Jean-Claude Juncker: Viele Spätgerufene

Die Woche: In weniger als drei Wochen kommt der Euro als anfassbares Geld. Sind Sie nervös?

Jean-Claude Juncker: Nein, ich bin zufrieden. Beim Abschluss des Maastrichter Vertrages 1992 konnte man die paar Leute an einer Hand abzahlen, auch in Deutschland, die wirklich an den Euro geglaubt haben. Und deshalb freut es mich, dass heute alle schon immer für den Euro gewesen sein wollen. Wenn die katholische Kirche so viele Spätberufene hätte wie die Währungsunion, müsste man neue Priesterseminare bauen.

Die Woche: Für die Mehrheit der Bevölkerung bedeutet der Euro eine enorme Umstellung. Fürchten Sie nicht neue Wut auf die EU?

Jean-Claude Juncker: Ich fürchte, es ist schwierig, die EU unbeliebter zu machen, als sie ist - zu Unrecht übrigens. Aber die Menschen werden sich nach anfänglichem Arger schnell an die neue Währung gewöhnen. Wie Helmut Schmidt glaube ich, dass die Umstellungsprobleme Pfingsten vergessen sind.

Die Woche: Ausgerechnet jetzt kommt ein Konjunktureinbruch dazu. Ist der Stabilitätspakt, der den Regierungen eine höhere Neuverschuldung verbietet, einzuhalten?

Jean-Claude Juncker: Es bleibt mir unbegreiflich, wieso wir es nicht schaffen, den Menschen zu erklären, dass der Euro uns in dieser internationalen Krise schützt. Ohne den Euro hätten wir schon während des Kosovo-Krieges, dann während der Finanzkrisen in Russland, Argentinien, Mexiko und jetzt während des Afghanistan-Krieges ein unwahrscheinliches Währungsdurcheinander in Europa gehabt mit erheblichen Verzerrungen der Wettbewerbssituation. Und der Stabilitätspakt ist so angelegt, dass wir auf Krisen reagieren können. Ich sehe keinen Grund, ihn in Frage zu stellen.

Die Woche: Die Sparverpflichtungen sind kein Konjunkturprogramm.

Jean-Claude Juncker: Der Stabilitätspakt ist eine Einladung zu vernünftiger Politik. Die kann nicht erst anfangen, wenn die Krise da ist. Ich kenne niemanden, der einem gesamteuropäischen Konjunkturprogramm das Wort reden würde. Das wäre auch falsch, richtig ist eine bessere Koordinierung der europäischen Wirtschaftspolitik.

Die Woche: EU-Währungskommissar Pedro Solbes meint, die Deutschen hatten ihre Hausaufgaben nicht gemacht.

Jean-Claude Juncker: Das würde ich so nicht behaupten. Man muss allerdings einräumen, dass die Bundesregierung in den vergangenen Jahren einen zielorientierten Konsolidierungskurs gefahren hat. Wir müssen jetzt in Europa mit den Strukturreformen weiterkommen, wobei wir uns erst einmal einigen müssten, was mit dem großen Wort überhaupt gemeint ist.

Die Woche: Was denn?

Jean-Claude Juncker: Mich stört, dass sich hinter dieser Vokabel entweder eine große Leere oder widersprüchliche Politik versteckt. Ich bin beispielsweise überhaupt nicht der Auffassung, dass wir jetzt die Arbeitsmärkte überflexibilisieren sollten. Ich bin der Meinung, dass auch Arbeitnehmer Planungssicherheit für sich und ihre Familien brauchen und sich nicht von einem sechsmonatigen Zeitvertrag zum nächsten hangeln sollten.

Die Woche: Geht Ihnen die Liberalisierung zu weit, so wie sie die EU-Kommission vorantreibt?

Jean-Claude Juncker: Es gibt einige Bereiche wie den Energiemarkt, wo vernünftige Liberalisierung begrüßenswert ist. Aber diese überzogenen Forderungen an die Arbeitsmarktpolitik, die praktisch in der Abschaffung des Kündigungsschutzes gipfeln, sind ein Programm zur Arbeitnehmer- und Verbraucherverunsicherung. Das ist das falsche Konjunktursignal.

Die Woche: Zwölf EU-Länder übernehmen den Euro, doch bei der Wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit läuft wenig.

Jean-Claude Juncker: Die zwölf Euro-Staaten verhalten sich noch zu sehr, als ob es die gemeinsame Währung nicht gäbe. Die Entscheidungen dürfen sich nicht an der nationalen Innenpolitik orientieren, sondern am abgestimmten gemeinsamen Interesse der Euro-Zone.

Die Woche: Die französische Regierung will eine Wirtschaftsregierung für den Euro-Raum.

Jean-Claude Juncker: Mich stört das Wort, wenn es aut Deutsch buchstabiert wird. Da gibt es immer markerschüttemde Schreie der deutschen Ordnungspolitiker. Aber wer die französische Sprache kennt, der weiß, dass mit "gouvernement économique" nicht das Ende der Marktwirtschaft eingeläutet wird. Aber wir müssen uns natürlich besser absprechen.

Die Woche: Das sagen alle. Warum funktioniert es dann nicht?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube, viele Regierungen verfangen sich in den Fallstricken der nationalen Politik.

Die Woche: Auch Luxemburg? Bei der Harmonisierung der Zinssteuer haben Sie blockiert.

Jean-Claude Juncker: Ich muss damit leben, dass das immer wieder falsch dargestellt wird. Im Grunde bin ich der einzige Finanzminister - jenseits der Rhetorik -, der noch für die Steuerharmonisierung eintritt. Ich war immer der Meinung, dass wir eine gemeinsame europäische Steuernorm brauchen, um die Zinserträge zu besteuern. 1997 haben wir in der EU unter Luxemburger Vorsitz beschlossen, dass Länder mit Bankgeheimnis eine Quellensteuer erheben und Länder ohne Bankgeheimnis den Finanzämtern der EU-Partner Informationen über die Anlagen ihrer Steuerbürger zukommen lassen. Der Beschluss wurde später unter britischem Kommando über den Haufen geworfen. Wären wir beim 97er Beschluss geblieben, würden heute schon Ausländer mit Konten in Luxemburg Kapitalertragsteuer zahlen. Das gilt auch für Deutschland, wo nicht dort ansässige EU-Bürger bis jetzt auch nicht besteuert werden. Weshalb Deutschland die größte Steueroase ist, mit der Luxemburg zu kämpfen hat.

Die Woche: Sie haben geschrieben, dass die Zustimmung zur Europäischen Union in dem Maße wächst, wie die EU die Weltpolitik mitgestaltet. Ist Außenpolitik wichtiger als Innenpolitik? 

Jean-Claude Juncker: Jeder Regierungschef lebt in der Illusion, dass er der Außenpolitik seine volle Aufmerksamkeit schenken müsste, weil sie so wichtig ist. Und jeder Regierungschef entdeckt, dass die Wähler an Außenpolitik weit weniger interessiert sind als an innenpolitischen Vorgängen. Ich glaube allerdings, dass eine stärkere internationale Präsenz der EU von den Bürgern als identitätsstiftend empfunden würde.

Die Woche: Braucht die EU eine gemeinsame Armee?

Jean-Claude Juncker: Zu den Enttäuschungen meines Lebens gehört die Einsicht, dass man eine Armee braucht, um sich politisch durchsetzen zu können. Ich bin mit dem Glauben gross geworden, dass man Frieden schaffen kann ohne Waffen. Da habe ich mich wohl von Wunschvorstellungen leiten lassen. Militäreinsätze sind nicht alles, aber es gibt Situationen im internationalen Leben, wo man auf militärische Aktionen nicht verzichten kann. Deshalb braucht auch die EU, wenn sie Außenpolitik machen will, einen bewaffneten Arm. Er stärkt die Glaubwürdigkeit der Diplomatie.

Die Woche: Auf dem EU-Gipfel in Laeken soll der Grundstein für eine europäische Verfassung gelegt werden. Kanzler Gerhard Schröder und Außenminister Joschka Fischer glauben, dass das für die Akzeptanz der EU in der Bevölkerung wichtig ist.

Jean-Claude Juncker: Richtig ist, dass wir eine europäische Verfassung brauchen. Aber man wird den Graben zwischen der Bevölkerung und den Regierenden nicht schließen, indem man der EU so eine Verfassung gibt. Viel wichtiger ist es, in der Europäischen Union inhaltlich die Politik zu machen, die mit den Sorgen der Menschen etwas zu tun hat: Sozialpolitik, Friedenspolitik, Kampf gegen Kriminalität, Entwicklungshilfe.

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