Jean-Claude Juncker: "So war der Pakt einst gedacht". Premierminister Juncker über den Stabilitätspakt

DIE ZEIT: Herr Ministerpräsident, seit vergangenem Dezember glauben die meisten Bürger, dass Europas Regierungen es mit dem Stabilitätspakt nicht so genau nehmen - weil sie Deutschland und Frankreich trotz hoher Haushaltsdefizite bislang ungestraft haben davonkommen lassen. Sie halten dagegen. Warum?

Jean-Claude Juncker: Ich habe mich mit vielen in Brüssel über den Pakt und den Vertrag unterhalten und festgestellt: Kaum einer kennt den Text. Auch im Rat der Finanzminister habe ich mich bis zur Lächerlichkeit wund geredet und erklärt, wie der Pakt einst gedacht war. Ich muss das schließlich wissen, denn ich habe ihn damals mitverfasst. Da steht Jean-Claude Juncker, Ratspräsident, drunter. Und ich sage Ihnen: Bisher ist nichts geschehen, was nicht sein sollte.

Das sieht der EU-Währungskommissar Pedro Solbes aber ganz anders.

Jean-Claude Juncker: Ja, die Kommission verbreitet - gestützt von der Europäischen Zentralbank - die Propaganda: Vertrag ist Vertrag, drei Prozent sind drei Prozent, und wer mit seinem Haushaltsdefizit darüber hinausschießt, muss sofort bestraft werden. Dabei steht das da nicht so. Das war viel feinfühliger gemeint.

Die europäischen Finanzminister müssten es eigentlich besser wissen.

Jean-Claude Juncker: Das stimmt. Aber die Kunst der Textanalyse hat im Lebensweg vieler Finanzminister erkennbar keine sehr ausgeprägte Rolle gespielt. So lesen auch die heutzutage oft nicht mehr die Originaltexte, sondern glauben, was darüber geschrieben wird. Viele behaupten ja heute auch, ganze Bücher gelesen zu haben, dabei kennen sie nur die Klappentexte. Ich habe jedenfalls beim letzten Finanzministerrat im Dezember feststellen müssen, dass niemand wusste, was in den Entschließungen des Amsterdamer Gipfels - also den Urtexten des Paktes - steht. Da heißt es beispielsweise im letzten Satz sinngemäß: "Wenn der Rat nicht über die Empfehlung der Kommission abstimmt, dann muss er es schriftlich begründen." Das bedeutet aber implizit auch: Der Rat muss - anders als die Kommission es behauptet - nicht über deren Empfehlungen abstimmen, solange er es schriftlich begründet.

Genau darum dreht sich die Klage. Kommissar Solbes unterstellt dem Rat juristisches Fehlverhalten, weil er im Dezember nicht über eine Verschärfung des Verfahrens gegen Deutschland und Frankreich abgestimmt hat.

Jean-Claude Juncker: Ja. Aber die Kommission konnte mir nicht erklären, warum der Satz im Text steht. Wie soll sie auch, sie hat ihn schließlich auch nicht verfasst. Ich aber habe ihn mitformuliert. Ich erinnere mich noch genau an den Saal, in dem ich die heute so umstrittene Entschließung vom 17. Juni 1997 geschrieben habe - gemeinsam mit dem damaligen französischen Ministerpräsidenten Lionel Jospin, seinem Europaminister und dem niederländischen Finanz-Staatssekretär. Auch an die Artikel 104c,7 oder 8 oder 9, über die heute so viel gestritten wird, kann ich mich sehr gut erinnern. Aber man wirkt ja sofort paternalisrisch, wenn man den jungen Menschen erklärt, wie das damals gemeint war.

Und wie war es nun gemeint?

Jean-Claude Juncker: Wir haben damals bewusst Spielraum für politische Entscheidungen gelassen. Und den hat der Rat genutzt. Schließlich geht es hier um hochpolitische Fragen. Doch am Zeitungsmarkt hat sich durchgesetzt: "Drei Prozent sind drei Prozent." Da will es keiner mehr so genau wissen. Vor allem die deutsche Wirtschaftspresse nimmt dabei den Pakt nur sehr selektiv wahr. Sie hat die eine These vorgegeben: Deutschland drohen zu Recht Sanktionen. Wenn das dann nicht eintritt, entsteht ein Widerspruch zur eigenen Prognose. Das aber darf nicht sein, und so fordern sie immer wieder denselben Unsinn. Es ist zum Verzweifeln.

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