"Solange jeder zuerst an sich selbst denkt, ist die EU unfähig in Kriegsfragen"

DIE WELT: In der Irak-Frage präsentiert sich Europa zerrissen. Acht Regierungen haben einen Solidaritätsbrief an die USA geschrieben, die anderen stehen abseits. Ist das der Todesstoß für jede Art von gemeinsamer europäischer Außenpolitik?

Jean-Claude Juncker: Bei allem Verdruss über das Bekennerschreiben, die Interpretation ist übertrieben. Der Brief erweckt den Eindruck, die Unterschiede zwischen den europäischen Staaten seien riesengroß. Doch in den Kernpunkten gibt es vollkommene Übereinstimmung zwischen den Briefeschreibern und den Nichtunterzeichnern.

DIE WELT: Die Meinungsunterschiede waren aber doch vorher schon erkennbar durch die Festlegung Frankreichs und Deutschlands auf der einen, und der Spaniens und Großbritanniens auf der anderen Seite?

Juncker: Ich sehe nicht, dass Frankreich sich schon festgelegt hat. Ich halte die ganze Briefaktion für ungeschickt und überflüssig. Durch seine bloße Existenz hat der Brief den Eindruck einer tiefen Spaltung hinterlassen. Aber dem ist nicht so.

DIE WELT: Was sind EU-Vertragstexte wert, die ausdrücklich eine gemeinsame Haltung in der Außenpolitik festlegen?

Juncker: Es zeigt, dass es nicht reicht, kluge Ideen und hehre Absichten in Verträge zu schreiben. Dass es nicht reicht, uns neue Instrumente oder Institutionen einfallen zu lassen. Das alles muss sein. Aber die Grundfrage ist, ob die EU-Mitgliedstaaten prinzipiell bereit sind, auf nationale Wortmeldungen zu verzichten, bevor es eine gemeinsam festgelegte europäische Linie gibt. Das sind sie erkennbar nicht. Solange das so ist, können wir uns die klügsten Arrangements einfallen lassen - sie werden immer wieder unterlaufen.

DIE WELT: Muss die Debatte über eine gemeinsame Außenpolitik in der EU angesichts des Desasters in der Irak-Frage nicht vollkommen neu geführt werden?

Juncker: Es mangelt uns in der EU nicht an Debattenkultur. Das Problem ist doch, dass sich eine Regierung so festlegt, dass sie sich einer gemeinsamen Beschlussfassung prinzipiell verweigert. Wir haben es in den Wochen zuvor nicht geschafft, ein solches kollektives Fehlverhalten zu verhindern.

DIE WELT: Die Bundesregierung hat mit ihrer eindeutigen Festlegung also der EU-Außenpolitik einen Bärendienst erwiesen?

Juncker: Dort, wo die Europäer mit sich selbst beschäftigt sind, etwa bei der Folgenbewältigung des Balkan-Krieges, sind sie zu höchsten Leistungen fähig. Sobald aber die Problemstellung über Europa hinausgeht und andere wichtige Partner ins Spiel kommen und die Meinungsführerschaft beanspruchen, ist die europäische Solidität und Solidarität schnell brüchig. Allgemein gilt: Wir sollten uns als nationale Regierungen in keiner außenpolitischen Frage so apodiktisch festlegen, dass wir zu gemeinsamer Standortbestimmung unfähig sind. Solange jeder zuerst an sich selbst denkt, ist die EU unfähig in Kriegs- und Friedensfragen.

DIE WELT: Wie kann der Riss in der EU wieder gekittet werden?

Juncker: Wenn man diese Vorgänge nicht zur Sprache bringt, kann sich daraus ein strukturelles Gebrechen entwickeln. Wenn wir aber Mut vor dem Freund haben, und das Fehlverhalten ansprechen, kann das ein heilsamer Vorgang sein. Letztlich ist es doch auch für die USA von vitalem Interesse und besser, mit einer geschlossenen EU zu verhandeln, als sich in die Niederungen der einzelnen Regierungen herabzulassen.

DIE WELT: Was sind die hochfliegenden Pläne eines "europäischen Außenministers" wert, solange jede Regierung ihre Außenpolitik selbst festlegt, wie jetzt in der Irak-Frage?

Juncker: Ich rede mir seit Jahren den Mund fusselig, dass nicht die Institutionen die Antworten auf die drängenden Fragen sind, sondern der politische Wille. Solange das nicht in unseren Köpfen verankert ist, brauchen wir über ein institutionelles Make-up nicht zu reden. Was nützt es, ein gemeinsames Haus zu bauen, wenn einige vor dem Einzug erst noch über die Tapete und den Mahagoni-Boden diskutieren wollen, weil sie einen anderen Geschmack haben?

Mit Juncker sprach Andreas Middel

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