Jean-Claude Juncker: Die Schweiz ist nicht der Irak

Sie haben Jüngst einen Preis des Europäischen Steuerzahlerbundes für Ihre Leistungen als Finanzminister erhalten. In der EU haben Sie allerdings einer Richtlinie zur Zinsbesteuerung zugestimmt, die manche Kommentatoren als einen Schritt hin zu einem Steuer-Kartell kritisieren. Sehen Sie keinen Widerspruch?

Jean-Claude Juncker: Den Preis habe ich, wenn ich die Laudatio richtig verstanden habe, wegen der vorzüglichen Führung der öffentlichen Finanzen Luxemburgs, die Haushaltsüberschüsse ermöglicht hat, erhalten. Ich habe ihn aber auch wegen meines Einsatzes in Europa für die Stabilität des Euro erhalten. Allerdings bin ich überrascht, dass ein Finanzminister überhaupt einen Preis der Steuerzahler bekommen kann. Dass dieser Preis im Widerspruch stehen soll zum geplanten EU-Vorhaben der Zinsbesteuerung, kann ich nicht erkennen. Ich habe bei der Preisverleihung ja auch deutlich gemacht, dass ich nicht der Auffassung bin, dass Finanzminister dazu da sind, die Besteuerung gegen Null gehen zu lassen.

In den Verhandlungen mit der Schweiz über die Besteuerung von Zinserträgen, die EU-Bürger in der Eidgenossenschaft erzielen, drängt die EU auf den Informationsaustausch. Die Schweiz will hingegen eine Quellensteuer erheben, wie es ursprünglich das Koexistenzmodell der EU als Möglichkeit vorgesehen hat. Warum gibt sich die EU nicht wenigstens bei Drittländern mit dieser Variante zufrieden?

Jean-Claude Juncker: Ich bin nicht bereit, jetzt abschliessend die Verhandlungsergebnisse, die es vor Ende des Jahres oder später mit der Schweiz geben wird, zu kommentieren. Luxemburg hat sich in der EU stets für das Koexistenzmodell eingesetzt, das 1997 während der luxemburgischen Präsidentschaft zur allgemeinen Beschlusslage der EU herangereift ist. Einige Mitgliedstaaten der EU konnten sich aber bei näherer Prüfung dem damals zustande gekommenen Konsens nicht anschliessen. Dies gilt vor allem für die britische Delegation. Als schliesslich vor zwei Jahren am EU-Gipfel von Feira der Kompromiss über den Informationsaustausch zustande kam, haben wir in einer Ratserklärung deutlich gemacht, dass Luxemburg einer endgültigen Lösung nur zustimmen könne, wenn es identische Regelungen mit Drittstaaten gebe. Deshalb finden diese Gespräche mit der Schweiz, den USA und einigen kleineren Staaten statt. Wir werden uns im Lichte des Gesamtergebnisses eine abschliessende Meinung bilden. Ich hielte die Rückkehr zum Koexistenzmodell für angemessen - obwohl das nicht meine primäre Verhandlungsposition ist -, weil ich der Meinung bin, dass wir mit dem Koexistenzmodell mit der Schweiz schon längst zu einer einvernehmlichen Lösung gekommen wären und die Zinsbesteuerung schon hätten in Kraft setzen können. Und die Beziehungen zur Schweiz hätten sich in den letzten Monaten angenehmer gestalten lassen.

Sie sprechen jetzt von identischen Regelungen der Drittstaaten. Im Beschluss von Feira ist aber die Rede von "gleich wertigen" Regelungen.

Jean-Claude Juncker: Ja, aber Luxemburg hat eben in der Ratserklärung zum Ausdruck gebracht, dass wir nur mit identischen Regelungen leben können. Osterreich sieht das übrigens auch so. Man kann mir "Feira" so oft um die Ohren schlagen, wie man will: Ich schlage jedem die luxemburgische Ratserklärung um die Ohren. Und die ist ja nicht eine antischweizerische Erklärung. Vielmehr war das ein in Feira geäusserter Hinweis auf eine Gesamtproblematik, die einige im Konsensrausch offenbar überhört haben.

Die Steuerflucht in Drittstaaten könnte man mit der Quellensteuer unterbinden. Geht es also darum, das Bankgeheimnis als einen Standortvorteil des Schweizer Finanzplatzes auszumerzen?

Jean-Claude Juncker: Ich bin nicht unbedingt bekannt dafür, dass ich in den letzten Monaten und Wochen die Schweiz rhetorisch und politisch schlecht behandelt hätte. Es ist nicht mein Lebensziel, dem Bankgeheimnis in der Schweiz den Garaus zu machen. Ich bin nur Teil der EU, und diese EU setzt auf Informationsaustausch, weil sie denkt, der internationale Trend bewege sich ohnehin in diese Richtung. Aber ich muss darauf drängen, dass die mit Luxemburg konkurrierenden Finanzplätze innerhalb und ausserhalb Europas identisch gelagerte Regelungen finden. Andernfalls wird es die in Europa angestrebte Regelung nicht geben. Nochmals: Wenn man beim Koexistenzmodell geblieben wäre, müssten wir jetzt über diese Themen nicht reden. Ich habe übrigens den Eindruck, dass Sie mir Fragen stellen, die sie besser dem britischen Schatzkanzler stellen würden.

EU-Kommissionspräsident Prodi hat im April gegenüber der "NZZ am Sonntag" erklärt, die EU werde keine Bankgeheimnisse mehr tolerieren. Sind Sie mit dieser Aussage einverstanden?

Jean-Claude Juncker: Wir haben in Feira beschlossen, uns in Richtung Informationsaustausch zu bewegen – begleitet vom luxemburgischen Hinweis, dass dies nur möglich sei, wenn sich Drittstaaten zur gleichen Regelung verpflichteten. Aus dem Beschluss geht auch klar hervor, dass neue Mitglieder der EU – falls es zu einer endgültigen Klärung in dieser Frage kommt – nicht mit einer Gesetzgebung beitreten können, in der das Bankgeheimnis eine prominente Rolle spielt.

Prodi hat zudem angedeutet, das Bankgeheimnis schütze nicht nur Steuerflüchtlinge, sondern ziehe auch schmutziges Geld zur Geldwäsche an. In ähnlicher Weise hat sich kürzlich der deutsche Finanzminister Eichel geäussert. Halten Sie solche Vorwürfe für berechtigt?

Jean-Claude Juncker: Ich halte diese Vorwürfe, auf die ich schon mehrmals reagiert habe, für nicht berechtigt. Es mag gute Gründe gegen das Bankgeheimnis geben. Einige bin ich auch bereit zu akzeptieren. Aber es gibt auch gute Gründe, weshalb in einigen – und nicht nur europäischen – Ländern ein Bankgeheimnis existiert. Das Bankgeheimnis schützt ja nicht die Banken, sondern die Bankkunden. Das Bankgeheimnis mit dem Terrorismus und der Geldwäscherei in einen Topf zu werfen, ist unzulässig. Die Finanzzentren mit einem Bankgeheimnis sind sich sehr wohl bewusst, dass sie sich in Sachen Geldwäsche mustergültig benehmen müssen. Das gilt für Luxemburg ebenso wie für die Schweiz. Im Übrigen verfügen Finanzplätze, die das Bankgeheimnis nicht kennen, über andere, durchaus wettbewerbsfähige Instrumente; sie sind aber meist nur in englischer Terminologie beschreibbar. Ich war am 6. März bei Präsident Bush, und er hat Luxemburg als vorbildlich bezeichnet, was die Zusammenarbeit mit den US-Behörden nach dem 11. September betrifft. Er hat dies nicht von europäischen Finanzzentren gesagt, die kein Bankgeheimnis haben. Im Übrigen zeigt ein aktuelles Ereignis, dass die Abwehrkräfte in Luxemburg und der Schweiz effizient reagieren: Wenn sogar ein Schweizer Botschafter in Luxemburg ins Fadenkreuz der Ermittlungsbehörden beider Länder gerät, muss ja wohl die Geldwäschereigesetzgebung hüben wie drüben funktionieren. Dieser Vorfall wird die Verhandlungsposition der Schweiz gegenüber der EU keineswegs schwächen, obschon zweifellos einige daran interessiert wären.

Die Rhetorik wird aber immer bedrohlicher. Es gab kürzlich den später gestrichenen Satz im Entwurf des Berichtes der Finanzminister an den Gipfel von Sevilla, wonach die Schweiz die bevorzugten Beziehungen zur EU gefährde, wenn sie nicht nachgebe. Sind Sanktionen zu befürchten?

Jean-Claude Juncker: Weil es aktenkundig ist, darf ich aus der Schule plaudern: Ich habe mich sehr gegen diesen Satz gewehrt. Meines Erachtens ist es inakzeptabel, während der Verhandlungen mit der Schweiz sich einer Rhetorik zu bedienen, die eigentlich in ihrer Schärfe nur gebraucht wird, wenn sich die EU mit dem Irak auseinandersetzt. Ich akzeptiere solche Worte nicht, weil ich der Auffassung bin, dass wir die Verhandlungen in einem guten Klima führen müssen, das dem freundschaftlichen Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz Rechnung trägt. Dieses sensible Thema darf nicht zum Schlachtfeld von Heissspornen werden.

Wo sehen Sie mögliche Kompromisse, und darf eine Einigung bis Ende 2002 erwartet werden?

Jean-Claude Juncker: Nach meiner politischen Lebenserfahrung führt man solche Verhandlungen nicht in der NZZ, sondern im Rat und in den Gesprächen mit der Schweiz. Eine Einigung bis Ende Jahr halte ich für wünschenswert.

Sprechen wir vom zweiten Grund für Ihren Steuerzahler-Preis, Ihrem Einsatz für die Stabilität des Euro: Kaum haben die EU-Mitgliedstaaten Ende Juni den Haushaltausgleich bis 2004 bestätigt, gibt es neuen Arger mit Portugal, Frankreich und Italien. Wie kann man verhindern, dass der Stabilitätspakt zusehends an Ansehen verliert? Muss er genauer definiert werden?

Jean-Claude Juncker: Als der Stabilitäts- und Wachstumspakt im Dezember 1996 in Dublin beschlossen wurde, hagelte es mancherorts Kritik. Er wurde quasi als Folterwerkzeug in den Händen sadistisch veranlagter Finanzminister beschrieben. Jetzt, wo es um seine Anwendung geht, wird er wieder schlecht geredet, weil wir uns über die Interpretationsspielräume, die er enthält, im Detail nicht in allen Fällen stets gleich bleibend verständigen können. Ich halte es aber für einen relativ normalen Vorgang, dass man sich angesichts der gegenwärtigen Wirtschaftslage über mögliche Spielräume unterhält. Hingegen halte ich es für einen Fehler, dass man es öffentlich tut, weil dies den Eindruck erweckt, wir würden mit der Stabilität einen leichtfertigen Umgang pflegen. Für jeden ist klar, dass das Stabilitätsgebot zur Geschäftsgrundlage der Euro-Einführung gehört. Wir haben den Bürgern erklärt, dass der Euro eine stabile Währung werde. Dies war nicht nur gedacht für die Wegstrecke vom Abschluss des Stabilitätspaktes bis zum Eintritt in die Euro-Wirklichkeit. Das Stabilitätsgebot gilt für immer.

Gleichwohl hat man den Eindruck, dass die "Peer Pressure" der Finanzminister zur Durchsetzung der Budgetdisziplin aller Mitgliedstaaten nicht immer ausreicht. Müssen die Kompetenzen der EU-Kommission bei der Haushalt-Überwachung gestärkt werden?

Jean-Claude Juncker: Man wird sich über einige Begleitinstrumente des Stabilitätspaktes unterhalten müssen. Es wirkt störend, dass wir uns in zwei Fällen – Portugal und Frankreich – plötzlich mit anderen Zahlen konfrontiert sehen, weil dort nach Wahlen neue Regierungen in der Verantwortung stehen. Hier muss die Kommission dafür sorgen, dass die Euro-Minister mit verlässlichem statistischem Material arbeiten können. Ich gehe davon aus, dass sich die Kommission die richtigen Instrumente in die Hand gibt, um dies tun zu können.

Und was es sonst an weiterführenden Bestimmungen im Rahmen des zu erhaltenden Stabilitätspaktes geben wird, wird man in den kommenden Monaten sehen. Ich habe eben gesagt, dass ich es nicht für gut halte, dass man öffentliche Erörterungen darüber anstellt, wie Teilelemente des Stabilitätspaktes besser und zielgerichteter zur Anwendung gebracht werden könnten. Deshalb möchte ich in Interviews nicht dazu beitragen, dass die Minister, die ich bei unserer letzten Sitzung gerügt habe, weil sie sich dauernd öffentlich über den Stabilitätspakt auslassen, mir das Gleiche vorwerfen können. Ich schweige mich also trotz sprudelnder Phantasie zu dem Thema aus.

Sind Sie ein Anhänger eines formellen Ministerrats der Finanzminister des Euro-Raums, der Beschlüsse fassen kann?

Jean-Claude Juncker: Ich bin der Auffassung, dass es einen Unterschied macht, ob ein EU-Mitgliedstaat der Euro-Zone angehört oder nicht. Und es scheint mir sinnvoll zu sein, wenn die Minister der Länder, die eine gemeinsame Währung haben, zu bestimmten wirtschafts-, Finanz-, Fiskal- und währungspolitischen Vorgängen Stellung nehmen und Beschlüsse herbeiführen können. Deshalb bin ich für einen formellen Euro-Finanzministerrat – unter der Massgabe allerdings, dass wir sehr ge nau festlegen, über welche Politikelemente die Euro-Minister getrennt von den übrigen Finanzministern beraten und entscheiden können. Es müssen nicht alle denkbaren Bereiche der Wirtschafts- und Finanzpolitik in den Topf der Zuständigkeiten des Euro-Rates kommen.

Würde ein solcher Rat einen permanenten oder länger dauernden Vorsitz brauchen, damit er auch gegen aussen mehr Profil hätte?

Jean-Claude Juncker: Meines Erachtens wäre es wünschenswert, wenn der Euro-Rat – als formelle Formation oder weiterhin als informelle Euro-Gruppe – einen länger dauernden Vorsitz hätte. Zwei, drei Jahre wären zweifellos angemessen, damit neben dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB) auch jemand die Mitgliedstaaten des Euro-Raumes besser erkennbar als heute vertreten kann. Eine solche Lösung wäre zudem gut mit Blick auf die notwendige Verstärkung der Koordination der Wirtschaftspolitik. Hier muss man der Kommission einige zusätzliche Möglichkeiten an die Hand geben. Ich bin freilich nicht der Auffassung, die Kommission soll allein das Initiativrecht behalten und der Ministerrat dürfe die von der Kommission vorgeschlagenen wirtschaftspolitischen Vorgaben nur einstimmig ablehnen. Dies wäre mit den verbleibenden nationalstaatlichen Zuständigkeiten nicht vereinbar. Wenn es aber gelingen würde, so etwas wie einen gemeinsamen Initiator aus Kommission und diesem länger amtierenden Euro-Ratsvorsitzenden zu schaffen, kämen wir in Sachen Koordination der Wirtschaftspolitik ein schönes Stück weiter. Es gibt unter den Finanzministern einen Grundkonsens, dass die Koordination der Wirtschaftspolitiken verbessert werden muss. Deshalb wird es bestimmt zu Änderungen kommen.

Zurück zur Schweiz: Die Bevölkerung steht einem EU-Beitritt skeptisch gegenüber. Es herrscht die Meinung vor, die kleineren Staaten würden von den grossen Ländern an die Wand gedrückt. Was können Sie als Premierminister des kleinsten Mitgliedstaates über das Verhältnis zwischen Gross und Klein in der EU sagen?

Jean-Claude Juncker: Obwohl ich Regierungschef eines Grossherzogtums bin, vergesse ich nie, dass Luxemburg der kleinste Mitgliedstaat ist. Ich sehe schon in einigen der grösseren Mitgliedstaaten von Zeit zu Zeit den Versuch, die etwas kleiner geratenen Partner in die Enge zu treiben oder sie manchmal geradezu plattzuwalzen. Dies ist aber kein ständiger Vorgang in der Geschichte der EU. Seit ich in Europa Politik auf Ministerebene mitgestalten darf, also seit nunmehr 20 Jahren, habe ich es noch nie erlebt, dass es einen fundamentalen Interessenkonflikt zwischen Gross und Klein gegeben hätte. Ich kann mich an keine Abstimmung erinnern, bei der auf der einen Seite des Tisches die vier Grossen zu mutigen Sprüngen in die europäische Zukunft angesetzt und auf der anderen Seite die vielen kleinen Wadenbeisser sie daran gehindert hätten. In der Regel war es so, dass ein Grosser, der – was selten vorkommt – von grossen Ambitionen getrieben war, froh war, dass auch Kleinere am gleichen Strick zogen, zumal dann der Grosse sich grösser wähnte, als er wirklich ist. Ich habe deshalb nicht diesen Minderwertigkeitskomplex, den man eigentlich bloss herbeiredet. Natürlich hängt sehr viel davon ab, wie kleine Staaten sich in der EU bewegen. Wenn es beispielsweise in die Zuständigkeit der EU fiele, sich regelmassig über den Aus- oder Abbau von Interkontinentalraketen auszusprechen, würde ich mich sicher nicht als Erster zu Wort melden. Diese Debatte liesse sich durchaus ohne luxemburgischen Beitrag gestalten. Was ich damit sagen will: Kleine sollen sich nicht grösser machen, als sie sind, und Grosse sollten wissen, dass es zur Souveränität des Grossen gehört, dass er diejenige des Kleinen anerkennt. Ich war dieses Jahr in Washington und Peking, und ich werde im Oktober in Moskau sein. Dort unterhalte ich mich mit den Staats- und Regierungschefs der drei Grossmächte und stelle immer wieder fest, dass sie die EU als Ganzes im Auge haben, weil es aus ihrem Blickwinkel keinen einzigen grossen Staat in der EU gibt. Reisen bildet!

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