Jean-Claude Juncker: Die Währungsunion ist Friedenspolitik mit anderen Mitteln

Luxemburg lebt mit Belgien seit fast acht Jahrzehnten in einer Wirtschaftsund Währungsunion. Inwieweit lassen sich die dabei gesammelten Erfahrungen für die große europäische Währungsunion nutzen?

Jean-Claude Juncker: Bei der belgisch-luxemburgischen Währungsunion hat Belgien das Tempo vorgegeben. Luxemburg saß eigentlich immer im Seitenwagen. Hätten wir uns jedoch ohne Vorwarnung ausgeklinkt, wäre das belgische Motorrad aus dem Gleichgewicht geraten. In der europäischen Währungsunion herrscht strikte Gleichberechtigung der Mitglieder. Als nützlich dürfte sich ein Reflex erweisen, den wir in der belgisch-luxemburgischen Währungsunion gelernt haben. Man muß sich sehr intensiv für Innenleben, Leistungen und Fehlleistungen der Partner interessieren. In der Währungsunion darf nichts, was nicht national ist, uns fremd bleiben. Sonst könnte man manche Überraschung erleben. Eigentlich setzt der Euro einem bisherigen Tabu ein Ende. Es bestand darin, daß man vor der innenpolitischen Debatte des jeweils anderen haltgemacht hat. Diskrete Einmischung wird zur Pflicht.

Unter dem Eindruck der Wiedervereinigung Deutschlands wurde vor zehn Jahren in Maastricht über eine Ergänzung der Währungsunion durch Elemente einer Politischen Union diskutiert. Warum konnte sich der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl mit diesem Wunsch kaum durchsetzen?

Jean-Claude Juncker: Er konnte damals nicht allzu fordernd auftreten. Deutschland brauchte die damaligen elf Partnerländer bei der Wiedervereinigung. Hinzu kam, daß die Zeit für eine integrationsfreudigere Union nicht reif war. Hätte Bundeskanzler Kohl damals übermäßig aufs integrationspolitische Gaspedal gedrückt, wäre unweigerlich bei einigen Partnern der Eindruck entstanden, Deutschland beharre so sehr auf der Politischen Union, weil es die Währungsunion eigentlich nicht wolle. Dies wiederum hätte verheerende Auswirkungen auf die Wiedervereinigung und ihre Einbettung in das Gefühlsleben der europäischen Partner gehabt. Insofern hatte Kohl kaum Spielraum. Hätten wir damals die Politische Union ernsthaft angestrebt, dann hätte das, was wir beim Brüsseler Gipfeltreffen auf Schloß Lacken als Fragenkatalog zur Zukunft Europas formuliert haben, uns eigentlich schon damals in Maastricht in beantworteter Form vorliegen müssen.

Reicht der bisher erreichte Grad an wirtschaftlicher Konvergenz und Stabilitätsbewußtsein dafür aus, die Währungsunion auf Dauer abzusichern?

Jean-Claude Juncker: Manchmal habe ich den Eindruck, Konvergenzstreben und Stabilitätsbewußtsein seien auf dem Weg ins Euro-Land etwas ausgeprägter gewesen und die Kämpfer seien seit 1999 nun ein wenig müde geworden. Zuweilen scheint es, als hätten wir noch nicht gelernt, die Einheitswährung in kollektiver Solidarität zu begreifen. Dies hätte natürlich für die Stabilitätsphilosophie auf Dauer unvorhersehbare negative Folgen. Daher brauchen wir eine stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik.

Mit welchen Instrumenten?

Jean-Claude Juncker: Es ist nicht so, daß wir jetzt Instrumente erfinden müßten, die zu unseren Ambitionen passten. Nein, wir müssen die Ambitionen erfinden, die zu unseren Instrumenten passen. Eigentlich verfügen wir ja über das gesamte Instrumentarium: Die Koordinierung geschieht im gemeinsamen Interesse. Sie ist laut Vertrag noch eine Domäne der Nationalstaaten. In einer Entschließung auf dem Europäischen Rat in Luxemburg Ende 1997 haben wir festgelegt, wie die Koordinierung verstärkt werden sollte. Wir haben damals im Detail vereinbart, daß wir uns über nationale Haushalts-, Struktur- und Lohnpolitik unterhalten und abstimmen müssen.

Was heißt Koordinierung genau?

Jean-Claude Juncker: Koordinierung heißt nicht, daß wir überall im Euro-Raum das gleiche tun. Es heißt nur, daß wir alle gemeinsam für den anderen ergänzend wirken, damit das Ganze gelingen kann. Dies bedeutet die Abkehr vom ausschließlichen Blick durch die nationale Brille. Sinnvoll wäre es, bei der Regierungskonferenz des Jahres 2004 Elementen der Koordinierung der Wirtschaftspolitik einen Vertragsrahmen zu geben. Wir sollten uns vertraglich zu dem verpflichten, was wir in der Entschließung von 1997 zum Ausdruck gebracht haben. Das hielte ich auch für eine ordnungspolitisch etwas gefestigtere Position für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik als jenen manchmal zu losen Plausch in unverbindlicher Runde, den wir jetzt organisieren.

Bedarf es dazu einer institutionellen Untermauerung, etwa in Form einer "Wirtschaftsregierung"?

Jean-Claude Juncker: Selbst wenn die genannten Elemente Bestandteile des Vertrags wären, ginge ich nicht so weit, diesen Begriff zu verwenden. Er ist eine freie Übersetzung des französischen Begriffs "gouvernement économique". Das klingt im Deutschen viel gefährlicher, als es im Französischen gemeint ist. Ich bin aber schon der Meinung, daß man den technischen Elementen der Koordinierung institutionelle hinzufügen sollte. Die EU wird sich in Richtung Mittel- und Osteuropa ausdehnen. In einigen Jahren werden mehr als zwölf Staaten dem Euro-Raum angehören. Dann wird man um eine etwas stärkere institutionelle Untermauerung nicht umhinkommen.

Es wurde häufig gesagt, die Währungsunion werde der politischen Einigung neue Schubkraft bescheren. Stimmt diese Vision?

Jean-Claude Juncker: Die Währungsunion hat nur auf den ersten Blick mit Währung und mit Geld zu tun. Sie hat das selbstverständlich auch und muß deswegen handwerklich ordentlich begleitet werden. Auf den zweiten Blick ist der Euro jedoch ein eminent politisches Projekt. Für mich war die Währungsunion immer Friedenspolitik mit anderen Mitteln. Heute glaube ich jedoch, daß - langfristig betrachtet - die Währungsunion als Ferment, als Bindemittel für Europa schlechthin nicht ausreichen wird. Deshalb bedarf es weiterführender politischer Schritte. Mittelfristig heißt dies, daß wir die Außen- und Sicherheitspolitik - wie es im Fachjargon heißt - vergemeinschaften müssen. Sie muß europäischer werden und nach bewährten europäischen Regeln funktionieren.

Wie lange wird das dauern?

Jean-Claude Juncker: Ich sprach ja von einer mittelfristigen Perspektive. Kurzfristig kommt es darauf an, dort Antworten zu formulieren, wo dies die Menschen zu Recht erwarten. Dazu gehören vornehmlich die Rechts- und Innenpolitik, der Kampf gegen die internationale Kriminalität, der Aufbau einer handlungsfähigen europäischen Polizei, ein gemeinsames Vorgehen gegen den internationalen Terrorismus und ähnliche Bedrohungen. Hier müssen wir rasch weiterkommen. Wir müßten bei der Außenwirkung der Europäischen Union auch größten Wert auf eine europäische Antwort auf die negativen Aspekte der Globalisierung legen. Wir brauchen eine stärkere Öffnung unserer Märkte für die Produkte weniger wohlhabender Länder. Wir brauchen ein verbindlicheres Engagement bei der Entwicklungshilfe.

Welche Rolle kommt dem Euro in der auf dem jüngsten EU-Gipfeltreffen begonnenen Debatte über eine europäische Verfassung zu?

Jean-Claude Juncker: Es wäre wünschenswert, in eine europäische Verfassung hineinzuschreiben, daß der Euro die Währung der Europäer ist. Man sollte dabei Währungs- und Geldpolitik Verfassungsrang einräumen. Im übrigen ist es doch so, daß der Euro so etwas wie der Vater aller zukünftigen europäischen Gedanken ist. Man muß einfach zur Kenntnis nehmen, daß der Euro die Gesamtbefindlichkeit des Kontinents geändert hat und daß er dort, wo der Wille schwach ist, Druck auf die politisch Handelnden ausüben wird.

Wie kommt es, daß es drei Jahre nach offiziellem Beginn der Währungsunion noch große Sorgen in der Bevölkerung gibt?

Jean-Claude Juncker: Daß es vielerorts, vor allem in Deutschland, Vorbehalte gegen die neue Währung gibt, ist für mich eher ein Zeichen der Nachdenklichkeit. Wer, wie die Deutschen, mehrfach die Zerstörung des gesamten Volksvermögens machtlos miterleben mußte, entwickelt zu seiner Währung selbstverständlich ein Nationalgefühl im noblen Sinn des Wortes. Wir müssen erklären, worin die Vorteile des Euro liegen - nicht die Vorteile, die kommen werden, sondern jene, die man schon tagtäglich beobachten kann. Erstaunlicherweise tun wir das jetzt überhaupt nicht.

Was ist falsch gelaufen?

Jean-Claude Juncker: Wir haben uns darauf kapriziert, uns mit dem Außenwert des Euro thematisch auseinanderzusetzen. Im Vergleich zu der internen Stabilisierung, die durch den Euro herbeigeführt wurde, ist das, mit Verlaub gesagt, eine ziemlich irrelevante Frage. Als Finanzminister wurde ich immer wieder nach Brüssel beordert, um über Wechselkursanpassungen im Europäischen Währungssystem zu beraten. Zwischen 1979 und 1999 wurden die Paritäten insgesamt zwanzigmal angepaßt - und zwar fast immer dann, wenn es externe Schocks gab. Nehmen Sie dagegen den Kosovo-Krieg, den Erdölpreisschock des vergangenen Jahres, die Folgen der Anschläge des 11. September oder die jüngste Krise in Argentinien. Denkt denn wirklich jemand, daß wir uns ohne den Euro so gut aus der Affäre gezogen hätten, wie es uns jetzt gelungen ist?

Was wäre denn ohne die Währungsunion passiert?

Jean-Claude Juncker: Wir hätten ein völliges Währungschaos innerhalb der EU erlebt, wenn es die stabilisierende Wirkung des Euro nach innen nicht gegeben hätte. Auch deshalb müssen wir den Bürgern die schützende Wirkung erklären, die der Euro schon heute entfaltet. Wenn uns dies gelingt, werden wir auch die Menschen davon überzeugen können, daß es keine Alternative zwischen Euro und nationalstaatlichem Weg gibt. Ohne den Euro gäbe es heute höhere Inflations- und Arbeitslosenraten in Deutschland. Das kann man fast wissenschaftlich belegen.

Etwas unwissenschaftlicher gefragt: Wofür geben Sie Ihre letzten belgisch-luxemburgischen Franken aus?

Jean-Claude Juncker: Die habe ich vor der Abreise in die Alpen schon ausgegeben. Ich habe meinen Wagen für 2000 Franken aufgetankt und die Frankfurter Allgemeine Zeitung für 61 Franken gekauft.

Dernière mise à jour