François Biltgen: Kompromiss oder Sozialtourismus

Télécran: Herr Minister, wie hoch schätzen Sie die Chancen ein, dass Ihr Kompromissvorschlag beim EU-Ministerratstreffen am 10. Dezember angenommen wird?

François Biltgen: Ziemlich hoch, da die Kollegen und die Kommission mit dem gemeinsam erarbeiteten Kompromiss einverstanden sind. Sie haben auch die Bereitschaft erkennen lassen, den spezifischen Problemen Luxemburgs Rechnung zu tragen. Allerdings muss später auch das Europäische Parlament seine Zustimmung geben. Nach meinem Modell könnten die Grenzgänger sich in Zukunft während drei Monaten aktiv am Arbeitsamt als Arbeitssuchende einschreiben – aber nur während drei Monaten! Möglicherweise wird die Zahl der Arbeitssuchenden sich dadurch verdoppeln. Eine so tiefgreifende Reform bewerkstelligt man verwaltungstechnisch aber nicht in ein, zwei Jahren.

Télécran: Falls aber keine Einigung erzielt wird? Droht dann eine Mehrheitsentscheidung, so wie der europäische Verfassungskonvent es vorsieht?

Francois Biltgen: Noch wissen wir nicht, wie die zukünftige europäische Verfassung im Detail aussehen wird. Dennoch bin ich der Meinung, dass man bei echten Problemen eher einem guten Kompromiss zustimmen sollte, den man beeinflussen kann, statt die Probleme herauszuschieben und vielleicht in ein paar Jahren mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Luxemburg hat seine großen Probleme bei der direkten Besteuerung noch unter dem Einstimmigkeitsprinzip gelöst. Ich hoffe, dass das uns auch bei dieser Frage gelingt. Dann können wir dem Mehrheitsprinzip nicht nur ohne Angst, sondern mit Zuversicht entgegen sehen. Denn das soziale Europa – das wir wollen – kommt nicht mit der Einstimmigkeits-, sondern nur mit dem Mehrheitsprinzip voran.

Télécran: Falls Luxemburg am Ende dann doch den Grenzgänger Arbeitslosengeld zahlen müsste: Würde das den Staat tatsächlich mehr als 200 Millionen Euro pro Jahr kosten?

Francois Biltgen: Wir wissen nicht, wie viele Grenzgänger arbeitslos geworden sind, und noch weniger wissen wir Bescheid über jene, die einen Job in Luxemburg suchen. Wenn man aber davon ausgeht, dass maximal 10000 Pendler während zwölf Monaten eine Unterstützung von durchschnittlich 1 750 Euro beziehen könnten, kommt man auf 210 Millionen Euro im Jahr – unser Haushalt würde das nur schwer verkraften. Dies sind allerdings Höchstwerte. Es dürften viel weniger als 10 000 Menschen betroffen sein, aber wir wollen das Problem nicht verniedlichen: Wenn tatsächlich 10 000 Personen betroffen wären, stiege die Arbeitslosenquote in Luxemburg von 3,6 auf 5,9 Prozent. Damit läge die Arbeitslosigkeit allerdings immer noch wesentlich niedriger als im Ausland.

Télécran: Wäre dieses Prinzip der Arbeitslosenunterstützung denn ungerecht? Immerhin zahlen alle "Frontaliers" Steuern und Sozialabgaben in Luxemburg...

Francois Biltgen: Es stimmt, dass wir, anders als im Ausland, keine Arbeitslosenversicherung haben. Der Beschäftigungsfonds wird hauptsächlich über Steuereinnahmen gespeist. Auch die Grenzgänger zahlen direkt oder indirekt Beiträge. Oft wird darauf hingewiesen, dass die Konkurrenz, die durch die Grenzgänger entsteht, es den einheimischen Arbeitslosen schwer macht, eine Stelle zu finden. Das ist richtig. Doch ohne die Grenzgänger hätte die Luxemburger Wirtschaft sich nicht entwickeln können, und es gäbe wahrscheinlich dennoch Arbeitslosigkeit. Ohne die Sozialbeiträge der Grenzgänger hätte es auch nicht zu einem Rententisch kommen können. Dennoch konnten und wollten wir den ursprünglichen Vorschlag von Kommission und Parlament nicht anerkennen, nicht nur aus budgetären Gründen. Durch den hohen Unterschied der Arbeitslosenunterstützung in der Grenzregion hätte es zu einem Sozialtourismus kommen können, den nicht nur Luxemburg fürchtet.

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