Europa ist nicht der Kampf "Grosse gegen Kleine"

Die Europäische Union würde bei einer neuerlichen ÖVP-FPÖ-Koalition ihren Fehler, die österreichische Regierung mit Sanktionen zu belegen, nicht wiederholen, meint Luxemburgs Premierminister Jean-Claude Juncker im Interview mit "Das Kleine Blatt".

Jean-Claude Juncker ist der Premierminister des kleinsten EU-Mitglieds Luxemburg. Dennoch ist der Christdemokrat einer der profiliertesten EU-Politiker. Als Vermittler zwischen extremen Positionen hat Juncker so manchen wichtigen Kompromiss in der EU ausgehandelt und mitgeholfen, die Entwicklung Europas voranzutreiben. An seinem 48. Geburtstag beantwortete er unsere Fragen zum Gipfel von Kopenhagen und anderen aktuellen europäischen Themen an seinem Amtssitz in Luxemburg-Stadt.

Das Kleine Blatt: Sie haben 1997 beim EU-Gipfel in Luxemburg über die Türkei gesagt, sie würden sich nicht mit Folterern an einen Tisch setzen. Haben sich seither ihre Ansichten über die Türkei geändert?

Jean-Claude Juncker: Ich glaube fast, dass sich die Ansichten der Türkei über sich selbst doch sehr geändert haben, weil die Türkei heute einräumt, dass es dort das Problem der Folter gibt. Dies hat der neue türkische Premierminister im Parlament erklärt – bzw., dass er das ändern möchte. Insofern habe ich auch heute nicht vor, obwohl das damals zu heftigsten türkischen Reaktionen geführt hat, mich für die damalige Äußerung, die heute von der Türkei selbst gemacht wird, zu entschuldigen. Ich habe aber sehr wohl zur Kenntnis genommen, dass es in den vergangenen Monaten in der Türkei erhebliche Reformschritte gegeben hat.

Wie beurteilen sie die ablehnende Haltung des Konventsvorsitzenden Giscard d'Estaing, der gesagt hat, die Türkei sei kein europäischer Staat?

Das sehe ich in der von Giscard geäußerten Form nicht. Wir sollten nicht den Eindruck erwecken, als handle es sich bei der Europäischen Union um die Gemeinschaft der christlichen Völker, in deren Mitte ein vornehmlich islamisch geprägtes Land keinen Platz hätte. Zu den christlichen Grundwerten gehören jene der Toleranz, des Offenseins für andere. Mich stört die Perspektive, dass ein islamisches Land Mitglied der EU würde, nicht, weil ich den Islam für eine große Weltreligion halte – eine Religion, die auf ähnlichen Werten fußt wie das Christentum. Wir sollten Abstand nehmen von kulturell-religiöser Ausgrenzung.

Im Klartext: Wenn alle Beitrittskriterien erfüllt sind, muss die Türkei also nicht fürchten, dennoch abgewiesen zu werden?

Wir haben im Dezember 1999 in Helsinki einen Grundsatzbeschluss getroffen, der lautet, dass die Türkei Mitglied der EU werden kann und ein Beitrittskandidat ist. Dieser Grundsatzbeschluss kann nicht rückgängig gemacht werden, er muss vollumfänglich respektiert werden – sowohl von der Europäischen Union als auch von der Türkei.

Bedauern sie heute, dass diese Grundsatzfrage damals so beantwortet worden ist?

Ich habe an diesem Beschluss mitgewirkt.

Man kann auch eigene Beschlüsse im Nachhinein bedauern.

Ja, aber wenn man einen Beschluss gefasst hat, sollte man sich nicht im Nachhinein als professioneller Bedenkensträger entpuppen.

Sie haben sich für die Einführung einer Europasteuer ausgesprochen und argumentiert, Europa sei eigentlich billig, -wenn man ausrechne, -was eine einzige Stunde Krieg kostet. Haben sie das einmal ausgerechnet?

Nein, ich weiß nicht, was eine Stunde Krieg in Europa kosten würde. Wenn auch nur drei Menschen dabei ihr Leben verlieren, wäre der Preis zu hoch.

Im Zuge der Erweiterung kommen mehrere kleine Staaten in die EU. Sehen sie das als einen Vorteil für die Kleinstaaten?

Ach, ich empfinde ja die innereuropäischen Angelegenheiten nicht so sehr als ein Kräftemessen zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten. Ich habe mich dieser fundamental falschen Logik stets zu entziehen versucht, denn man darf nicht, wenn man ein kleines Mitgliedsland ist, aus der Kleinheit seines Territoriums besondere Ansprüche ableiter Genauso wenig wie ich es den Großen in der Europäischen Union gestatten würde, aus der Größe ihrer Flächenstaatlichkeit besondere Rücksichtnahmen abzuleiten. Es gibt Mitgliedsstaaten mit großen europäischen Ambitionen, und sehr viele davon sind kleine Mitgliedsstaaten. Und es gibt große Mitgliedstaaten mit kleinen Ambitionen. Ich lasse mich lieber an Ambitionen als an Geographie und an Demographie messen.

In Österreich verhandelt die ÖVP wieder mit der FPÖ Jörg Haiders über eine Koalitionsbildung. Müßten die anderen EU-Mitglieder nicht konsequenterweise wieder empört aufschreien und mit Sanktionen drohen?

Ich hielt die von der EU einseitig verfügten Sanktionen gegen Österreich nicht für eine gehobene Form der Staatskunst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir jetzt, wenn wir diese Sanktionen noch einmal reproduzieren würden, den vor Jahren nicht sehr feinfühlig begangenen Irrtum aus der Welt schaffen könnten. Im Übrigen: Wenn man bei logischer Betrachtung der Verhältnisse verharren würde, wäre es ja dann wohl so, dass wenn SPÖ und Grüne sich weigern würden, mit der ÖVP zu koalieren, man die SPÖ und die Grünen mit Sanktionen belegen müßte. Insofeme glaube ich, dass die demnächst erfolgende Koalitionsbildung in Österreich zu keinerlei europäischen Reaktionen Anlass geben wird. (Schluss)

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