Jean-Claude Juncker: Europa ist ein Friedensangebot

KURIER: Herr Ministerpräsident, wie sehen Sie Österreich derzeit auf der europäischen Bühne?

JUNCKER: Länder, die sich Österreich nahe fühlen, wie Luxemburg, würden es gerne sehen, wenn es schnell zur Regierungsbildung kommt, die es Österreich einfacher machen würde, in Europa endgültige Festlegungen treffen zu können. Ein bisschen Eile scheint mir im österreichischen Europa-Interesse angebracht zu sein.

Die ÖVP verhandelt mit der FPÖ. Wird die EU reagieren, wenn es wieder eine schwarz-blaue Koalition gibt?

Es würde ein weit verbreitetes Unverständnis geben. Ich glaube aber nicht, dass dieses Unverständnis in einer kulminierten Form massiver Ablehnung endet.

Themenwechsel: Europa steht erneut vor einer Zerreißprobe, wenn über die 2. Irak-Resolution im Sicherheitsrat abgestimmt wird.

Die EU-Staaten sollen einer Resolution nur dann zustimmen, wenn sie sich im Geiste der Entschließung der 15 bewegt. Die EU darf sich inhaltlich nicht von dieser Erklärung verabschieden.

Wie verbindlich ist diese Erklärung? Sie wurde durch die Kritik von Staatspräsident Chirac und den Brief des britischen Premiers an die Kandidaten bereits gebrochen?

Die Entschließung ist belastbar, wenn sich die Mitglieder – trotz innenpolitischer Gründe oder aus Rücksicht auf privilegierte Partnerschaften – daran halten. In den Chirac-Aussagen sehe ich kein Indiz, dass diese Erklärung gebrochen wurde.

Was lernt Europa daraus?

Die zentrifugalen Kräfte in Europa können wir nur durch eine rasche europäische Meinungsbildung einfangen. Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik hat nur dann eine Chance, wenn wir uns nicht darauf versteifen, nationalen Interessen den Vorzug zu geben und damit zu den Machtspielen des 19. Jahrhunderts zurückzukehren. Vieles, was zuletzt im Dunstkreis der gemeinsamen Außenpolitik passiert ist, erinnert an die Reflexe des 19. als an die Notwendigkeiten des 21. Jahrhunderts.

Ist das europäische Projekt am Ende, wie viele meinen?

Ich lasse mich von dieser Endzeitstimmung nicht fangen, weil es Rückschläge bei der Formulierung gemeinsamer europäischer Positionen immer wieder gibt. Man muss lernen, dass europäische Politik das Bohren dicker intergouvernementaler Bretter ist. Man darf den Mut nicht verlieren. Wir sind institutionell und mental noch nicht in der Lage, aus den außenpolitischen Einsichten, die in den Hauptstädten entstehen, den Stoff für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu machen. Es steht außer Frage, dass dies kommen muss. Die USA kann auf Dauer nur mit einer EU als Partner leben, die sich unzweideutig festlegt.

Wie wirkt sich die Krise auf den EU-Konvent aus?

Institutionell hat das chaotische Durcheinander der letzten Wochen gezeigt, dass über die Außen- und Sicherheitspolitik zentral entschieden werden muss. Das ist mehr als das Zusammenlegen nationaler Positionen.

Was bleibt das Ziel der EU?

Für mich bleibt die Finalität der EU genau die, die auch das Zu-Stande-Kommen der Gemeinschaft bestimmt hat. Europa bleibt als Gesamtkonstruktion ein modellgebendes Friedensangebot an die Welt. Von diesem Ziel abzurücken, halte ich für sehr gefährlich. Die Meinungen zum Irak haben gezeigt, dass einige noch nicht verstanden haben, dass Europa diese Friedensbotschaft transportieren muss. Leider gibt es bei einigen Mitgliedern Allianzen, die die europäische Solidarität überlagern.

Das heißt, einige verstehen das Friedensprojekt nicht?

So weit würde ich nicht gehen wollen. Ich stelle aber fest, dass einige mehr Nachhilfe-Unterricht in europäischen Friedensangelegenheiten brauchen als andere. Gleichzeitig bemerke ich, dass diejenigen, die den größten Nachhilfebedarf haben, am wenigsten lernfähig sind.

Was erwarten Sie sich von der EU-Verfassung?

Ich habe erhebliche Zweifel, ob der Entwurf bis Juni fertig wird. Es könnte sein, dass er erst im Herbst vorliegt. Ich erwarte mir, dass wir in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zu Mehrheitsentscheidungen kommen. Ich glaube nicht, dass wir mit dem nationalen Gehabe, dass wir in der Irak-Krise unter Beweis gestellt haben, Europas Zukunft sichern und unsere Position in der Welt festigen. Diese Vorstellung habe ich wirklich nicht.

Dernière mise à jour