Interview avec le Premier ministre Jean-Claude Juncker sur des questions d'acualité européenne

SWR: Im "Wortwechsel" heute ein Mann der ein leidenschaftlicher Europäer ist. Seit Jahrzehnten ist er daran beteiligt die Europäische Union zu bauen, zunächst als Minister, dann als Ministerpräsident. Er ist stets der Jüngste in diesem Kreis gewesen und auch heute noch ist er in den Metropolen Europas einer der jüngsten Staats- und Regierungschefs, Jean-Claude Juncker.

Herr Juncker, selbst der Jüngste wird irgendwann mal ein kleines bisschen älter - man fasst es nicht - aber nächstes Jahr werden Sie 50 und nächstes Jahr wird die Europäische Union noch ein ganzes Stück größer werden, von 15 auf 25 wachsen und dann verlieren Sie einen Status den Sie über viele Jahre gehabt haben, nämlich das kleinste Land zu repräsentieren. Malta wird dann kleiner sein. Wie geht man damit um?

Jean-Claude Juncker: Ach, das stellt überhaupt kein Problem. Dass ich nächstes Jahr 50 werden soll beeindruckt mich eigentlich, aber wird keine Rolle spielen, führt zu keinerlei Veränderungen in meiner Art und Weise zu sein, zu denken, zu handeln. Dass Luxemburg nach dem maltesischen Beitritt nicht mehr das kleinste Land der Europäischen Union sein wird, wird auch nicht dazu führen, dass wir plötzlich denken wir wären ein großes Land, aber wir werden ein Großherzogtum bleiben.

SWR: Herr Juncker, was treibt Sie an seit so vielen Jahren sich für Europa zu engagieren?

Jean-Claude Juncker: Die Lebensgeschichte meines Vaters, zum großen Teil, der Soldat im zweiten Weltkrieg war, deutscher Soldat, weil junge Luxemburger zur deutschen Wehrmacht zwangseingezogen wurden, ein schreckliches Schicksal, in einer verhassten Uniform eigentlich gegen die antreten zu müssen, die damit beschäftigt waren Luxemburg wieder von der deutschen Besatzung zu befreien; die schrecklichen Erfahrungen auch unseres Kontinents im 20. Jahrhundert, zweimal Weltkrieg der vom europäischen Boden ausging; drittens eigentlich die Erkenntnis, dass der europäische Kontinent ein sehr komplizierter Kontinent ist, in dem Vieles in verdichteter Form auch viel Widersprüchliches aufeinander stößt und wenn man diesen Kontinent sich selbst überlässt, dann wird er nicht kanalisierbar sein, dann werden die alten Dämonen, die in unseren Landschaften schlafen wieder aktiv werden - die sind nicht tot - und ich habe das stets als Lebensaufgabe eigentlich, um mal für einen kurzen Moment hoffentlich nur pathetisch zu werden, begriffen, das Erbe der europäischen Gründerväter weiterzutragen, auch das Erbe der Kriegsgeneration, die sich ja nach 1945 vorgenommen hatten, nie wieder von europäischem Boden derart Schreckliches zuzulassen.

SWR: Lassen Sie uns noch ein bisschen über Ihren Vater sprechen, der Sie, glaube ich, sehr geprägt hat. Hat Ihr Vater oft mit Ihnen gesprochen über diese Erlebnis, die er während des zweiten Weltkrieges gehabt hat?

Jean-Claude Juncker: Ach nein, er war einfach da und seine Verwundungen und Verletzungen, die waren ja jeden Tag zu sehen, der hat da nicht groß berichtet über seine Kriegserlebnisse, über das Schreckliche was ihm und seinen Kameraden im Krieg widerfahren ist. Das braucht auch der Worte nicht viel. Man wusste das und vier seiner Brüder waren auch Soldaten im zweiten Weltkrieg und das zieht sich dann wie ein roter Faden durch den Anfang eines jungen Lebens. Man weiß einfach, dass da etwas war, von dem die, die es betraf immer gesagt haben, sie möchten das nie mehr erleben. Mein Vater hat mir mal erzählt, als er aus russischer Gefangenschaft nach Luxemburg zurückkam, dass er auf dem Bahnhof Luxemburg sich vorgenommen hätte sich im Leben nie mehr zu beklagen und er hat das auch nie gemacht.

SWR: Wie war denn das Verhältnis Ihres Vaters später zu den Deutschen, zu Deutschland?

Jean-Claude Juncker: Ach mein Vater ist von seinem Naturell her jemand der auf Ausgleich sehr bedacht ist und er hat uns Kinder nicht deutschfeindlich erzogen, sondern uns beigebracht, dass die jungen Deutschen, mit dem was ihm widerfahren ist, ursächlich nichts zu tun haben. Wir sind eigentlich deutschfreundlich erzogen worden, aber auch Frankreich-freundlich, was ja ein Gemengelage ergibt, das sich ergänzt und die luxemburgische Identität das ausmacht, das was wir sind.

SWR: Das ausgleichende Naturell haben Sie von ihm auch geerbt. Sie sind ja derjenige der in dem Kreis der Staats- und Regierungschefs immer wieder für Ausgleich sorgt?

Jean-Claude Juncker: Wenn es sein muss, muss es jemanden geben der sich selbst zurücknehmen kann, auch die Interessenlage seines Landes etwas tieferstapeln kann, um zu versuchen, vor allem die größeren Staaten der Europäischen Union sich aufeinander zubewegen zu lassen. Dies muss man sehr oft hinter den Kulissen tun. Telefone wurden auch zu dem Zweck erfunden, man darf dies nicht immer in einer grellen Öffentlichkeit tun und man darf nicht zum institutionellen Vermittler werden, sonst ist man es die längste Zeit gewesen.

SWR: Die Staats- und Regierungschefs haben sich kürzlich in Griechenland getroffen, einer dieser Mammutgipfel. Haben Sie sich von diesem Gipfel eigentlich schon erholt? Ich meine das jetzt weniger körperlich als viel mehr inhaltlich.

Jean-Claude Juncker: Also wir haben, was die Frage Europäischer Konvent, europäische Verfassung und all dies anbelangt, nicht die Substanz besprochen und einige von uns, ich auch, haben bemängelt, was es zu bemängeln gibt und gelobt, was es zu loben gibt. Es gibt mehr, wozu man den Konvent beglückwünschen muss als Dinge für die man ihn kritisieren muss, aber im institutionellen Bereich, in der Architektur des Zusammenwirkens der verschiedenen europäischen Institutionen besteht Klärungsbedarf und Nachbesserungsbedarf. Die Substanz wurde nicht so besprochen, dass man sich von dem Tiefgang der Gedankenführung erholen müsste.

SWR: Das ist mitunter ja alles sehr sehr kompliziert, Europa. Ich glaube viele Zuschauer können das, was im einzelnen passiert gar nicht recht begreifen. Ich gebe zu, selbst uns, die das ja professionell beobachten, fällt das auch manchmal schwer.

Jean-Claude Juncker: Dann geht es Ihnen wie mir.

SWR: Sie sprachen von der "Dunkelkammer". Was ist denn da so schwer zu begreifen?

Jean-Claude Juncker: Also was dieser Konvent geleistet hat und was die Staats- und Regierungschefs und die Außenminister auch werden leisten müssen, ist dass wir uns prinzipiell darauf verständigt haben, dass Europa eine Verfassung kriegt, dass wir uns darauf verständigt haben, dass die Charta der Grundrechte in diesen Verfassungsvertrag eingeschrieben wird, dass wir in mehr Bereichen als bisher mit Mehrheit entscheiden können anstatt mit Einstimmigkeit, dass wir einen europäischen Außenminister kriegen. Dies sind alles Dinge, die - ich sag das mal ein bisschen salopp - schon längst da sein müssten. Und dass wir das jetzt hinkriegen ist wichtig. Aber in der Dunkelkammer befinden wir uns wenn wir das institutionelle Haus betreten, die Art und Weise wie der Ministerrat in gesetzesgeberischer Zusammenwirkung mit dem europäischen Parlament funktionieren soll. Bisher hatten wir eine einfache Regel. Alle sechs Monate hat ein anderes Land den Gesamtvorsitz in der Europäischen Union geführt. Man denkt jetzt mit 25, 27 und übermorgen über 30 wäre dies nicht mehr zu leisten. Das ist auch wahrscheinlich nicht mehr zu leisten. Aber welches System wir dem Ganzen jetzt überstülpen, das kann man im Konvententwurf nicht erkennen, weil der Europäische Rat dies erst später festlegen wird. Wir kriegen jetzt einen Präsidenten, einen gewählten Präsidenten des Europäischen Rates, also der Staats- und Regierungschefs, der also weder in einer eigenen Regierung noch mit anderen Regierungschefs zusammen über Durchgreifvermögen verfügt. Er ist jemand der von außen kommt.

SWR: Wäre das etwas, was Sie interessieren würde?

Jean-Claude Juncker: Nein, das würde mich nicht interessieren von außen kommend Präsident des Europäischen Rates zu werden, weil man über keinerlei Instrumente verfügt, um sich Herr im Hause zu machen. Wir wollten im übrigen auch für Luxemburg und viele andere nicht jemanden der Herr im Hause wäre und der den Kommissionspräsidenten eigentlich vor die Tür setzen könnte. Der muss Spielmacher der Europäischen Union, Motor der Einigung bleiben. Aber wer morgen, ab 2006 den Vorsitz im Finanzministerrat hat, das weiß niemand und wer die Agrarminister durch die langen Nächte führen soll, weiß niemand.

SWR: Und das ist ja nun gerade spannend, wer das machen sollte?

Jean-Claude Juncker: Das ist spannend, doch braucht es auch eine klar festgelegte - ich sag das nicht gern - eine Kommandostruktur und es muss jemanden geben, der übergreifend, über alle Räte durchgreift und eingreift und in allen Räten sagen kann was passiert und das, was jetzt nach Effizienzsteigerung aussieht, nämlich weg von der rotierenden sechsmonatigen Präsidentschaft hin zu etwas völlig Neuem, könnte sehr wohl in totaler Ineffizienz landen. Deshalb rede ich von der Dunkelkammer. In dieser Dunkelkammer liegt ein Film, der muss erst noch entwickelt werden, bis jetzt denken alle es wären andere Bilder auf dem Film.

SWR: Ja, das denkt vielleicht auch derjenige der einmal Außenminister der Europäischen Union sein soll. Sie sprachen gerade den Präsidenten an. Aber gilt Gleiches nicht auch für den Außenminister? Denn wen repräsentiert dieser Außenminister? Die Franzosen, die Briten, die werden doch schlussendlich ihre Außenpolitik immer selber machen wollen.

Jean-Claude Juncker: Er wird die Europäische Union repräsentieren müssen und er wird sie auch animieren müssen und er könnte dies viel einfacher, viel gewendiger tun, wenn der Ministerrat nicht einstimmig, sondern mit Mehrheit in Sachen Außen- und Sicherheitspolitik entscheiden könnte. Aber in Außen- und Sicherheitspolitik, so steht es im Vertragsentwurf des Konventes, bleibt es bei der Einstimmigkeit und Herr Giscard d’Estaing erklärt uns, dass dieser Vertragstext eine Lebensdauer von mindestens 50 Jahren hätte. Die Vorstellung, dass wir noch 50 Jahre - 5 Jahrzehnte lang, 50 mal ein Jahr lang - mit Einstimmigkeit beschließen, um die Probleme der Welt zu regeln zu helfen, das scheint mir völlig abwegig. Wir müssen auch in dem Bereich ab irgendwann, vielleicht nicht sofort, mit Mehrheit beschließen können. So lange mit Einstimmigkeit Beschlüsse herbeigeführt werden müssen, wird dieser europäische Außenminister einen verdammt schwierigen Job haben. Aber trotzdem ist es gut, dass wir diesen Posten vom europäischen Außenminister jetzt schaffen und jemanden damit beauftragen können. Weil es ist unabdingbar notwendig, dass wir uns angesichts nahender Konflikte ein Instrument an die Hand geben, das von jemandem betätigt werden wird, der Vorschläge formulieren kann, der zuhören kann, der Initiativen ergreift und Initiativen anderer stromlinienförmiger bündeln kann. Vielleicht entsteht - learning by doing sagt man auf Deutsch - langsam eine Art außenpolitische Doktrin der Europäischen Union. Das wäre jedenfalls meine Hoffnung. Mein Glaube ist es aber noch nicht.

SWR: Welche Rolle werden denn in Zukunft die Nationalstaaten spielen?

Jean-Claude Juncker: Also die Vorstellung, dass wir auf unserem Kontinent so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa kriegen, ist eine Vorstellung der ich überhaupt nicht anhänge. Das klingt gut, heißt aber nichts. Wir werden nicht eine Staatsform in Europa haben, die der der Vereinigten Staaten von Amerika ähneln würde. Nationen in Europa jedenfalls sind keine provisorische Erfindung der Geschichte. Solange es Menschen gibt, Deutsche, Franzosen, Luxemburger, Niederländer, die das auch bleiben möchten, wird es ein Bedürfnis nach sofortiger Nähe, ja nach Heimat

SWR: Das könnte ja auch in den Regionen stattfinden und die sprengen natürlich die Grenzen.

Jean-Claude Juncker: Für mich ist Heimat nicht nur ein nationaler Begriff. Ich brauche einem Deutschen das ja nicht in einem besonderen Arbeitsverfahren zu erklären. Es gibt auch so etwas wie regionale Nähe, sofortige Heimat. Aber die Vorstellung, dass die Staaten, dass die Nationen plattgewalzt würden, dass es sie plötzlich ab irgendwann nicht mehr gibt, ist eine Vorstellung die ich überhaupt nicht habe, ich wünsche mir auch kein Europa das ziegelartig den Kontinent überziehen würde. Wir würden vielleicht politische Einheit gewinnen, aber wir hätten keine Menschen mehr die mit der politischen Einheit zurecht kämen.

SWR: Gibt es Grenzen der Erweiterung der Europäischen Union? Ich meine jetzt ganz konkret, es ist die Türkei als ständiger Kandidat, wenn man so will, vor der Tür. Es ist jetzt die Rede davon, die Balkanstaaten hineinzuholen. Wo sehen Sie Grenzen?

Jean-Claude Juncker: Ich sehe Grenzen nicht in der Geographie, sondern in den Ambitionen und Intentionen. Jeder europäische Staat, auch wenn er nicht mit seiner Gesamtfläche in Europa liegt, siehe Türkei, hat eine Berufung in der Europäischen Union Mitglied zu werden, wenn er die Gesamtzielsetzung der Europäischen Union teilt, wenn er in punkto Menschenrechte, in punkto soziale Marktwirtschaft und marktwirtschaftliche Ausrichtung seiner Volkswirtschaft und und und, sich an dem gemeinsamen Abenteuer beteiligen möchten. Die Grenzen liegen in den Köpfen. Wir sind begrenzt unbegrenzbar durch mangelhafte kontinentale Vorstellungskraft. Ich glaube nicht, dass sie in der Geographie liegen.

SWR: Es gibt ja sicher auch diese mentalen Grenzen. Es gibt die kulturellen Grenzen. Die Frau Merkel wünscht sich zum Beispiel in die Präambel der europäischen Verfassung mehr den christlichen Gedanken einfließen zu lassen. Da würde ich gerne noch mal nachfragen: Passt das wirklich zusammen, ein Land das zwar die Trennung von Staat und Religion hat, wie die Türkei, aber dann doch durch und durch in der Tradition der Muslimen lebt? Passt das nach Europa wirklich hinein?

Jean-Claude Juncker: Also ich habe an Pfingsten, einem christlichen Hochfest, einen offiziellen Besuch in der Türkei abgestattet und mein Eindruck, als jemand der sehr kritisch stets war und im übrigen auch ist, was den Türkeibeitritt anbelangt war, dass wenn wir die Welt beweisen möchten, dass Kulturen miteinander reden können, dass man auf einem Kontinent sich gegenseitig ergänzen, begegnen kann, auch wenn die einen aus dem christlichen Umfeld herkommen und die anderen aus dem islamischen Umfeld herkommen. Wenn wir der Welt beweisen wollen, das geht, dann müssen wir dies auch in einem Großversuch starten. Die Vorstellung, die Türkei könne nicht Mitglied der EU werden, weil die Türkei islamisch geprägt ist und die Europäische Union ansonsten christlich abendländlich geprägt ist, ist eine Vorstellung, die ich mir nicht als eine europäische Vorstellung wünsche, weil sie hieße eigentlich eine Absage an die multipolare auch an die kulturelle multipolare Welt. In der Türkei stehen ganz andere Fragen zur Debatte. Wie ist es in der Türkei mit den Menschenrechten? Wie ist es in der Türkei mit den Minderheitenrechten? Wie steht es um die Rollenverteilung zwischen Staat und der Armee? Dies sind die Fragen, die wir mit der Türkei sehr kritisch durchdiskutieren müssen, wobei man feststellen muss, dass es hier erhebliche Fortschritte in den vergangen 2-3 Jahren gegeben hat. Jetzt werden wir ab irgendwann - ich denke ab 2005 - in Beitrittsverhandlungen mit der Türkei eintreten und dann wird man in einer langen Verhandlungsphase checken müssen, klappt das mit einem Vollbeitritt oder wird sich aus dieser sehr intimen Nachbarschaft zwischen Europäischer Union und Türkei ein sehr besonderes Sonderverhältnis ergeben. Das wird man erst am Tage der Verhandlungsbeschlussfassung feststellen können.

SWR: Herr Ministerpräsident, die Staats- und Regierungschefs pflegen zumindest seit einigen Jahren nach außen hin demonstrative Freundschaften. Sie duzen sich, glaube ich, alle. Das sind ja nun Freundschaften, die einem ja ein bisschen zugeteilt werden, praktisch durch den Wähler. Es hätte ja genauso gut sein können, dass in Frankreich nicht Jacques Chirac sondern Lionel Jospin heute Staatspräsident wäre. Wie ist das eigentlich wirklich mit diesen Freundschaften? Ist das etwas, was man nach außen hin ein bisschen demonstriert oder gibt es die tatsächlich.

Jean-Claude Juncker: Also es gibt ja da unterschiedliche Intensitäten in den Beziehungen, die die Kollegen des Europäischen Rates untereinander aufgebaut haben. Die Beziehungen wachsen ja auch mit der Zeit. Manchen, den man argwöhnisch bei Amtsantritt betrachtet, wird zu einem Komplizen, wird auch zu einem persönlichen Freund, das geschieht oft, aber ich glaube nicht, dass das Mache ist, das ist nicht eine demonstrative Zurschaustellung eine irgendwie gearteten gesamteuropäischen Kumpanei, das ist es nicht. Ich weiß sehr gut mit wem ich sehr gut kann, mit wem ich gut kann, mit wem ich manchmal sehr gut kann, mit wem ich nicht so gut kann. Aber das ist wie im richtigen Leben.

SWR: Sehr gut, glaube ich, konnten Sie mit Herrn Kohl. Stimmt das?

Jean-Claude Juncker: Mit dem konnte ich sehr gut. Mit dem kann ich sehr gut.

SWR: Sie sehen sich noch? Sie treffen sich noch?

Jean-Claude Juncker: Wir telefonieren regelmäßig. Wir sehen uns 3-4 mal im Jahr und ich möchte auch kein Jahr erleben in dem ich ihn nicht sehen würde.

SWR: Sie waren doch als der Jüngste, Helmut Kohl der Älteste, glaube ich, oder zumindest einer der Ältesten. Was hat die beiden zusammengebracht, den Jüngsten und den beinah Ältesten?

Jean-Claude Juncker: Das weiß man ja nie so genau, wenn zwei Biographien sich die Hand geben und daraus entsteht dann irgendwo eine kleine Schnittmenge die beiden gehört. Man weiß ja auch nicht wieso man sich verliebt, wieso man liebt, man weiß, dass auch in Freundschaftsangelegenheiten nicht so genau. Mich hat an Helmut Kohl stets fasziniert, dass er wirklich sich sehr bemüht hat die europäischen Dinge und die europäischen Menschen zusammenzuhalten, dass er sehr oft dem Europäischen die Vorfahrt vor dem Nationalen gegeben hat, dass er Risiken eingegangen ist, um der europäischen Sache wegen - Stichwort Euro - untermalt diesen Gedankengang vielleicht am Besten und dann hat er auch ein übermäßig gut entwickeltes Verständnis für kleinere Staaten der Europäischen Union, er hat halt nicht auf deutsche Großmachttour gemacht, sondern manchmal auch die Anliegen kleinerer Staaten gegen die Interessen größerer Staaten verteidigt. Das hat er nicht gemusst, hat es aber getan, weil er einen historischen Begriff von Europa hat. Nicht nur in der Vergangenheitsbetrachtung, sondern auch in perspektivischem Sinne des Wortes. Das habe ich sehr an ihm gemocht. Ansonsten konnten wir auch über Dinge reden, die mit Politik überhaupt nichts zu tun hatten, über die Männer halt reden.

SWR: Sie meinen über ein gutes Essen wahrscheinlich?

Jean-Claude Juncker: Über viele gute Dinge.

SWR: Wie ist das Verhältnis zu seinem Nachfolger, Herr Gerhard Schröder?

Jean-Claude Juncker: Das Verhältnis zu Gerhard Schröder ist exzellent gut. Man hängt ja sehr oft der Vorstellung an, in der Politik überhaupt oder in der Europapolitik speziell, käme es sehr auf die parteipolitischen Gruppierungen auf die Fraktionsbildungen an. Das ist alles wichtig. Es ist nicht ausschlaggebend, vor allem in internationalen Beziehungen und dann in dieser europäischen Intimität, wo man Talente, Energien, Überlegungen, Überzeugungen zusammenbringt, damit die Menschen, die die jetzt leben und die die in diesen Stunden geboren werden, auf einem Kontinent leben können auf dem es harmonisch zugeht. Man hat etwas zu tun für die Menschen, man ist ja nicht nur für sich selbst da. Es geht um die Menschen, nicht um unsere Parteien.

SWR: Deswegen auch Ihre Sympathie zu Joschka Fischer?

Jean-Claude Juncker: Auch mit dem kann ich einfach gut.

SWR: Den haben Sie auch vorgeschlagen für den europäischen Außenminister.

Jean-Claude Juncker: Nein. Ich habe gesagt, er wäre eine ausgezeichnete Besetzung, aber die Frage würde sich jetzt nicht stellen, insofern wäre die Frage auch nicht zu beantworten. Daraus machen die Zeitungen "Juncker schlägt Fischer vor". Aber damit muss man leben, er im übrigen auch.

SWR: Er noch mehr wahrscheinlich.

Jean-Claude Juncker: Aber Fischer gehört zu den deutschen Politikern - ich kenne viele auch in den Unionsparteien - die so gestrickt sind, für die das europäische Engagement noch eine Herzensangelegenheit ist. Man kann Europa im Kopf denken, sich rational für sich selbst und für andere begründen, wieso und weshalb die europäische Einigung sein muss. Wer dazu fähig ist, hat aber nur die Hälfte des Weges gemacht. Die erste Hälfte des Weges entsteht hier [auf sein Herz zeigend]. Man muss das fühlen. Man muss das im Bauch haben und Fischer hat das im Bauch. Andere auch, aber er hat das und er ist der deutsche Außenminister.

SWR: Ihnen haften zwei Etiketten an, die zunächst einmal sehr widersprüchlich klingen: Auf der einen Seite hat eine Zeitung mal geschrieben, Sie seien der "Patron der Steuerflüchtlinge" - da geht es darum, dass Sie für das Bankgeheimnis in Luxemburg sich einsetzen - und dann wieder liest man wieder oft Sie sind das soziale Gewissen im Kreis der Staats- und Regierungschefs in Europa. Sind das zwei Dinge die sich irgendwo ausschließen?

Jean-Claude Juncker: Mit der zweiten Einschätzung kann ich besser leben als mit der ersten. Die zweite ist anspruchsvoll, aber nicht unwahr und die erste stimmt nicht. Patron der Steuerflüchtlinge war ich nie und wollte ich auch nie sein. Ich habe mich stets in Europa für Steuerharmonisierung eingesetzt und bin auch jetzt einer der wenigen Regierungschefs, die sich sehr aktiv dafür einsetzen, dass wir in der Verfassungsgebung, in Steuerfragen, besonders wenn es Betriebsbesteuerungselemente betrifft, mit Mehrheit, nicht mit Einstimmigkeit stimmen können. Wir haben Steuerpakete auf den Weg gebracht, haben uns in Sachen Harmonisierung der Kapitalertragssteuer zu einigen gehabt, aber ich bin auch nicht naiv. Wenn ich sehe, dass jeder Schindluder treibt in Europa mit der Steuerehrlichkeit, da bin ich sehr dagegen, dass man das tut. Dies ist auch in Luxemburg zum Teil passiert. Unter anderem hat Luxemburg sehr profitiert von den Irrungen und Wirrungen und Verirrungen der deutschen Steuer- und Finanzpolitik. Dafür bin ich nicht direkt zuständig.

SWR: Es gibt ja nun die Einladung per Amnestie das Geld wieder zurückzubringen.

Jean-Claude Juncker: Ja, das ist eine deutsche Entscheidung, die kann ich nachvollziehen und die ist auch volkswirtschaftlich und finanzpolitisch durchaus begründet. Aber wir haben uns nie hingestellt und gesagt: "Steuerflüchtlinge aller Länder, kommt nach Luxemburg". Es sind welche gekommen und jetzt haben wir dafür gesorgt, dass wir eine Zinsteuerreglung in Europa kriegen. Aber ich wollte nie eine Vorleistung machen, eine unilaterale Vorleistung in der Gestalt "Luxemburg schafft das Bankgeheimnis ab" und dann ist das Problem geregelt. Das Problem wäre überhaupt nicht geregelt gewesen und auch Deutschland hat ein Bankgeheimnis und auch in Deutschland werden Nicht-Gebietsansässige Steuerzahler, Luxemburger beispielsweise, die ihre Gelddepots in Deutschland haben, nicht besteuert. Sie haben Recht. Es gibt mehr Deutsche, die nach Luxemburg kommen als Luxemburger die nach Deutschland gehen.

SWR: Was für die Luxemburger Banken spricht.

Jean-Claude Juncker: Nein, das spricht für die Vorzüge, die man aus sehr unterschiedlich ausgebreiteter demokratischer Substanz ziehen kann.

SWR: Aber das soziale Gewissen, kommen wir darauf noch zu sprechen.

Jean-Claude Juncker: Ich bin der Meinung, dass wir in Europa ein großes Defizit haben und dieses Defizit ist mit der mangelhaft ausgebildeten sozialen Dimension der Europäischen Union am besten beschrieben. Diese Vorstellung und auch dieses Grundgefühl das ergibt, dass aus der Europäischen Union, nachdem das Thema Krieg und Frieden für viele abgelehnt wurde, für mich ist das ein hochaktuelles Thema, auch nach den Umwälzungen, die es Ende der 80er Jahre in Europa gegeben hat, wäre Europa so etwas wie ein Konstrukt von dem Banker, von dem Wirtschaftskreise, von dem Betriebe profitieren würden aber es hätte mit den Menschen nichts zu tun. Es ist nun mal so, dass die große Mehrheit der Europäer Arbeitnehmer sind und wenn man einen politischen Entwurf auch in den Herzen in der Gefühlswelt der Menschen festmachen möchte - und das muss man mit dem europäischen Entwurf tun, ansonsten entgleitet er uns - dann muss man auch den Fragen, die die Arbeitnehmer, Beschäftigte, kleine Handwerker umtreiben umzugehen verstehen und dann muss man auch in dem Bereich etwas anbieten. Unser großes Problem in Europa bleibt die Arbeitslosigkeit. Man kann nicht so tun, als ob man dies nur im Kreise von Bankern und Spitzenvertretern der Wirtschaft für die Menschen nachvollziehbar um die Lage bessernd, gestalten zu können. Also hier braucht es mehr Europa, mehr Zusammenwirken, ohne dass die nationale Verantwortung für Arbeitsmarktpolitik und für Wirtschaftspolitik verschwindet. Aber das muss thematisiert werden in einem Masse, das das bisherige Maß deutlich übersteigt.

SWR: Wir sprachen am Anfang diese Gespräches über Ihren Vater, der Sie geprägt hat. Der hat Sie, glaube ich, auch geprägt in diesem sozialen Engagement?

Jean-Claude Juncker: Ja, mein Vater war Gewerkschaftler, christlicher Gewerkschaftler, und, ja, das sind so meine Kindheitserinnerungen, die sind in der Nachbetrachtung sehr prägend gewesen, weil abends nach Schichtende bei uns in der Küche so kleine Treffen von Stahlarbeitern stattfanden, wo über die Probleme des Betriebes geredet wurde, wo über Renten geredet wurde, wo über Arbeitspausen geredet wurde, wo über Transportmöglichkeiten hin zum Werk geredet wurde und wo das Unsoziale Thema war und wo die Begeisterung derer, die ich sah dieses schichtweise zu beheben, Stein für Stein eine gerechtere Arbeitswelt aufzubauen, auch Thema war. Ich möchte dieses Zuhören und dieses Bekanntgemachtwerden mit den Problemen der Stahlarbeiter nicht missen und ich gebe mir sehr oft Mühe, wenn ich abhebe, wegfliege, über den Wolken bin wieder daran zu denken, dass alles so angefangen hat und dass es auch dort aufhören muss.

SWR: Jean-Claude Juncker, herzlichen Dank.

Jean-Claude Juncker: Danke.

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