Jean-Claude Juncker: Auch Staatsbetriebe können elegant sein

FAZ: Herr Juncker, lassen Sie uns über das Schlußlicht Europas reden.

Jean-Claude Juncker: Ich bin nur Zaungast der deutschen Politik, zwitschere manchmal laut, werfe mich aber nicht wie ein brüllender Löwe in die Arena.

Wenn der Kanzler Brüssel attackiert, der EU eine Benachteiligung der deutschen Industrie vorwirft, tangiert das auch Sie. Wie soll sich Romano Prodi wappnen, wenn Schröder ihn am Montag weichklopfen will?

Jean-Claude Juncker: Beide täten gut daran, klarzustellen, daß die jeweilige Kritik Details betrifft und nicht ihr Verhältnis im ganzen. Im übrigen muß Kritik an der Arbeit der EU-Kommission erlaubt sein, ohne daß die das sofort als Angriff auf die Institution auffaßt. Die EU ist kein Gesangverein, wo Brüssel vorsingt und die Regierungschefs nur noch abnicken dürfen.

Schröder wehrt sich gegen so ziemlich alles, was aus Brüssel kommt.

Jean-Claude Juncker: Den Eindruck habe ich nicht. Außerdem gibt es auch andere Staats-und Regierungschefs, die sich regelmäßig beschweren. Das ist keine exklusiv deutsche Domäne.

Warum verstößt es gegen nationale Interessen, wenn Autos billiger werden - wie es die EU-Liberalisierung des Kfz-Handels vorsieht?

Jean-Claude Juncker: Diese Autorichtlinie stößt überall auf Ablehnung der betroffenen Branchen, nicht nur in Deutschland.

Daß die Autokonzerne klagen, ist verständlich. Aber warum schlägt sich die Politik auf deren Seite und nicht auf die der Verbraucher?

Jean-Claude Juncker: Wo die Politik steht, das wird sich erst nach Ende der Debatte herausstellen. Wir können nicht nur die anonymen Verbraucher im Blick haben, müssen auch die Beschäftigten im Autohandel hören. Es muß erlaubt sein, auch Partikularinteressen zu vertreten.

Wer die lauteste Gruppe bedient, der verliert leicht die Ordnungspolitik aus den Augen.

Jean-Claude Juncker: Mit Ihrer deutschen Ordnungspolitik ist das eh so eine Sache. Mir ist der Begriff ja verständlich. Aber versuchen Sie es mal bei Franzosen. Das Wort Ordnungspolitik ist in französischer Sprache und Philosophie nicht zu vermitteln, es kommt da nicht vor.

In der Praxis auch nicht unbedingt.

Jean-Claude Juncker: Moment. Auch in Deutschland ist die Ordnungspolitik in der Theorie stärker als in der Praxis.

Nicht anders auf Ebene der EU. Auf dem Lissabon-Gipfel vor zwei Jahren haben Sie verkündet, Amerika in Sachen Wettbewerbsfähigkeit zu überrunden. Nichts ist seither passiert bei der Liberalisierung von Post, Energie, Verkehr...

Jean-Claude Juncker: Wo steht denn geschrieben, daß Privatisierung der einzige Weg ist, um öffentliche Dienstleistungen zu modernisieren? Wieso kann man nicht akzeptieren, daß staatliche Betriebe sich am Markt genauso elegant bewegen können wie andere?

Daß der Staat nicht der effizienteste Unternehmer ist, wissen wir spätestens seit Zusammenbruch des Ostblocks.

Jean-Claude Juncker: Trotzdem muß ich nicht - vor Bewunderung erstarrend - dauernd die Leistungen der Privatwirtschaft beweihräuchern und die Fehlschläge des privaten Unternehmertums auch noch als letzten Beweis der Dynamik der Privatwirtschaft preisen. Ich kann diesen Deregulierungswahn, diesen plumpen Okonomie-Populismus kaum noch ertragen. Finden Sie es etwa normal, daß ein Zugreisender, der von London nach Sheffield fährt, erst die ganze Strecke ablaufen muß, um die Schrauben anzuziehen, bevor er sicher sein kann, daß er ungefährdet ankommt?

Jetzt klingen Sie wie der Old-Labour-Mann, als den Tony Blair Sie gern verspöttelt.

Jean-Claude Juncker: Ich werde immer older. Und Blair wird immer younger.

Und Sie sind - obwohl Christdemokrat - der letzte wahre Linke unter Europas Regierungschefs.

Jean-Claude Juncker: Und werde deshalb regelmäßig wiedergewählt, während die Sozialisten jede Wahl verlieren, zur Zeit.

Im Ernst: Wollen Sie bestreiten, daß mehr Freiheit und mehr Markt Wachstum und Beschäftigung fördern?

Jean-Claude Juncker: Ich behaupte ja nicht das Gegenteil. Ich bitte nur, die Feinheiten zu beachten. So wurden uns über Jahre die Niederlande als Vorbild hingestellt. Jetzt sind die Wachstumskräfte dort am stärksten eingebrochen, die Produktivität ist in einem tiefen Tal - zurückzuführen darauf, daß es wegen der praktizierten Lohnmäßigung überhaupt keine Anstrengungen zu höherer Produktivität gab. Die Löhne waren so niedrig, daß es diesen Pusch Richtung Produktivität nicht brauchte.

Das hieße: Je höher die Lohnsteigerungen, um so höher der Anreiz zu rationalisieren, um so besser für eine Volkswirtschaft.

Jean-Claude Juncker: Sie sind Meister des Umkehrschlusses. Das habe ich nicht gesagt. Ich bin nur dagegen, daß man denkt, flächendeckende Lohnmäßigung wäre ein Wundermittel zur Senkung der Arbeitslosigkeit.

Die 6,5-Prozent-Forderung der IG Metall ist gerechtfertigt?

Jean-Claude Juncker: Von außen betrachtet scheint mir die Forderung relativ hoch. Außerdem spüre ich eine steigende Aufmerksamkeit unter den EU-Finanzministern für den deutschen Arbeitskampf. Sie haben die Sorge, daß es hier zu überhöhten Abschlüssen kommen könnte, die nicht in die konjunkturelle Landschaft passen. EZB wie Finanzminister sind nachdrücklich der Auffassung, daß wir an einer Politik der Lohnmäßigung festhalten müssen. In meiner Lesart heißt das, die Löhne entwickeln sich parallel zur Produktivität.

Bei zwei Prozent Plus wäre dann Schluß.

Jean-Claude Juncker: Als Anhänger der Tarifautonomie habe ich da nichts reinzureden. Sage aber, daß es im Prinzip keine Tarifeinigung geben sollte, die über dem Produktivitätsfortschritt liegt.

Die hoben Löhne sind ein Grund für Europas mangelnde Wettbewerbsfälhigkeit, der starre Arbeitsmarkt ist ein anderer.

Jean-Claude Juncker: Das wird flink so dahergeredet. Daß etwa in Italien nicht alle Aspekte des Kündigungsschutzes anstellungsfördernd sind, streite ich nicht ab. Daß flächendeckende Tarifverträge, die keine Rücksicht nehmen auf die spezifische Lage einzelner Unternehmen, negative Folgen haben, streite ich auch nicht ab. Ich bin aber dagegen, wenn festangestellte Bürokraten und Publizisten quietschfidel darüber richten, wie viel Recht auf Sicherheit andere Menschen haben. Wenn Arbeitnehmer alle sechs Monate neue Arbeitsverträge schließen sollen, so entspricht das einer Wildwest-Ökonomie, die nicht zur Sozialen Marktwirtschaft paßt. Und wo habe ich den Beweis, daß es dann tatsächlich mehr Jobs gibt?

Tatsache ist, daß die Überregulierung die Schaffung von Stellen bremst. Das sagen alle Okonomen.

Jean-Claude Juncker: Genau - das sagen alle Ökonomen. Deshalb muß es noch lange nicht stimmen. Diese Mode, daß Wirtschaft nur erfolgreich sein kann, wenn Rechte und Löhne der Arbeitnehmer nach unten geschraubt werden, das glaube ich nicht. Bei aller Bewunderung der Dynamik in Amerika, Europa muß nicht alles und jedes nachbeten, was die Amerikaner vormachen.

Jetzt reden Sie schon wieder wie ein alter Sozialdemokrat.

Jean-Claude Juncker: Man muß nicht Sozialdemokrat sein, um derartige Reden zu halten.

Stimmt. Auch Herr Stoiber warnt vor amerikanischen "hire und fire" Zuständen.

Jean-Claude Juncker: Als Sozialabbaumaschine hätten er und seine Partei es nie geschafft, in Bayern regelmäßig mehr als die Hälfte der Wähler zu überzeugen.

Mit einem Modernisierungskurs sind keine Wahlen zu gewinnen?

Jean-Claude Juncker: Sie sind von ungebremster Lust zu falschen Umkehrschlüssen.

Anders gefragt: Erkennen Sie einen Unterschied in der Wirtschaftspolitik von Stoiber und Schröder?

Jean-Claude Juncker: Wirtschaftspolitik kann man erst vergleichen, wenn sie zur Anwendung gelangt.

Stoiber praktiziert doch schon, in Bayern.

Jean-Claude Juncker: Offensichtlich mit Erfolg. Man kann nicht bestreiten, daß im Süden vieles besser läuft als in anderen Regionen Deutschlands.

Ein Kanzler Stoiber wäre besser?

Jean-Claude Juncker: Ich habe da keine Präferenzen. Beide haben ein solides Politikangebot. Mit beiden habe ich ein gutes professionelles Verhältnis. Beide waren auch schon hier, als sie noch nicht mal Kandidat waren - Schröder damals kurz nachdem Scharping ihn als wirtschaftspolitischen Sprecher abgesetzt hatte. Da durfte er in keinem SPD-Ortsverein auftreten, aber hier in Luxemburg.

Zum Schluß: Was ist Ihr Tip für die Duisenherg-Nachfolge?

Jean-Claude Juncker: Ich tippe überhaupt nicht. Es gibt eine klare Vereinbarung: Ein Franzose wird Präsident der Europäischen Zentralbank.

Und dieser Franzose heißt Triebet?

Jean-Claude Juncker: Aller Voraussicht nach, aber nicht zwangsläufig. Trichet ist ein ausgezeichneter Notenbanker - aber sicher nicht der einzige Franzose, der das Zeug hat, eine Zentralbank zu leiten.

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