Anne Brasseur: Autorität der Schule nicht in Gefahr.

Télécran: Frau Ministerin, befürchten Sie nicht, dass der Fall um die Verbesserung des Geografie-Nachexamens und die dadurch verwehrte Versetzung in die nächste Klasse eine Prozess-Lawine auslösen wird?

Anne Brasseur: In den allermeisten Fällen werden die Spielregeln, die in der Schule gelten, akzeptiert und respektiert. Die Praxis hat gezeigt, dass in Einzelfällen Eltern Zweifel an der Prozedur anmelden. Bei solchen Fällen, die mir während der letzten Jahre zugetragen wurden, habe ich Untersuchungen eingeleitet oder Stellungnahmen eingefordert, die dann auch zu einer Lösung des Problems geführt haben. Ich kann das aber nur tun, insofern die bestehenden Prozeduren mir die Möglichkeit dazu geben. In diesem Fall war das nicht möglich, weil das Reglement besagt, dass Entscheidungen des Conseil de classe nicht angefochten werden können – es sei denn, man wendet sich an das Verwaltungsgericht.

Um ähnliche Fälle in Zukunft zu vermeiden, beabsichtige ich, die Bewertungsprozeduren, die für die Prüfungen gelten, – und ich habe diesbezüglich 2002 eine neue Instruktion erlassen – auch bei den Nachprüfungen anzuwenden.

Gibt es im Luxemburger Schulunterricht überhaupt verbindliche Bewertungsgrundlagen?

Anne Brasseur: Der Lehrplan des Primärunterrichts beinhaltet Anweisungen zur Leistungsbewertung der einzelnen Schüler. Im Sekundarunterricht bestehen fachspezifische Bewertungsgrundlagen, die von den zuständigen Programmkommissionen erarbeitet werden. Diese Bewertungsgrundlagen beinhalten auch Richtwerte für die Punktevergabe.

Immer wieder zeigt sich, dass zweimal die Note 50 von zwei Lehrern für zwei Schüler in der Praxis so gut wie gar nichts über die wirklichen Fähigkeiten von Schülern aussagt. Es kommt vor, dass selbst in zwei vierten Klassen in ein- und derselben Grundschule völlig unterschiedlich bewertet wird oder völlig unterschiedlich lange Prüfungen zu völlig unterschiedlichen Themen geschrieben werden. Bewerten Lehrer nicht zu oft einfach nach eigenem Gutdünken, das weder für Schüler noch für deren Eltern nachvollziehbar ist?

Anne Brasseur: Gute Noten, egal welcher Lehrer sie gibt, sagen immer aus, dass ein Schüler erfolgreich lernt. Allerdings kann die Bewertung auch vom Leistungsniveau der Klasse beeinflusst werden und deshalb unterschiedlich ausfallen. Die Lehrer haben aber auch die Aufgabe, die Eltern regelmäßig über den Lernfortschritt ihrer Kinder auf dem Laufenden zu halten. Dieser regelmäßige Austausch zwischen Elternhaus und Schule bildet die Grundlage für das Vertrauen zwischen den Schulpartnern.

Welche Möglichkeiten haben Eltern überhaupt, um gegen die Bewertung ihrer Kinder bzw. gegen als ungerecht empfundene Noten Einspruch einzulegen?

Anne Brasseur: Einsprüche gegen die Leistungsbewertung der Schüler sollen zuerst auf der Schulebene erhoben werden. Der erste Ansprechpartner der Eltern ist natürlich der Lehrer. Die nächste Instanz ist im Primärschulunterricht der Schulinspektor, im Sekundarunterricht ist es der Klassenlehrer und gegebenenfalls der Schuldirektor. Es kann und darf nicht sein, dass in spezifischen Fällen politische Entscheidungen getroffen werden.

Was raten Sie nun Lehrern und Schuldirektoren? Wie sollen sie sich in Zukunft verhalten, wenn immer mehr Eltern und/oder Schüler gegen Noten Einspruch einlegen? Ist dies letztlich nicht auch eine Form von mehr Demokratie in der Schule und von mehr Mitspracherecht für die Eltern?

Anne Brasseur: Die Leistungsbewertung der Schüler bei Klassenarbeiten erfolgt nach einschlägigen Bestimmungen. Zum Beispiel sieht meine Dienstanweisung vom 8. April 2002 folgendes vor: "Le directeur peut demander des explications au titulaire, notamment lorsque les notes sont exceptionnellement élevées ou particulièrement basses. Dans tous les cas de désaccord, les élèves doivent être entendus par le directeur s'ils en font la demande. Un accord entre parties doit être visé en premier lieu. Le directeur peut se faire conseiller par des experts. II peut annuler un devoir, ou prendre d'autres mesures qu'il estime appropriées. il donne une explication aux enseigants et aux élèves concernés." Dies zeugt von meinen Bemühungen für ein transparentes und gerechtes Bewertungssystem.

Und was halten Sie von der "pragmatischen Lösung" wie sie Maître Frank im aktuellen Fall vorschwebt? Er will ja die Schülerin – also indirekt seine Klientin – so schnell wie möglich auf der "Troisième" sehen, bevor ein Wechsel aus Zeitgründen unmöglich wird ...

Anne Brasseur: Da zurzeit nur eine einstweilige Verfügung des Präsidenten des Verwaltungsgerichts vorliegt und da der Rechtsstreit wichtige Grundsatzfragen des Schulsystems tangiert, bin ich der Meinung, dass ich mich nicht in ein schwebendes Verfahren einmischen kann und darf.

In einem hitzigen Kommunikee sieht die APESS die "Autorität der Schule" in Gefahr...

Anne Brasseur: Auf Grund eines Einzelfalls in dem noch Klärungsbedarf besteht, sehe ich die Autorität der Schule nicht in Gefahr.

Die APESS schreibt auch, "immer häufiger sind Schüler und vor allem ihre Eltern nicht mehr bereit, schlechte Benotungen und Prüfungsergebnisse hinzunehmen". Wird hier der Versuch unternommen, unliebsame und womöglich negative gesellschaftliche Phänomene zu geißeln oder geht es den Lehrern vor allem darum, ihre Privilegien zu verteidigen und ja niemandem Rechenschaft ablegen zu müssen?

Anne Brasseur: Schlechte Benotungen gaben des öfteren Anlass zu Beanstandungen. Man sollte aber nicht aus einem ins Zentrum des öffentlichen Interesses gerückten Einzelfall voreilige Schlussfolgerungen ziehen. Man muss vermeiden, dass ein Einzelfall missbraucht wird, um ein ganzes Gefüge in Frage zu stellen und alle Lehrer, die ihre Arbeit gut und gewissenhaft machen, zu verunglimpfen. Die Benotung der Kenntnisse der Schüler ist eine schwierige Aufgabe und die Entscheidungen des Klassenrates über die Nicht-Versetzung, die gewissenhaft getroffen werden, sind oft schmerzhaft für die betroffenen Schüler und deren Eltern. Dennoch muss die Gesellschaft diesen Lehrern weiterhin das Vertrauen entgegenbringen, das sie brauchen, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden und dies im Interesse aller Kinder.

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