Jean-Claude Juncker: Erweiterung nicht an Haushalt binden

Die Welt: Die EU-Staats- und Regierungschefs wollen intensiv über Einwanderung diskutieren. Macht Europa die Grenzen dicht?

Jean-Claude Juncker: Wir werden in Sevilla klarstellen, dass es nicht darum geht, aus der EU eine Festung zu machen. Wir werden nicht alle Tore schließen für jedwede Einwanderung. Viele EU-Länder brauchen Einwanderung, aber wir müssen die Einwanderung arbeitsmarktdienlich organisieren. Zweitens muss deutlich werden, dass alle, die in der Welt aus religiösen, politischen, rassistischen oder philosophischen Gründen verfolgt werden, in Europa Zuflucht finden müssen. Die Politik der EU kann es nicht sein, die Genfer Konvention auszuhöhlen.

Die Welt: Was soll also in Sevilla konkret geschehen?

Jean-Claude Juncker: Wir wollen die illegale Einwanderung bekämpfen. Wir müssen kriminellen Schleusern das Handwerk legen. Und da sind die Möglichkeiten und die Mittel des Nationalstaates überfordert. Das geht nur gemeinsam.

Die Welt: Die Regierungen diskutieren Pläne, die Länder mit Sanktionen zu belegen, aus denen die illegalen Einwanderer stammen. Ist das der richtige Weg?

Jean-Claude Juncker: Die generell geäußerte Idee, die Ursprungsländer zu bestrafen, etwa durch Kürzung der Entwicklungshilfe, halte ich für sehr fragwürdig. Wenn Menschen aus Ländern flüchten, dann kann es nicht Aufgabe der EU sein, dafür zu sorgen, dass diese Menschen wie in einem Kerker eingesperrt bleiben. Anstatt Entwicklungsländern mit Sanktionen zu drohen, muss es Anliegen der EU sein, diesen Staaten zu helfen.

Die Welt: Vor Jahresfrist hat kaum ein führender EU-Politiker der Einwanderung eine solche Bedeutung beigemessen. Ist der plötzliche Antrieb eine Antwort auf Rechtspopulisten wie Le Pen oder Haider?

Jean-Claude Juncker: Wir haben vor mehr als zweieinhalb Jahren wichtige Schritte eingeleitet, doch sind daraus leider ungenügende politischen Handlungen geworden. Dass jetzt die europäische Politik auf das Aufkommen der extremen Rechten und der Rechtspopulisten reagiert, mag nicht ästhetisch, nicht unbedingt als Ausdruck gehobener Staatskunst erscheinen. Aber würde die EU jetzt nicht die Konsequenzen aus dem Aufkommen der Rechtsextremen und Rechtspopulisten ziehen, dann würde es schnell heißen, die EU-Regierungschefs hätten aus den jüngsten Vorfällen nichts gelernt. Ich habe nicht auf Le Pen, Fortuyn und Haider warten müssen, um zur Auffassung zu gelangen, dass in Sachen Zuwanderung und Einwanderung der europäische Schulterschluss gefragt ist.

Die Welt: Es geht in Sevilla auch um die Reform der europäischen Institutionen. Tony Blair macht sich für einen auf fünf Jahre gewählten EU-Präsidenten stark, der von den Staats- und Regierungschefs gekürt werden soll. Eine gute Idee?

Jean-Claude Juncker: Der Konvent darf sich nicht wundern, dass Vorschläge auch von solchen gemacht werden, die nicht dem Gremium angehören. Allerdings bin ich der Auffassung, dass alle Fragen, die direkt die EU-Präsidentschaft und den EU-Vorsitz betreffen, im Konvent zu behandeln sind und in der anschließenden Regierungskonferenz. Darum halte ich es für einen politischen Navigationsfehler, schon jetzt in Sevilla abschließend darüber beraten zu wollen.

Die Welt: Warum?

Jean-Claude Juncker: Der Idee eines aus dem Kreis früherer Regierungschefs von den EU-Regierungschefs ermittelten EU-Präsident mit diffusem Mandat stehe ich äußerst skeptisch gegenüber. Welche Stellung soll er innerhalb der EU einnehmen, wie ist sein Verhältnis zum EU-Kommissionspräsidenten? Der Vorschlag ist ein Schnellschuss. Er zeigt, dass man dort in Aktivismus verfällt, wo gründliches Nachdenken über europäische Architektur vonnöten wäre.

Die Welt: Welchen Gegenentwurf hat Luxemburg?

Jean-Claude Juncker: Wir wollen den Weg der Vergemeinschaftung, etwa in der Außen- und Sicherheitspolitik. Das heißt, die Kommission unterbreitet Vorschläge, die Regierungen entscheiden dann. Wir wollen keinen Rückmarsch in die reine Zusammenarbeit zwischen den Regierungen, keinen Rückschritt in die Intergouvernementalität. Genau diese Idee aber liegt dem Vorschlag von Blair, unterstützt von Spaniens Regierungschef Jose Maria Aznar, zu Grunde.

Die Welt: Droht ein Konflikt zwischen großen und kleinen Staaten?

Jean-Claude Juncker: Zu den Erklärungsmustern für den Erfolg der EU in den vergangenen Jahren gehört ohne jeden Zweifel das edle Miteinander von Groß und Klein. Wer denkt, Europa würde dadurch glücklicher und effizienter, dass die großen Länder den kleinen den Marsch blasen, der hat ein gestörtes europäisches Musikverständnis.

Die Welt: Für Zündstoff sorgen auch die Kapitel bei den Erweiterungsverhandlungen. Bundeskanzler Schröder hat Vorbehalte gegen Direktzahlungen an die Landwirte in den neuen Ländern angemeldet. Hat der Fahrplan für die Erweiterung noch Bestand?

Jean-Claude Juncker: Es ist keine spezifisch deutsche Position, darauf hinzuweisen, dass die Übertragung der direkten Agrarbeihilfen auf die Kandidatenländer zu erheblichen Finanzierungsschwierigkeiten führt. Ich habe stets vor einer Erweiterung im Galopp gewarnt. Dennoch: Die Fragen der Direktbeihilfen werden irgendwann zwischen Oktober und Dezember geklärt.

Die Welt: Die Vorbehalte gegen die Direktzahlungen stehen in Zusammenhang mit den deutschen Nettozahlungen. Der Kanzler erklärt, die Grenze der Belastbarkeit sei erreicht. Ist das wahr?

Jean-Claude Juncker: Als Nettozahler gelegentlich darauf aufmerksam zu machen, dass man nicht bis zum Gehtnichtmehr belastbar ist, dieser Hinweis ist nicht unerhört. Allerdings kann man die Frage der Erweiterung, der europäischen Wiedervereinigung, nicht nur an nationalen Haushaltseckdaten festmachen. Die Integration Mittel- und Osteuropas hat hohe Bedeutung für die Integration des gesamten europäischen Kontinents. Und: Zehn Stunden Krieg sind teurer als zehn Jahre Frieden.

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