Jean-Claude Juncker: Eine Währung als Friedensmittel - Ein grosses Stück Europa

Europa ist ein wirklich kompliziertes Mixtum compositum aus sehr unterschiedlichen Kulturen, Landschaften, Religionen und religiösen Ansichten, ein Bad aus unterschiedlichen geschichtlichen Erfahrungen, aus sehr prononciert differenzierend sich entwickelnden literarischen und sprachlichen Hintergründen. Das, was man als Einheit in Vielfalt bezeichnet, zeichnet sich mehr durch Vielfalt als durch Einheit aus, und die einfachen Zeitgeister, die das Komplizierte und das Differenzierte einfach machen möchten, werden an diesem europäischen Reichtum scheitern.

Weil Europa so kompliziert ist, reden wir auch kompliziert über Europa. Dabei wäre es angebrachter, wir würden kompliziert über Europa denken und einfach über Europa reden, statt, wie viele dies tun, kompliziert über Europa zu reden und zu einfach über Europa zu denken. Und wer das Einfache und das Komplizierte miteinander in Verbindung bringt, einfaches Reden, kompliziertes Denken, kommt dem, was es in Europa zu leisten gilt, wesentlich näher als andere.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Europa eigentlich einfach, weil die Menschen, die aus den Konzentrationslagern, von den Frontabschnitten in ihre Heimatländer zurückkehrten, sehr wohl verstanden hatten, dass Ernst gemacht werden müsste mit dem Satz "Nie wieder Krieg in Europa!". Das haben die Europäer zwar nach jedem Krieg so gesagt und sich vor vielen Denkrnälern auch immer wieder die Hände gereicht, aber 1945 war das Jahr, in dem die Europäer das zum ersten Mal nicht nur sagten, sondern sich auch Instrumente in die Hand gaben, um dies dann auch Wirklichkeit werden zu lassen.

Wer wie mein Vater, und mit ihm Millionen andere, Soldat im Zweiten Weltkrieg war, verwundet aus diesem Krieg zurückkam, hatte eigentlich in seiner Biografie so Schlimmes und so Unbeschreibliches erlebt, dass man Verständnis dafür gehabt hätte, wenn diese Männer und diese Frauen nichts getan hätten und sich nur noch mit ihrer eigenen Vita und nicht mit der Vita des Kontinentes beschäftigt hätten. Haben sie aber nicht getan, und es stünde uns Jüngeren etwas besser zu Gesicht, wenn wir respektvoller auf die Lebensleistung dieser Kriegsgeneration zurückblicken würden. Dass es uns heute gut geht, hat wesentlich mit der Lebensleistung unserer Eltern und der Kriegsgeneration zu tun. Dass Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf die Beine kam, dass aus Europa etwas wurde, hat nicht nur mit weisen Staatsmännern aus dieser Zeit zu tun, sondern damit, dass viele Männer und Frauen ohne Namen das, was diese Staatsmänner an ihrer Stelle für sie formuliert haben, mitgetragen haben. Hätten sie sich verweigert, hätten Adenauer, Schuman, De Gasperi, Bech das nicht bewirken können, was sie, im wahrsten Sinne des Wortes, lostraten. Deshalb gehört unsere volle Anerkennung denen, die nicht nur unsere Vorgänger als Staatslenker waren, sondern auch unsere Vorgänger als Eltern waren. Die Zeiten sind besser geworden, weil der Krieg unsere Eltern belehrt hat, und wir sollten uns schämen, dass wir manchmal so tun, als ob wir es unwahrscheinlich schwerer und schwieriger hätten, als diese Generation es hatte. Es war die beste europäische Generation, die es auf unserem Kontinent je gegeben hat.

Man muss Europa heute neu begründen, und man muss Europa auch so begründen, dass die Begründung auch noch in zwanzig oder dreißig Jahren gültig sein wird. Meine große Sorge ist eigentlich, dass diejenigen, die im Jahre 2030, 2040 Europa regieren und unsere Gesellschaften animieren werden, zwischen unserer Zeit und ihrer Zeit nicht irrsinnig viel erlebt haben werden und dass deren historische Bezugspunkte sich völlig verschieben könnten. Mann und Frau in meiner Generation können mit den Namen Hitler und Stalin noch etwas anfangen, weil wir zumindest aus den Erinnerungen und Erfahrungen und Erzählungen unserer Eltern erfahren haben, was damals war. Für diejenigen, die im Jahre 2030 regieren werden, werden Hitler und Stalin so weit entfernt sein wie Wilhelm II. und Clemenceau heute für uns, man wird sie nur noch als entfernte historische Gestalten zur Kenntnis nehmen, falls überhaupt, und wird sich überhaupt nicht vorstellen können, für welches Tun und für welches Nichtstun beide und andere eigentlich standen. Und auch die Erinnerung an die "Heiligen" der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, an Adenauer, an Schuman, an andere, wird verblasst sein. Das heißt, dass man den europäischen Entwurf so neu begründen muss, dass er als Beweiskette reicht für die restliche Zeit des 21. Jahrhunderts und vor allem für seine zweite Hälfte. Und deshalb muss man, wie ich finde, obwohl das manchmal paternalistisch klingt, trotzdem auf die eigentlichen Beweggründe eingehen, die schon während des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar nach ihm Millionen Männer und Frauen in Europa auf die Idee brachten und auf den Weg brachten hin zu einem besser zusammengefügten Europa.

Zwischen Krieg und Frieden

Es ist nicht so, wie viele Eilige und Oberflächliche denken, dass die alten Dämonen die europäischen Landschaften auf immer und ewig verlassen hätten. Ich glaube, dass die dramatische Frage in Europa in diesem Jahrhundert, so wie in den vergangenen Jahrhunderten, die Frage nach Krieg und Frieden bleibt: die Versuchung, das Gesetz des Stärkeren anderen aufzuzwingen, die Versuchung, politische Konflikte mit militärischen Mitteln zu lösen statt durch geduldiges Zuhören und Zureden. Diese Versuchung wird immer eine europäische Versuchung bleiben. Und wer die Geschichte unseres Kontinentes kennt, wer sie zumindest geistig durchlitten hat, der wird wissen, dass diese Frage nie endgültig geklärt sein wird. Und deshalb bleibt die eigentliche Ursache, die uns zu überzeugten und überzeugenden Europäern machen sollte, die Frage, die ewige europäische Frage, nach Krieg und Frieden. Und alles, was geleistet werden muss, muss man im Lichte dieser fundamentalen kontinentalen Auseinandersetzung sehen. Und das muss man auch den Menschen, vor allem den jüngeren Menschen, heute immer wieder erklären. Und nichts, was geworden ist im Nachkriegseuropa, wäre so geworden, wie es geworden ist, wenn es nicht diese fundamentale Abkehr vom kriegerischen Denken und diese prinzipielle Hinwendung zur friedfertigen Politik und zu friedfertigem Umgang miteinander gegeben hätte.

Ich weiß aus meinen jungen Finanzministerjahren noch, dass wir in Luxemburg einmal die Mehrwertsteuer von zwölf auf fünfzehn Prozent erhöhen mussten, weil wir einen Kompromiss in Europa geschlossen hatten in Richtung Harmonisierung der Mehrwertsteuer. Das passierte übrigens unter meinem Vorsitz, im Juni 1991, weil es in Europa in Steuerfragen immer nur Fortschritte gibt, wenn Luxemburg den Vorsitz im Ministerrat der Europäischen Union hat. Und damals habe ich den Luxemburgern erklärt: "Ja, also jetzt müssen wir mit der Mehrwertsteuer von zwölf auf fünfzehn Prozent im Regelsatz hoch", und da hilft es nicht viel, wenn man dann erklärt, das wäre eine Frage von Krieg und Frieden. Das sehen die Menschen dann nicht. Trotzdem ist es so, dass auch im kleinsten Detail das Ganze nur verständlich wird, wenn man die eigentliche Begründung für europäische Integration immer vor Augen hat. Wer auf nationale Sonderwege verzichtet, weil das Europäische an unserem Tun uns dazu verleitet, Kompromisse zu schließen, uns auf gemeinsame Wege zu machen, der wird verstehen, dass man mit der Begründung "Krieg und Frieden" im politischen Alltagsgeschäft nicht weiterkommt. Aber manchmal sollte man die Menschen darauf aufmerksam machen, dass es eigentlich darum geht, die nobelste Aufgabe, die es in der Politik überhaupt gibt - nämlich Frieden zu schaffen -, wahrzunehmen, und dass dies das tragende Fundament der europäischen Integration ist.

Zu dieser europäischen Beweiskette, Krieg und Frieden, als erstem Element müssen sich selbstverständlich zusätzliche Elemente hinzugesellen. Es müsste Menschen eigentlich leicht vermittelbar sein, wieso klassische Nationalstaaten die Aufgaben, die die Gegenwart stellt, nicht im Alleingang bewältigen können. Wer heute denkt, Wirtschaftspolitik noch im Sinne der Nationalökonomie betreiben zu können, der irrt sich fundamental über die Elementarzusammenhänge in der globalisierten Welt. Es müsste eigentlich vermittelbar sein, dass auch in Wirtschaftsfragen ein Mehr an Europa und in Währungsfragen ein gleiches Maß an Europa auch für die kommenden Jahrzehnte unabdingbar von uns gefordert werden.

Geschichte und Gegenwart des Euro

Die Tatsache, dass wir jetzt in die allerletzte Stufe der europäischen Wirtschaftsund Währungsunion am 1. Januar 2002 eingetreten sind, zeigt doch, dass die Europäer zu unwahrscheinlichen Leistungen fähig sind, wenn sie politische Überzeugungen und einen klaren Zeitplan in ausreichendem Maße haben und wenn sie von einem politischen Willen beseelt sind, der nicht erlahmt, wenn die Schwierigkeiten zunehmen. Niemand hätte uns zugetraut, dass es uns gelingen würde - im Übrigen zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit -, aus zwölf Währungen eine Währung zu machen. Ich war ja dabei 1991, habe die Regierungskonferenz, die zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion geführt hat, im ersten Semester 1991 im Vorsitz bestritten, als die knallharten Gegensätze unter anderem zwischen deutscher und französischer Wirtschafts- und Finanzpolitik aufeinander prallten. Ich weiß noch um die Mühe, die wir hatten, das einigermaßen zu begradigen, ins richtige Lot zu kriegen. Das war ein großes Stück des Entgegenkommens, vor allem Frankreichs und Deutschlands, und weil ich der einzige Überlebende eigentlich der Maastrichter unterzeichnenden Vertragsparteien bin, höre ich natürlich auch mit Zärtlichkeit in den Ohren und im Herzen all denen zu, die sich jetzt mit der Glaubensstärke der Neu-Entdeckenden zu eifrigen Euro-Befürwortern mausern. Ich habe viele kennen gelernt, die heute in hohen Staatsämtern sind, nicht nur in Frankreich, die bei unseren ersten Gesprächen über den Euro sehr lau mit diesen schwächelnden politischen Themata umgingen. Und wäre ich Bischof, würde ich mir wünschen, dass die katholische Kirche so viele Spätberufene hätte wie der Euro, dann gäbe es keinen Priestermangel, müssten Seminare gebaut und nicht nur Zentralbanken zusammengelegt werden. Deshalb ist das ein großes Stück Europa, das wir geschaffen haben, und es ist eine gewaltige politische Leistung der Europäer, die sie sich selbst nicht zutrauten und diejenigen, die uns aus der Ferne beobachteten, uns auch nicht zutrauten. Ich erinnere mich an einen offiziellen Besuch bei Präsident Glinton im August 1995. Da waren Helmut Kohl, Jacques Delors, zwei, drei andere und ich, relativ isolierte Verfechter des Euro-Gedankens in Europa. Das hat die Amerikaner beeindruckt, dass wir eine politische Minderheit in Europa darstellten. Bevor die Euro-Bewegung sich der Ökumene zugewandt hat, war das ja das Steckenpferd einiger weniger. Und Clinton hat dann bemerkt: "Also mit der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, das wird wohl nicht so schnell gehen, wie ihr es euch gedacht habt", und der amerikanische Finanzminister Rubin hat amüsiert gefragt: "Ja wie ist denn das mit dieser europäischen Wirtschafts- und Währungsunion?" Und ich habe dann wie in der Fakultät vorgetragen, wie das alles gemacht wird. Der leichte Spott, der das Gesicht dieses Mannes zeichnete, hat sich während meines Vortrages eigentlich eher noch tiefer in sein Gesicht eingegraben, als dass er entschwunden wäre. Und er hat dann zum Schluss gesagt, er würde uns viel Freude wünschen und auch viel Erfolg, aber das Ganze würde ja nichts werden.

Zwei Jahre später, 1997, war ich wieder in Washington, als Finanzminister, und habe an den Jahrestagungen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds teilgenommen. Ich bekam damals in meinem Hotel einen Anruf des amerikanischen Finanzministers. Ob er mit mir über den Euro reden könne. Und an dem Tag hab ich mir gesagt: "Das wird etwas mit dem Euro, wenn der amerikanische Finanzminister sich sonntagmorgens früh um halb acht in sein Ministerium setzt und den luxemburgischen Finanzminister zum Frühstück bittet, dann ist das ein unabweisbares Signal dafür, dass aus dem Euro etwas werden wird." Und so war es dann auch.

Die Menschen haben übrigens diesen Euro, wie ich finde, auf eine sehr beeindruckende Art und Weise auch angenommen. Es ist in höchstem Maße erstaunlich, wie wenig Probleme es gab und wie groß der Zuspruch zu dieser neuen Währung ist. In Luxemburg haben am gestrigen Tag 98 Prozent der Handelstransaktionen und Einkäufe in Euro stattgefunden. Das finde ich sehr gut, das macht Freude, obwohl ich übereifrige Europapolitiker bitten würde, das auch nicht zu überwerten. Die Leute hatten eigentlich auch keine andere Wahl, als sich nun mit Euro einzudecken.

Aber wir sollten nun diese erkennbare Zustimmung in den öffentlichen Meinungen Europas nutzen, um darauf aufmerksam zu machen, dass es bei der Euro-Einführung und bei dem gesamten Euro-Projekt nicht vordringlich um ein wirtschaftliches oder währungspolitisches Projekt geht, sondern dass der Euro nur Teil eines breiteren europäischen Gesamtentwurfes ist. Um an den ersten Punkt meiner Beweiskette anzuknüpfen, Euro und Europäische Währungsunion sind Friedenspolitik mit anderen Mitteln. Victor Hugo hat in einem etwas entfernteren Jahrhundert schon gesagt, dass die Menschen so lange geteilt sein werden, wie ihre Währungen geteilt sind.

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