Jean-Claude Juncker: Grossregion bedeutet... das Ende der lokalen Schizophrenie

Seit Jahrzehnten ist in der Großregion von grenzüberschreitender Zusammenarbeit, vom Zusammenwachsen im Herzen Europas die Rede. Es ist auch viel geschehen. Aber eine Identität im Sinne von Heimat hat sich bei den meisten Menschen nicht eingestellt. Wie kann sich ein solches Gefühl entwickeln? Und wie definieren Sie sich selbst: als Europäer, als Bewohner einer Region oder als Luxemburger, als Saarländer, als Rheinland-Pfälzer?

Jean-Claude Juncker: Mich treibt das Thema Identifikation, das "eins sein" mit der Großregion, wenig um. Es gibt sogar Nationen, die keine innere Identität haben. Das sentimentale Fundament von Saar-Lor-Lux – ich mag den Namen nicht sehr – ist auf Kohle und Stahl gebaut. Eine Region von etwa elf Millionen Menschen, drei, vier Prozent der heutigen EU-Bevölkerung. Europa wird in Zukunft immer mehr zu einem Europa der Regionen. In 30, 40 Jahren wird es einen intensiven Wettbewerb der Regionen geben, weniger einen Wettbewerb geschlossener nationaler Räume. Nicht mehr die nationalen Souveränitäts-Nischen zählen dann, sondern die regionalen Kompetenz-Nischen. Wenn dieser Wettbewerb losbricht, wird jede Teilregion in Saar-Lor-Lux auf sich gestellt keine Chance haben. Die Identität entsteht durch Erfolgserlebnisse der Gesamtregion. Die findet im täglichen Leben der Menschen längst statt – oft allerdings unbemerkt.

Als was verstehen Sie sich persönlich?

Jean-Claude Juncker: Ich bin ein Luxemburger, der sein Land liebt, der sich in der Großregion wohl fühlt und der ohne Europa sein Land nicht lieben und sich in der Großregion nicht wohl fühlen könnte.

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Warum ist es mit Blick auf die Zukunft so wichtig, dass die Menschen eine Identität mit der Großregion entwickeln, die mit dem neuen Namen nun gefördert werden soll? Was haben die Bürger davon? Und welche Rolle werden Regionen in der EU mit 25 und mehr Mitgliedern spielen?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube, aus der europäischen Gesamt-Architektur ergibt sich, dass auf der EU-Zentralebene wesentliche Kompetenzen gebündelt werden: Außen-, Sicherheits- und Währungspolitik, Einwanderung, Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität. Die Nationalstaaten, die keine provisorischen Erfindungen der Geschichte sind, bleiben bestehen. Aber sie verlieren an Bedeutung. Denn die Regionen werden das tun, was sie besser können als die Zentralstaaten oder als die EU selber, natürlich auch grenzüberschreitend. Die "Nähe" zu den Menschen spielt da eine große Rolle. Die Teilelemente unserer Großregion sind, jedes für sich betrachtet, zu klein, um im Wettbewerb bestehen zu können. Die Großregion, wie wir sie heute kennen, wäre als "eigenständiger Staat" von der Größe und der Bevölkerungsdichte her Nummer sieben der derzeit 15 EU-Mitglieder. Allein daraus ergibt sich der objektive Zwang, zusammen zu arbeiten. Die Großregion muss den Beweis der Tat erbringen. Wenn das gelingt, identifizieren sich die Menschen auch mit ihr.

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Die unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen teilen die Großregion in Gewinner und Verlierer. Luxemburg ist, gemessen an seiner Wirtschaftskraft, reich, das Saarland hält sich im europäischen Vergleich der Regionen gut, während Trier und Lothringen nur im Mittelfeld liegen. Werden die Barrieren je fallen?

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Jean-Claude Juncker: Aus luxemburgischer Sicht stellt sich das viel frostiger dar. Wegen des hohen Pro-Kopf-Einkommens und der günstigen wirtschaftlichen und sozialen Lage des Landes sind wir nicht erpicht auf jede Investition. Sehr oft schicke ich Investoren in andere Regionen.

Außerhalb Luxemburgs?

Jean-Claude Juncker: Wenn wir gewollt hätten, dann wäre die Smart-Fabrik jetzt in Luxemburg...

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Jean-Claude Juncker: Uns ist es letztlich egal, wo eine massive Investition stattfindet, weil der Gesamtraum davon profitiert. Das verarbeitende zuliefernde Gewerbe aus der gesamten Großregion kann Nutzen ziehen aus einer Investition, die irgendwo in Saar-Lor-Lux untergebracht wird. Im Übrigen wird es nicht zur totalen Angleichung der Löhne kommen, muss es ja auch nicht. Der regionale Wettbewerb bleibt. Einmal wird der Eine die Nase vorn haben auf einem bestimmten Feld, ein anderes Mal ein Anderer auf einem anderen Feld.

Die Wettbewerbs-Situation in der Großregion mit dem "Krösus" Luxemburg wird sich also auf lange Sicht nicht verändern?

Jean-Claude Juncker: Es gibt in Luxemburg Standortvorteile eigener Art, so wie es in Teilregionen der Bundesrepublik Standortvorteile gibt. Dass Luxemburg als souveräner Nationalstaat beispielsweise im Bereich der betrieblichen Besteuerung eigene Wege gehen kann, halte ich für normal. Dass Luxemburg eigene Akzente in der Steuerpolitik setzt, sehe ich nicht als Nachteil für die Nachbarn in der Westpfalz, in Lothringen oder Wallonien, wo es strukturschwache Gebiete par excellence gibt. Ein großer Vorteil Luxemburgs ist, dass die Entscheidungswege wesentlich kürzer sind. Die größte Strukturreform, die es in Deutschland zu organisieren gelte, wäre, die Dauer der administrativen Prozesse auf das Normalmaß zurückzuführen. Berlin würde noch immer in Schutt und Asche liegen, wenn die Trümmerfrauen jede Genehmigung jedes Bezirksamtes eingesammelt hätten, die notwendig ist, um auch nur einen Stein bewegen zu dürfen. In Luxemburg geht das ganz schnell: Jemand stellt ein Projekt vor, wir prüfen und treffen eine Entscheidung. Ich bin nicht bereit, aus großregionaler Liebelei auf diesen Vorteil zu verzichten, wehre mich aber nicht dagegen, wenn andere dies täten. Das würde uns dazu bringen, schneller zu arbeiten.

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Inwiefern spielt die Einführung des Euro eine in der Großregion ausgleichende Rolle?

Jean-Claude Juncker: Der Euro hat sehr viel bewirkt. In der Großregion vor allem für die Luxemburger, weil die regelmäßig, ungefähr ein-, zweimal die Woche, nach Frankreich oder nach Deutschland zum Einkaufen fahren. Viele Menschen merken in unserer schnelllebigen Zeit gar nicht, welchen enormen Vorteil das gemeinsame Bargeld bringt. Das Preisgefüge und die Marktlage sind leichter zu durchschauen. Und auch die Löhne werden stärker verglichen. Ich erhalte seit der Euro-Einführung wesentlich mehr besorgte Arbeitnehmerpost aus Deutschland, Frankreich und Belgien. Jeder hat zur Kenntnis genommen, dass die Löhne in Luxemburg viel höher sind als in den Nachbarn-Regionen. Die einzigen, die das nicht merken, sind die Luxemburger.

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Jean-Claude Juncker: Die Handwerker im Großraum Trier machen 50 Prozent ihres Umsatzes in Luxemburg. Natürlich sagen die das nicht. Ein unwahrscheinlicher Gewinn, auch für die Betriebe, dass diese idiotischen Transaktionskosten zwischen belgisch-luxemburgischen Franc und deutscher Mark einfach weg sind. Wenn ich mir manchmal ansehe, was in den Tarifverhandlungen in Deutschland los ist, dann könnte man auch mal rechnen, was die Betriebe an Kosten eingespart haben durch europäische Politik und an Margen hinzu gewonnen haben, auch in der Lohnpolitik.

Die Konkurrenzsituation innerhalb der EU wird sich insgesamt verschärfen. Mit der Osterweiterung drängen hungrige Mäuler an die Brüsseler Fleischtöpfe. Die Hauptbatzen – Agrarsubventionen und Strukturfördermittel – werden neu verteilt. Was erwartet zum Beispiel die Bauern in der Eifel, wenn die Subventionen drastisch gekürzt werden?

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Jean-Claude Juncker: Wir werden auf Dauer nicht in Westeuropa und nicht in unserer Großregion zufrieden leben können, wenn Menschen auf demselben Kontinent andernorts nicht von der Sonne beschienen werden. Wenn wir nicht aufpassen, kann es im Rahmen der EU-Erweiterung in Ost- und Mitteleuropa allerdings zu erheblichen Verwerfungen kommen. Zum Beispiel im Speditionsgewerbe. In Luxemburg erleben wir derzeit die ganze Negativ-Palette. Ich bin der Auffassung, dass wir in dieser riesengroßen Euro-Zone, die wir in zehn, fünfzehn Jahren haben werden, soziale Mindestnormen festschreiben müssen. Europa ist kein Schmelztiegel, aber einen Mindestsockel brauchen wir sowohl im Sozialbereich, vornehmlich im Arbeitsrecht, als auch im steuerlichen Bereich. Da müssen sich alle bewegen. Für die Bauern in der Eifel, in Luxemburg und im Saarland wird sich bis 2007 nichts ändern. Auch ohne Erweiterung, damit das ganz klar ist. Ich war immer der Auffassung, dass wir eine Reform der Agrar-Finanzierung brauchen, weil die Leistungen, die den Nettozahlern wie Deutschland und Luxemburg abverlangt werden, in der bisherigen Form nicht mehr zumutbar sind.

Was muss sich konkret ändern?

Jean-Claude Juncker: Wir brauchen eine nationale Ko-Finanzierung der Agrarpolitik. Meine Vorstellung: Das Regelwerk, die Marktordnung und die Preise, werden künftig immer noch in Brüssel festgelegt – von den europäischen Agrarministern und vom Europäischen Parlament, weil man solche Fragen auf Dauer nicht im undemokratischen Raum lassen kann; die Finanzierung aber muss teilweise von den regionalen Haushalten aufgebracht werden. Dies wird im Endeffekt nicht zu einer Minderung der Einkünfte der Bauern führen. Aber zu einer weniger starken Belastung der durch Zahlungen an die EU stark beanspruchten nationalen Haushalte, was uns wiederum Freiräume gibt, das Agrareinkommen auf einem vertretbaren Niveau zu halten. Dass das Einkommen der Bauern nicht Schritt hält mit dem Einkommen anderer Berufsgruppen, wird auf Dauer nicht gut gehen. Da bin ich stockkonservativ. Wer nicht darauf achtet, das Gleichgewicht in der Gesellschaft auch dadurch herzustellen, dass Landwirtschaft existiert und floriert, der wird sich eines Tages sehr wundern über die Schieflagen, die in unserer Gesellschaft entstehen.

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Jean-Claude Juncker: Nach dieser Abwertung der italienischen Lira Anfang der Neunziger mussten die Käsefabriken in Luxemburg von drei Schichten auf eine halbe Schicht zurückfahren, weil die italienischen Produkte über Nacht viel billiger waren. Solche Währungsspielchen funktionieren im Euro-Zeitalter nicht mehr. Als einziger noch aktiver Unterzeichner des Maastrichter Vertrags, der seinerzeit als Schandvertrag bezeichnet worden ist, ärgert es mich, dass wir es überhaupt nicht schaffen, den Menschen klar zu machen, was der Euro gebracht hat. Nach dem Kosovo-Krieg, nach dem Ausbruch des Konflikts im Nahen Osten, nach dem Ölpreis-Anstieg, nach der asiatischen Finanzkrise – was wäre im europäischen Währungssystem wohl los gewesen, wenn wir den Euro nicht hätten!?

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Viele Menschen treibt die Sorge um, dass ihre Arbeitsplätze in Gefahr geraten könnten, weil mit der Ost-Erweiterung der EU die Konkurrenz aus Billiglohn-Ländern wächst?

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Jean-Claude Juncker: Ich teile viele Sorgen nicht, die in Deutschland geäußert werden bezüglich der Freizügigkeit der Arbeitnehmer. Als der Beitritt von Portugal und Spanien zur EU sich ankündigte, habe ich als junger Staatssekretär im Arbeitsministerium mit beiden Ländern eine Übergangszeit vereinbart: zehn Jahre. Die waren zerknirscht, haben aber zugestimmt. Nach fünf Jahren habe ich die restriktiven Bestimmungen aufgehoben. Es handelt sich ja eh nur um eine Erfindung der Bürokraten. Da sitzen Menschen in Brüssel, Berlin und Wien in ihren geheizten Büroräumen und denken über die Zukunft der Welt nach. Und denken: Wenn ich anderswo das Doppelte verdienen könnte wie in diesem miesen Büro, dann sollte ich sofort dahin gehen. Das gilt aber kaum für polnische Bauern – von den 1,5 Millionen polnischen Agrarbetrieben nehmen nur 400.000 am Agrarmarkt teil. Die anderen sind Selbstversorger. Da verlässt niemand Haus und Hof, sein Dorf, seine Freundin oder seinen Freund, um nach Deutschland zu gehen. Die Menschen lassen sich nicht von aufgeregten Regierungsbeamten vorschreiben, was sie tun oder lassen sollen. Solche Fantasien bestehen nur in Angstträumen mancher Menschen im Westen. Es gibt zum Beispiel in der tschechischen Republik Gebiete, wo massiver Arbeitskräftemangel besteht. Ich weiß nicht, warum die Vorstellung grassiert, dass sich die Osteuropäer jetzt völkerwanderungsartig in Bewegung setzen. Meinem Kabinett und dem Parlament werde ich vorschlagen, dass es in Luxemburg für Ost- und Mitteleuropäer keine Übergangsfristen gibt. Man sollte aufhören, den Menschen Angst zu machen.

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Jean-Claude Juncker: Ich bin sehr dafür, diese Frage zu thematisieren, damit nicht extreme politische Randgruppen die Chance wittern, ihr Süppchen zu kochen. Aber man sollte sich davor hüten, in Zwischentöne zu verfallen, als ob die Erweiterung eine Bedrohung wäre. Das ist sie definitiv nicht.

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Jean-Claude Juncker: Man muss auch sehen, dass wir dieser neuen Welt die Wirtschaftsräume öffnen. Es gibt einige Grundregularien, die von allen akzeptiert werden müssen. Es ist besser, das im Gleichklang mit der Europäischen Union zu regeln.

Thema Zuwanderung: Luxemburg braucht Arbeitskräfte.

Jean-Claude Juncker: Rund 40 Prozent der in Luxemburg beschäftigten Arbeitnehmer sind Grenzgänger aus der Großregion. Wir brauchen Arbeitskräfte aus dem Ausland, auch in Zukunft. Früher kamen viele aus Italien, aus Portugal und Spanien, aber das ist vorbei. Welche Ratschläge geben Sie denn als gute Nachbarn?

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Gibt es mittel- bis langfristig eine Idee zu einem Verbund der Großregionen, oder fühlt sich Saar-Lor-Lux im europäischen Ausschuss der Regionen gut vertreten?

Jean-Claude Juncker: Der Ausschuss der Regionen in Brüssel ist nicht die Instanz, in der das eigentliche Leben stattfindet. Ich glaube, dass wir einen Verbund der Regionen brauchen. Allerdings nicht institutionell. Saar-Lor-Lux braucht zum Beispiel Anknüpfungspunkte mit Nordrhein-Westfalen – einem unserer natürlichen regionalen Verbündeten, wie auch Flandern. Oder dem limburgischen Teil der Niederlande, dem Aachener Raum. Das sind natürliche Fortsetzungspunkte der Großregion. Wir brauchen keine neuen Institutionen, Abspecken wäre eher angesagt. Aber mit den natürlichen Verbündeten sollten wir zusammen arbeiten, um der Großregion ihre Dimension in Europa zu geben.

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Jean-Claude Juncker: Und ob wir dahin kommen müssen, ist noch nicht bewiesen.

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Jean-Claude Juncker: Für die Menschen der Großregion ist wichtig, dass wir etwas nicht verlieren, was wir heute haben. Nämlich, dass die regionalen Akteure auch ein Mitsprache- und Mitentscheidungsrecht in ihren jeweiligen Zentralstaaten haben. Für mich ist es immer wichtig gewesen, dass meine Ansprechpartner in Rheinland-Pfalz und im Saarland in der Bundespolitik eine Rolle spielen. Das war bei Vogel, bei Scharping so, das ist bei Kurt Beck so. Das war bei Lafontaine so, und jetzt bei Peter Müller. Dass es starke Persönlichkeiten im Großraum Saar-Lor-Lux gibt, ist von zentraler Bedeutung. Weil die ja Botschaften transportieren, die aus der Großregion kommen. Wer im CDU-Bundesvorstand sitzt, wer im SPDBundesvorstand sitzt, der bringt ein Gewicht auf die bundesrepublikanische Waage, das von zentraler Bedeutung für die Großregion ist.

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Jean-Claude Juncker: Großregion bedeutet de facto das Ende der lokalen Schizophrenie.

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