne durchaus Sinn machen, sich anhand von Quartalsentscheidungen durchs Jahr zu bewegen. Aber jemand, der 3800 Mark im Monat verdient und zwei Kinder auf der Uni hat, der kann nicht im Quartal denken, sondern muss über die Planungssicherheit verfügen, prinzipiell auch in zwei Jahren noch eine Arbeit zu haben oder zur Not eine Arbeitslosenunterstützung zu erhalten. Die totalen Flexibilisierer reden am Leben vorbei. Deshalb müssen wir uns ihnen in den Weg stellen. Für soziale Mindeststandards einzutreten, ist ja keine obszöne Idee, sondern entspringt einfach dem gesunden Menschenverstand. Denn die Gefahr ist groß, dass sich weite Teile der Arbeitnehmerschaft von Europa abwenden. Wenn sie nämlich das Gefühl haben, dass bei der Gestaltung Europas ihre Interessen unzureichend berücksichtigt werden und die freien Kräfte des Marktes die Oberhand gewinnen. Man kann Europa nicht gegen den Willen der Mehrzahl seiner Bürger gestalten. Dann geht das Projekt schief.

Soziale Ängste spielen auch bei der geplanten Ost-Erweiterung der EU eine Rolle. Viele Menschen in der Gemeinschaft sehen dem Vorhaben mit gemischten Gefühlen entgegen. Welche Vorteile würden Sie ihnen entgegenhalten?

Jean-Claude Juncker: Ich würde sie bitten, in die Geschichtsbücher zu blicken statt Umfragen Glauben zu schenken. Die Ost-Erweiterung der EU ist der zentrale Beitrag für eine dauerhafte Friedenssicherung in Europa. Wer sich vorstellt, es könnte gelingen, dass wir Wohlstand und Frieden in unserem Teil Europas erhalten können, ohne Polen, Tschechien, Ungarn und andere Länder auf diesem Kontinent einzubeziehen, unterliegt einem fundamentalen Irrtum.

Wagen wir einen Blick in die Zukunft. Wie viele Mitglieder wird die EU aus Ihrer Sicht 2010 zählen?

Jean-Claude Juncker: Von den jetzigen Beitrittskandidaten alle die, die individuell betrachtet, die Beitrittskriterien erfüllen.

Werden diese Staaten dann auch alle den Euro eingeführt haben?

Jean-Claude Juncker: Das hängt letztlich von dem Willen und den ökonomischen Anstrengungen der jeweiligen Länder selbst ab. Die Maastrichter Beitrittskriterien zur Wirtschafts- und Währungsunion bleiben natürlich weiterhin verbindlich. EU-Mitgliedschaft und Zugehörigkeit zur Euro-Zone gehören ja bereits heute nicht zwingend zusammen.

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