Jean-Claude Juncker: Keine Vorfahrt für nationale Wirtschaftspolitik

DIE WELT: Herr Juncker, Sie haben vor fast zehn Jahren die Währungsunion aus der Taufe gehoben. Was empfinden Sie, wenn Sie jetzt den Euro in den Händen halten?

Jean-Claude Juncker: Ich bin nicht jemand, der zu Gefühlsduselei neigt. Mir war nicht zum Weinen zumute, als ich den ersten Euro in Händen hielt. Aber es war etwas sehr bewegendes. Der Euro ist für mich das sichtbarste Zeichen, dass zehn Jahre politischen Wirkens nicht umsonst waren. Die gemeinsame Währung entstand zunächst nur in unseren Köpfen, dann auf dem Papier. Auch in einem Politikerleben kommt es selten vor, dass man bei einem Großunterfangen von Anfang an dabei ist und dann noch zu Amtszeiten erlebt, dass es gelingt. Gleichzeitig ist es ein Erinnern, wer sich auf dem langen Weg zum Euro als hilfreich erwiesen hat, wer sich in meine Erinnerung unauslöschlich eingegraben hat. Und das sind nicht viele: Einer davon ist Helmut Kohl, ein anderer Theo Waigel.

DIE WELT: Wann wird der Euro die Herzen der Menschen in Europa erreicht haben?

Jean-Claude Juncker: In den ersten Wochen wird eine Mischung aus Begeisterung und Nostalgie die Gesamtbefindlichkeit prägen. Ab Pfingsten wird der Euro in seiner Normalität angenommen.

DIE WELT: Haben die Gründungsväter des Euro damit gerechnet, dass die Einführung pünktlich gelingt?

Jean-Claude Juncker: Ich habe nie daran gezweifelt, dass wir termingerecht zum 1. Januar 1999 die Währungsunion auf die Beine stellen werden. Ich hatte allerdings nie gedacht, dass ein Dutzend europäische Staaten im Jahr 2002 das europäische Geld einführen werden. Meine Prognose lautete: Sechs Länder.

DIE WELT: Das zeugt nicht gerade von Vertrauen in das Projekt.

Jean-Claude Juncker: Ich habe aus der noch jungen Geschichte des Euro gelernt, dass die Europäer dann erfolgreich sind, wenn sie mit einem klaren Zeitplan, klaren politischen Vorgaben und vor allem mit dem richtigen Maß an politischem Willen sich etwas vornehmen. Im Rest der Welt hat uns das doch niemand zugetraut. Viele Finanzminister und viele Regierungschefs außerhalb Europas haben an der Machbarkeit der Währungsunion gezweifelt. Aber die Europäer sind zu großen Leistungen fähig, wenn sie es wollen.

DIE WELT: In Deutschland betrachtete man diese europäische Großtat lange Zeit mit Unbehagen. Der Euro sei der Preis für die deutsche Einheit, lautet ein Vorwurf.

Jean-Claude Juncker: Ich hatte sehr viel Verständnis für die Zurückhaltung der Deutschen, als es um die neue Währung ging. Wer mehrmals in einem Jahrhundert hat erleben müssen, wie sein gesamtes Volksvermögen vernichtet wurde, entwickelt zu seiner Währung eine ganz andere Beziehung, als Völker, die diese Erfahrung nicht gemacht haben. Ich war bei vielen, nicht bei allen Gesprächen der Gründungsväter dabei. Aber der Satz, dass Deutschland seine Währung aufgeben müsse, damit Frankreich und andere der deutschen Einheit zustimmen, ist bei keinem Gespräch, an dem ich beteiligt war, so gefallen. Auch bei Einzelgesprächen mit französischen Entscheidungsträgern ist dies nicht so massiv formuliert worden, wie es jetzt meiner Meinung nach übertrieben nachgereicht wird.

DIE WELT: Also eine Art Gründungsmythos des Euro?

Jean-Claude Juncker: Man muss sich vor Augen halten, dass die ersten Überlegungen zu einer Währungsunion - der so genannte Werner-Bericht - aus den siebziger Jahren stammt. Und auch im Zuge des Binnenmarktes in den achtziger Jahren wurde immer wieder über eine Währungsunion diskutiert. Aber ich gebe gerne zu, dass die Umwälzungen auf unserem Kontinent 1989/90 und die deutsche Wiedervereinigung den Gesamtprozess beschleunigt hat. Ich hatte damals das Gefühl, die europäische Einigung benötigt ein Projekt, das die damals zwölf, später 15 Staaten der EU zusammenhält und sie nicht auseinanderdriften lässt. Man kann den Euro nicht auf ein deutsch-französisches Wiedervereinigungsthema reduzieren.

DIE WELT: Ein Geburtsfehler des Euro bleibt aber, dass er nicht, wie ursprünglich gedacht, die Krönung der europäischen Einigung ist, sondern der Startschuss. Stimmt die europäische Architektur ohne die politische Integration?

Jean-Claude Juncker: Als junger Student, als junger Minister - also zu einem Zeitpunkt als ich von den Menschen noch nichts begriffen hatte - war ich ein Anhänger der so genannten Krönungstheorie - erst die politische Einigung, dann die gemeinsame Währung. Als ich begann, mich in die Befindlichkeit anderer hineinzudenken und sie in Verbindung zu bringen mit den Notwendigkeiten auf unserem Kontinent, ist mir klar geworden, dass, wenn wir die politische Einigung wollen, wir zuerst die gemeinsame Währung schaffen müssen und nicht umgekehrt. Der Euro ist Friedenspolitik mit anderen Mitteln. Und der Euro wird einmal als der Vater aller europäischen Dinge angesehen werden. Der Euro zwingt dazu, uns existenziell mit den europäischen Fragen zu beschäftigen, sie zu kanalisieren.

DIE WELT: Elf Jahre liegen zwischen Geburtsstunde und Mündigkeit des Euro. Wo lagen in dieser kurzen Zeitspanne die größten Gefahren?

Jean-Claude Juncker: Ich wurde bei zwei Ereignissen hellwach, weil ich sie als große Gefahr eingestuft habe. Das erste war 1993 der Versuch Deutschlands und der Niederlande, das europäische Währungssystem zu verlassen, weil andere Länder, vor allem Frankreich und Italien, nicht Schritt halten konnten. Das wäre das Ende des Eurofahrplans gewesen. Aber das blieb aus. Das zweite Erlebnis war die Unfähigkeit Deutschlands und Frankreichs, sich im Dezember 1996 auf die Eckdaten des Euro-Stabilitätspaktes zu einigen. Der Ausweg war, dass wir nicht Europa-einheitliche Vorgaben formuliert haben, sondern uns auf nationale Stabilitätsprogramme und Disziplinierungsinstrumente geeinigt haben. Wenn wir das nicht geschafft hätten, wäre dies das Ende gewesen.

DIE WELT: Wann beginnt die nächste Diskussion über ein vorzeitiges Ausscheiden Duisenbergs?

Jean-Claude Juncker: Wim Duisenberg hat am 2. Mai 1998 erklärt, er werde sehr wahrscheinlich vor Ablaufen seiner achtjährigen Amtszeit zurücktreten. Für die Debatte gibt es erst dann einen Grund, wenn sich Herr Duisenberg auf einen Termin festlegt. Ich würde ihm raten, seinen Rücktritt nicht anzukündigen, bevor er ihn vollzogen hat.

DIE WELT: Wo lauern in naher Zukunft die Gefahren für den Euro?

Jean-Claude Juncker: Wir müssen endlich zu einer besser koordinierten Wirtschaftspolitik in der Eurozone kommen. Wir dürfen nicht weiterhin der nationalen wirtschaftspolitischen Agenda die Vorfahrt lassen. Und wir müssen unsere Politik stärker als bislang erklären. Wir haben es nur unzureichend geschafft, den Menschen zu erklären, dass der Außenwert des Euro im Verhältnis zur internen Stabilität eine nachrangige Betrachtungsweise ist. Der Außenwert des Euro sagt nichts aus über seinen internen Wert. Und wir haben es versäumt, den Bürgern klar zu machen, dass der Euro uns heute schon in Krisen schützt, dass wir schon jetzt von ihm profitieren. Nach dem Erdölschock, nach den diversen Finanzkrisen der vergangenen Jahre, nach den Attacken des 11. September hätten wir ein heilloses Durcheinander gehabt ohne den Euro. Diese externen Schocks hat der Euro optimal abgefedert.

DIE WELT: Versteckt sich hinter dem Begriff stärkere Koordinierung nicht am Ende die Gefahr einer Art europäischen Wirtschaftsregierung?

Jean-Claude Juncker: Zur Beruhigung aller deutschen Ordnungspolitiker kann ich sagen, dass niemand eine flächendeckende europäische Wirtschaftsregierung herbeisehnt. Es geht nur darum, die nationalen Politiken zum gemeinsamen Gewinn für die Eurozone besser abzustimmen, sowohl was Inhalte als auch was Termine angeht.

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