Jean-Claude Juncker: Haider hat sich selbst demontiert

Profil: Herr Premierminister, Sie haben ihren Parteifreund Bundeskanzler Wolfgang Schüssel Ende 1999 eindringlich vor einer Regierungsbeteiligung der FPÖ gewarnt. Jetzt ist diese Koalition zerbrochen durch Streitigkeiten in der FPÖ. Fühlen Sie sich nachträglich bestätigt?

Jean-Claude Juncker: Es macht wenig Sinn, Gedankengänge, die man 1999 hatte, zu aktualisieren. Ich wusste, dass die Teilnahme der rechtspopulistischen FPÖ in Europa nicht reaktionslos hingenommen werden würde. Daher habe ich meinen Freund Wolfgang Schüssel gewarnt.

Er hat aus seiner Sicht der Dinge und angesichts der innerösterreichischen Abläufe die Entscheidung getroffen, die er getroffen hat, und damit hat sich die Sache.

Profil: Wie berechtigt waren diese Sanktionen, die ja auch von Ihnen mitgetragen wurden, damals wirklich?

Jean-Claude Juncker: Ich habe stets gesagt, die ganze Art und Weise, wie es zu den so genannten Sanktionen gekommen ist, war kein Vorbild an Staatskunst. Wenn überhaupt keine Reaktion der EU gekommen wäre, hätten das aber auch viele sehr sonderbar gefunden. Es ist Schüssel gelungen, aufgrund seines Geschickes seine Regierung und auch sein Land aus dieser Isolationslage herauszuführen, das war keine kleine Leistung.

Profil: Heute würde die EU nicht mehr reagieren, wenn Schüssel mit der FPÖ noch einmal eine Regierung bilden würde.

Jean-Claude Juncker: Das hängt im Wesentlichen von der Programmatik dieser Koalition ab. Die Bundesregierung unter Wolfgang Schüssel hat sich als europäischer Partner anstandslos bewährt.

Profil: Was halten Sie von dem Nulldefizit, das Finanzminister Karl-Heinz Grasser im Vorjahr erreicht hat? Soeben gab es vom österreichischen Rechnungshof Kritik, das Nulldefizit sei zum Großteil einnahmenseitig entstanden, nämlich durch Steuererhöhungen. Österreich hat jetzt eine der höchsten Steuerquoten in Europa.

Jean-Claude Juncker: Ihr Finanzminister hat sich dem notwendigen europäischen Zuschnitt wesentlich stärker angepasst als andere europäische Finanzminister. Für mich zählt das Resultat unter dem Strich.

Profil: Aber wenn die Steuerquote in einem Konjunkturtal zu hoch ist, dann wird dadurch der ohnehin schon schwache Konsum noch weiter gedrosselt.

Jean-Claude Juncker: Ich bezweifle nicht, dass sich ein überhöhter Steuerdruck konsummindernd auswirkt und somit die Konjunkturerholung verlangsamen kann. Aber das zu beurteilen ist Sache der Bundesregierung und des Parlaments in Wien.

Profil: Wie berechtigt ist die Kritik, erst die Regierungsbeteiligung der FPÖ habe den Rechtspopulismus salonfähig gemacht?

Jean-Claude Juncker: Rechtspopulistische Tendenzen müssen im nationalen Kontext gesehen werden. Ich glaube nicht, dass es eine österreichische Trendsetterrolle für rechtspopulistische Regierungsbeteiligungen in Europa gegeben hat. Und Jörg Haider hat sich inzwischen selbst demontiert.

Profil: Wolfgang Schüssel wollte Jörg Haider zähmen, die FPÖ schwächen, und jetzt will er sogar Nummer eins werden.

Jean-Claude Juncker: Am Abend des 24. November werden einige in Europa ihr voreilig gefasstes Urteil über Wolfgang Schüssel revidieren. Da bin ich mir sicher. Wolfgang Schüssel ist von seiner ganzen politischen Karriere her ein ausgewiesener Europa-Politiker. Ihn zu einem Wasserträger des europäischen Faschismus zu degradieren hat bei mir niemals Zustimmung gefunden.

Profil: Im Jahr 2000 wurde die ÖVP sogar aus der Europäischen Voikspartei für kurze Zeit ausgeschlossen.

Jean-Claude Juncker: Das hat Silvio Berlusconi betrieben. Dies zeigt, dass die jeweilige nationale Interessenlage und nicht ideologische Brücken für die Bewertung einer Regierungsbildung entscheidend ist.

Profil: Sie sind auch Finanzminister Luxemburgs. Derzeit sieht es so aus, dass einige EU-Finanzminister vom Stabilitätsziel wieder abrücken. Kommt anstelle des Nulldefizits wieder das Deficit Spending nach dem Modell von Keynes in Mode?

Jean-Claude Juncker: Die Grenze von drei Prozent an maximalem Haushaltsdefizit gemessen am Bruttosozialprodukt gilt nach wie vor. Derzeit weigert sich eigentlich nur Frankreich, das strukturelle Defizit um 0,5 Prozent pro Jahr zu begradigen.

Profil: Rechnen Sie mit Strafverfahren für Defizitsünder?

Jean-Claude Juncker: Ich sehe einige Mitgliedsländer von der akuten Gefahr bedroht, bei der Neuverschuldung 2002 über das Limit von drei Prozent hinauszukommen. Sollte dies passieren, werde ich keinen Moment zögern, die Kommission zu unterstützen, gegen diese Länder ein Defizitverfahren einzuleiten.

Profil: Im Zusammenhang mit der Erweiterung der EU warnen immer mehr Staaten vor den damit verbundenen Kosten. Wird es beim EU-Gipfel in Brüssel zum Streit in der Finanzfrage kommen?

Jean-Claude Juncker: Ich möchte darauf hinweisen, dass sich die Beitrittskosten in den ersten drei Jahren auf 40 Milliarden Euro belaufen. Luxemburg ist mit 0,7 Prozent seines Sozialprodukts der relativ größte Nettozahler in der EU. Deutschland bezahlt nach Brüssel insgesamt 0,4 Prozent. Wenn Luxemburg und Deutschland als relativ wohlhabende Länder mit diesen Beiträgen auf Dauer Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent sichern können, dann ist dies die billigste Friedenspolitik, die es in Europa je gab. Man sollte auch nicht vergessen, dass gerade Deutschland und auch Österreich evidente Nutznießer der Erweiterung sind, weil sie einen wesentlich intensiveren Zugang zu den neuen Märkten haben als alle anderen Mitglieder.

Profil: Zu den umstrittenen Benes-Dekreten: Politiker von ÖVP und FPÖ fordern von Tschechien eine Geste des Bedauerns.

Jean-Claude Juncker: Ich habe sehr viel Verständnis für das Leid des tschechischen Volkes in der Nazizeit. Alle Länder, die von Nazitruppen besetzt wurden und für fünf Jahre mit dem nationalen Atmen aufhören mussten, erinnern sich da sehr genau, auch die Luxemburger. Das war kein Ausflug deutscher Truppen, der etwas zu lange gedauert hat. Es handelte sich um das schrecklichste Verbrechen im 20. Jahrhundert. Zweitens habe ich auch viel Verständnis für die Vertriebenen, als 1945 unsägliches Leid über unschuldige Menschen hereingebrochen ist. Drittens, so notwendig historische Trauerarbeit ist, sollte man jetzt den Blick in die Zukunft richten. Viertens sollte man von finanziellen Forderungen Abstand nehmen. Fünftens würde ich der Tschechischen Republik raten, in einer auf das Immaterielle abstellenden politischen Erklärung Unrecht als Unrecht zu benennen. Sechstens rate ich meinen Freunden in Österreich, dies nicht zu einer Vorbedingung für die Erweiterung zu machen und keinen unnötigen Druck auf Prag auszuüben. Siebtens: Nach dem Beitritt der Tschechischen Republik in die EU rechne ich damit, dass in relativ kurzer Frist eine einvernehmliche Erklärung zustande kommen wird. Das ist mein 7-Punkte-Plan.

Profil: Österreich zählt heute zu den Bremsern der Erweiterung, besonders die FPÖ droht laufend mit Veto wegen Atomkraftwerken oder den Benes-Dekreten.

Jean-Claude Juncker: Dass es jetzt zu einer gewissen Erweiterungsmüdigkeit in Österreich, Deutschland und anderen EU-Ländern gekommen ist, habe ich schon 1995 vorausgesagt. Es ist klar, dass in den angrenzenden EU-Staaten Ängste vor der Erweiterung wachsen. Ich habe nichts gegen berechtigte Fragen, aber man sollte immer die historischen Zusammenhänge im Auge haben. Was das Atomkraftwerk Temelin betrifft, so ist doch klar, dass sich dieses Problem in einer Union mit dem Mitglied Tschechien leichter lösen lässt.

Profil: Frankreich hat in Cattenom ein AKW vor die Grenze Luxemburgs gebaut. Da konnte Luxemburg nicht mitreden.

Jean-Claude Juncker: Wir konnten die Entscheidung Frankreichs, dieses Kraftwerk in der Nähe unserer Grenze zu bauen, nicht beeinflussen, aber wir hatten und haben sehr wohl Einfluss auf die Sicherheitsbestimmungen und Frühwamsysteme.

Profil: Sie sind ein Befürworter einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik in der EU. Welche Rolle sehen Sie da für die Neutralität Österreichs?

Jean-Claude Juncker: Mittelfristig brauchen wir eine Vergemeinschaftung der Außen- und Sicherheitspolitik. Aber selbst bei einer totalen Vergemeinschaftung der EU-Außenpolitik werden neutrale Staaten wie Österreich nie in die Lage geraten, an militärischen Einsätzen teilnehmen zu müssen.

Profil: Luxemburg besitzt als kleines NATO-Land keine Abfangjäger, ist eine Arbeitsteilung in der EU vorstellbar, dass eben nicht jedes EU-Land seinen Luftraum selbst verteidigen muss?

Jean-Claude Juncker: Die Vergemeinschaftung der Sicherheitspolitik würde ermöglichen, dass man zu einer intelligenten Arbeitsteilung bei der europäischen Verteidigung kommt. Niemand würde derzeit von uns im Rahmen der NATO verlangen, Abfangjäger zu kaufen. Aber wir sind gerade am Kauf eines Kriegsschiffs mit Belgien und eines Großraum-Transportflugzeuges beteiligt. Was wir derzeit in der NATO an Verteilung der Lasten vorexerzieren, wird eines Tages auch in der EU praktiziert werden.

Profil: Werden kleinere Staaten in einer erweiterten EU unbedeutender?

Jean-Claude Juncker: Selbst Luxemburg wurde trotz aller Erweiterungsrunden nicht niedergewalzt. Für kleinere Staaten wird es immer lohnend bleiben, an einem europäischen Tisch Platz nehmen zu können, an dem über die europäischen Geschicke beraten wird. Wenn wir das nicht tun, dann werden die Großen in einem an das 19. Jahrhundert erinnernden Machtgehabe selbst entscheiden, was in ihrem Interesse liegt, und sich nicht eine Sekunde lang die Frage stellen, ob das auch im Interesse der kleinen und mittleren Staaten liegt. Daher gibt es für die Kleineren und Mittleren gesamthaft gesehen mehr Chancen als Risiken in einer erweiterten Union.

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