Jean-Claude Juncker im Gespräch mit dem Bayerischen Rundfunk

Mayer: Herzlich willkommen zu Alpha-Forum. Wir sind heute zu Gast im Großherzogtum Luxemburg bei Premierminister Jean-Claude Juncker. Guten Abend, Herr Juncker. 

Juncker: Grüß Gott. 

Mayer: Vielen Dank für die Einladung zu Ihnen. Sie sind Premierminister und Finanzminister. Zumindest auf europäischer Ebene ist das ja eine etwas ungewöhnliche Kombination. Wenn man sich das mal in Deutschland vorstellen würde, dann wären das Eichel und Schröder zusammen in einer Person. Diese beiden liegen sich aber doch auch manchmal in den Haaren: Wie machen Sie das denn in sich selbst? 

Juncker: Ich rede mit mir selbst und ich setze mich durch. 

Mayer: Und wer gewinnt in der Regel? 

Juncker: Ich. 

Mayer: Der Finanzminister oder der Premierminister? 

Juncker: Das kann man so nicht auseinander dividieren. Der Premierminister hat jedenfalls dafür Sorge zu tragen, dass die großen Linien stimmen. Und der Finanzminister hat dazu beizutragen, dass diese großen Linien auch umgesetzt werden. Insofern komme ich nach heftiger Debatte mit mir selbst doch zurande. 

Mayer: Luxemburg ist ja im Moment das kleinste EU-Mitglied. Wenn Malta dazu kommt, dann wird sich das ändern, dann wird Luxemburg nur noch das zweitkleinste Land in der EU sein. Wie ist denn die Rolle eines Kleinsten innerhalb der EU? 

Juncker: Ich habe das eigentlich nie als besonderes Problem empfunden. Denn für kleine Länder gilt, was auch für große gelten sollte: Wenn man versucht, der europäischen Sache dienlich zu sein, dann erreicht man nämlich auch für das eigene Land das Bestmögliche. Insofern gibt es also zwischen europäischen und rein nationalen Interessen und Zielen auf längere Sicht keine wesentlichen Dissonanzen. Wenn das größere Länder auch so halten würden, dann wäre es um Europa besser bestellt. 

Mayer: Dafür haben Sie in den Runden der EU ja auch oft gekämpft. Sie haben dafür gekämpft, dass man Stellung bezieht, dass man seine eigene Meinung sagt, um dann aus all diesen Meinungen dasjenige herauszudestillieren, was Europa nach vorne bringt. Luxemburg wird ja in Deutschland immer so ein bisschen als Steuerparadies gesehen. Wer kulturinteressiert ist, denkt vielleicht auch noch an die Echternacher Springprozession. Darüber hinaus gibt es hier in Luxemburg natürlich eine wunderbare Landschaft. Sie haben ein Regierungsviertel – wir können das kurz mal mit einem kleinen Film zeigen –, das geradezu pittoresk ist: Alle Ministerien sind auf engstem Raum umeinander gruppiert. Alles ist heimelig und befindet sich mitten in der Stadt. Das ist eine Gegend, in die viele Touristen gerne kommen. Trotzdem: Wie würden Sie denn in der Summe die Rolle Luxemburgs, die es in der EU einnehmen kann, definieren und interpretieren? 

Juncker: Wenn viele Deutsche und wenn vor allem auch die überregionale Presse in Deutschland Luxemburg als Steuerparadies beschreiben, dann stört mich das ein bisschen. In Vorwahlzeiten stört es mich jedoch nicht sehr, wenn meine Wähler im Fernsehen und von anderen europäischen Medien berichtet bekommen, sie würden in einem Steuerparadies leben. So etwas kann bei einer Wahl ja nicht schaden. Nur, die Steuerzahler müssen natürlich wissen, dass das leider so nicht der Fall ist. Sie wissen im Übrigen auch, dass auch Deutschland ein Steuerparadies beispielweise für die Luxemburger ist: Sie können in Deutschland ihre Ersparnisse zur Bank bringen und müssen dort keine Steuern dafür zahlen – genauso wenig wie Deutsche hier in Luxemburg. Insofern wäre es zu wünschen, dass einige moralisierende deutsche Fingerzeige unterblieben. Ansonsten ist die Lage Luxemburgs historisch und geographisch so, dass wir sehr oft ein größeres Verständnis vornehmlich für unsere beiden großen Nachbarn entwickeln, als diese beiden Nachbarn es zu entwickeln in der Lage wären. Ich habe manchmal gesagt und auch schon bewiesen, dass die Luxemburger über die Deutschen unendlich mehr wissen, als die Franzosen je in Erfahrung bringen können, dass es andererseits auch kaum französische Dinge gibt, die uns unbekannt wären und von denen die Deutschen eigentlich überhaupt keine Ahnung haben. Denn wir leben nun einmal in der "Zugluft" zwischen beiden Kulturen und Einflüssen. Insofern können wir daher sehr oft aufkeimende oder auch wirklich vorhandene Meinungsverschiedenheiten zwischen beiden großen Nachbarn glätten. Wir bringen uns ein, wenn man uns fragt oder weil wir die Dinge rechtzeitig genug riechen und spüren. Dann schalten wir uns vermittelnd ein – ohne nun aber auf der europäischen Brücke permanent mit der Vermittlerfahne herumzurennen. Denn wer sich dauernd als Vermittler anbietet, den wird man um Vermittlung selten bitten. Aber wer aus vielerlei Gründen dieses etwas komplizierte deutsch-französische Handwerk versteht, indem er sich manchmal als Zwischenstück in die deutsch-französische Freundschaft einbringt, der hat in der Tat in Europa eine Rolle zu spielen. Sie wird sich auch nach erfolgter Erweiterung nicht wesentlich ändern. Es gibt ja demnächst einen Zuwachs von zehn neuen Mitgliedstaaten: Die meisten davon sind relativ kleine Staaten. Diese kleineren Länder greifen schon recht gerne auf die Expertise eines bewährten kleinen Landes zurück. 

Mayer: Mit dem Stichwort "bewährtes kleines Land" komme ich natürlich auf die wichtige Rolle zu sprechen, die Luxemburg gespielt hat bei der Geburt des Euro. Wir beide haben uns in dem Zusammenhang ja bei verschiedenen Ereignissen seinerzeit immer wieder getroffen und gesehen. Auch bei den Gipfeltreffen war das z. B. so, an denen Sie jedes Mal teilgenommen haben und bei denen auch ich als journalistischer Beobachter anwesend war. Auch Theo Waigel und Helmut Kohl haben diesen Prozess ja in wichtiger Weise mitgestaltet, wie man nicht vergessen darf. Als wir heute nach Luxemburg gekommen sind, uns mittags einen Kaffee gekauft und ihn draußen auf dem Marktplatz getrunken haben, haben wir ganz einfach mit Euro bezahlt. Das war so selbstverständlich wie seinerzeit innerhalb Deutschlands mit der D-Mark zu bezahlen. Ich glaube, man sieht auch daran die Dimension, die daraus entstanden ist. Trotzdem ist meiner Meinung nach der Rückblick schon auch immer wieder interessant. Es wäre also doch noch einmal wichtig zu erfahren, wie das damals eigentlich gewesen ist. Ist es denn für Sie heute eine Selbstverständlichkeit, dass es so gekommen ist? Oder sagen auch Sie noch manchmal, "Eigentlich ist es unglaublich, dass es so gekommen ist"?

Juncker: Ich gehöre zu denen, die immer noch überrascht sind über die Art und Weise, wie wir das hinbekommen haben. Als wir Ende der achtziger und zu Beginn der neunziger Jahre den Euro etwas fester ins Auge genommen haben und dann auch die Regierungskonferenz dazu gestartet haben, war die Zahl derer, die wirklich daran glaubten, dass wir innerhalb dieser relativ kurzen Zeitspanne von zehn Jahren den Euro in Europa einführen könnten, nicht sehr groß. Es gab nur wenige, die das wirklich glaubten. Viele, die damals eher im Lager der Eurogegner unterwegs waren oder derer, die sich den Euro nicht vorstellen konnten, sind ja heute die begeistertsten Anhänger des Euro. Dies führt mich sehr oft zu der Betrachtung, dass dann, wenn die katholische Kirche so viele Spätberufene hätte wie der Euro, die Priesterseminare zu klein wären. Es gibt ja heute in Europa niemanden mehr zu besichtigen, der noch gerne daran erinnert werden möchte, dass er mit dem Euro früher, als es ihn noch nicht gegeben hat, nichts hatte anfangen können. Waigel und Kohl haben allerdings immer an den Euro geglaubt, das stimmt. 

Mayer: Dies gilt allerdings nur für diejenigen, die heute mit dabei sind. Die Kernmannschaft hat inzwischen mitgemacht und Griechenland war dann z. B. eigentlich auch kein Problem mehr. Es gibt jedoch auch heute noch wichtige europäische Länder, die immer noch ihre Bedenken haben und die den Euro nicht eingeführt haben. Der Euro hat also so gesehen sein Ziel noch nicht ganz erreicht. 

Juncker: Mir wäre es in der Tat auch lieb, wenn Briten, Schweden und Dänen sich möglichst schnell zur Eurotruppe gesellen würden. Aber das ist überhaupt nicht mein Problem. Meine Überraschung ist vielmehr die, dass damals im Jahr 1991/92 die einen dachten, dass es überhaupt nichts werden würde damit, und die anderen wie Waigel, Kohl, ich und andere die Befürchtung hatten, dass wir höchstens zu viert oder fünft mit dieser Euro-Währung ins neue Jahrhundert gehen würden. Nein, heute sind es zwölf Länder! Auch ich, der ich stets ein großer Euroanhänger, -befürworter und -konstrukteur gewesen bin, hatte mir zu Beginn der neunziger Jahre nicht vorstellen können, dass wir im Jahr 2002 zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Union in der Eurozone haben werden. Wieso sollte ich also ungeduldig werden? 

Mayer: Was war denn dabei eigentlich die Triebfeder? Heute gibt es auf europäischer Ebene ja so manche Dinge, die viel unbedeutender sind als der Euro und bei denen man dennoch kaum eine Chance sieht, dass hier alle einträchtig zusammenkommen könnten. Dennoch hat das damals mit dem Euro funktioniert. War dafür eine spezielle Konstellation verantwortlich Ihrer Meinung nach? Hatte das vielleicht auch etwas mit dem Fall des Eisernen Vorhangs zu tun? Was war es denn, was die einzelnen Staaten bei dieser Frage zusammengeschweißt hat? Oder hatte das nur mit dem Verhandlungsgeschick der bereits erwähnten Personen zu tun? 

Juncker: Man muss sich ja in Erinnerung rufen, dass die Idee, eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion auf die Beine zu bringen, nicht eine Idee der späten achtziger oder der beginnenden neunziger Jahre war. Nein, schon in den siebziger Jahren hat ja mein Amtsvorgänger Pierre Werner den so genannten Werner-Plan verfasst, der ebenfalls zum Ziel hatte, eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu schaffen. Dies ist dann aber alles nicht so gekommen, weil es u. a. 1973 die Ölkrise gegeben hat und weil weltweit die Dinge in vielerlei Hinsicht durcheinander gerieten. Gegen Ende der achtziger Jahre ist diese Idee dann wieder aufgegriffen worden. Der Fall des Eisernen Vorhangs, die Perspektive der deutschen Wiedervereinigung, die dann ja auch tatsächlich eingetreten ist, hat das selbstverständlich befördert. Die deutsche Wiedervereinigung hat dem Euro natürlich Beine gemacht. Es wäre allerdings auch ohne diese Vorgänge zur Schaffung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion gekommen. Aber der Reifeprozess, der Prozess, der dazu führte, dass immer mehr Menschen auch in der Politik zur Einsicht kamen, dass dies geschehen müsse, wurde durch diese gewaltigen historischen Umwälzungen beschleunigt, die es zum Ende der achtziger Jahre und zu Beginn der neunziger Jahre gegeben hat. Hinzu kam noch, dass die handelnden Personen nicht nur Spuren hinterlassen wollten, sondern dass sie den europäischen Einigungsprozess so dingfest wie möglich und so irreversibel wie möglich machen wollten. Mitterand, Kohl und andere hatten dies als den wichtigsten Teil ihrer politischen Lebensaufgabe begriffen. Sie haben daher alles daran gesetzt, dies dann auch so umzusetzen. Sie waren also im guten Sinne des Wortes Überzeugungstäter. Es gab also eine günstige Konjunktur dafür: Die handelnden Personen bewegten sich in Harmonie mit den Notwendigkeiten der Zeit. Aber auch die Zeit selbst war so, dass sie imperativ nach neuen und weiterführenden Schritten auf dem Gebiet der Integration in Europa verlangte. 

Mayer: Es ging ja nicht nur um die Akzeptanz, die dafür erreicht werden musste, sondern es ging auch noch um etwas anderes. Ich frage Sie jetzt als Finanzminister: Es ging natürlich auch darum, einen Währungsraum zu schaffen. Es ist z. B. so, dass auch Lateinamerika ganz angetan ist von der Idee des Euro. Man sagt dort: "Wir können uns für unseren Raum sehr wohl auch eine eigene, gemeinsame Währung vorstellen." Es ist selbstverständlich noch ein weiter Weg dorthin. Auf der anderen Seite gibt es aber bereits weltweit den Dollar und im asiatischen Raum den Yen. Es gibt also bereits diese großen Währungen auf der Welt. Das ist eine Konstellation, aufgrund derer man einfach sagen musste, dass die Einführung des Euro auch aus wirtschaftlichen Gründen notwendig ist, dass das deshalb Sinn macht. Wie sehen Sie das als Finanzminister? 

Juncker: Eigentlich genauso. Wobei ich aber Währungsfragen nie nur als Finanzminister betrachten möchte. Denn das Wort "Währungspolitik" setzt sich nun einmal aus zwei Worten zusammen: aus Währung und Politik. Beides gehört zusammen. Man muss einfach sehen, dass es in dem Moment, in dem sich die europäische Geschichte und Geographie einander wieder annäherten und sich wiederfanden, die Notwendigkeit gab, diesem zusammenwachsenden Europa ein neues Ferment zu geben, etwas zu schaffen, das diesen Prozess, wie gesagt, irreversibel machen würde. Das war der Euro. Es gab damals die Überlegung, und es gibt auch heute noch diese Überlegung, dass Europa ja ein relativ kleiner Kontinent ist mit relativ wenigen Menschen: Wir werden die Probleme unserer Zeit und auch die Probleme, die noch kommen werden, nicht bewältigen können, wenn wir mit 14 oder 15 Währungen in einem Europa der 15 Staaten oder mit 24 Währungen in einem Europa der 25 Staaten im internationalen Wettbewerb antreten. Man entwickelt einfach keine Kraft, wenn man sozusagen 15- oder 24-strahlig operativ arbeiten will. Es gibt den US-Dollar und es gibt den Yen, der ganz klar den asiatischen Raum dominiert. Wir werden uns in 20 Jahren vor allem auch noch an die Idee gewöhnen müssen, dass die chinesische Währung weltweit eine übergeordnete Rolle spielen wird. 1,3 Milliarden Chinesen werden ihre Währung in die internationale Währungspolitik und auch überhaupt ins internationale politische Geschäft einbringen. Insofern hat es einfach seinen guten Sinn -- wenn man der europäischen Identität in der internationalen Politik eine gewichtigere Stimme verleihen möchte --, dass man dann diesen Währungszusammenschluss zustande bringt. Deshalb wurde der Euro gemacht. Es gibt also viele Gründe für den Euro, es gibt fast beliebig viele Gründe für den Euro. Wer auch immer über die Probleme unserer Zeit nachdenkt, wird merken, dass keins der Probleme unserer Zeit ohne eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu lösen sein wird. Mit dem Euro sind diese Probleme eben einfacher zu lösen. 

Mayer: Glauben Sie, dass der Euro auch das Selbstbewusstsein der Europäer gestärkt hat? 

Juncker: Ach, ich glaube, das wird noch ein wenig dauern, obwohl ich bereits jetzt sehr zufrieden feststelle, dass überall dort, wo Fremdenverkehr stattfindet, wo es also Touristen gibt, diese europäische Währung wie eine Selbstverständlichkeit angenommen worden ist und sich die Menschen darüber freuen, dass sie überall mit denselben Geldscheinen und Münzen ihre Geschäfte abwickeln können. Wir unterschätzen das manchmal, aber das wird auf Dauer ein sehr identitätsstiftendes Element werden. Ich glaube, dass die Europäer allen Bedenkenträgern zum Trotz – und trotz der massiven Einwände der deutschen Professorenschaft – diese Währung zu ihrer Währung gemacht haben. Der Euro ist unser Geld!

Mayer: Natürlich ist diese Währung auch nur so stark wie die Wirtschaftskraft in den Ländern, die diese Währung tragen. Heute heißt es z. B. in der Luxemburger Zeitung "Luxemburg Post" im Zusammenhang mit einer Untersuchung: "Am meisten Geld für Freizeit, Ferien oder Sparen bleibt nach dem Erwerb des Basiswarenkorbes in Luxemburg und auch in Dublin übrig." Das heißt also, Luxemburg steht optimal da. Das ist natürlich ein hervorragendes Zeugnis, das diesem Land ausgestellt wird. In Deutschland sieht es im Moment nicht ganz so gut aus, wie wir alle wissen. Sie selbst waren ja auch in Neuhardenberg geladen, bei der Kabinettsklausur. In diesem Zusammenhang würde ich nun gerne ein wenig auf die Stabilitätskriterien zu sprechen kommen. Wie wichtig sind denn Ihrer Meinung nach diese Stabilitätskriterien? Es gab da ja auch aus Brüssel z. B. bei Romano Prodi so ein bisschen die Anmerkung, die, salopp ausgedrückt, lautete, dass man das nicht ganz so streng auslegen müsste. Wie sehen Sie das? 

Juncker: Wir haben den Stabilitätspakt vereinbart, bevor es zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion kam. Dieses Stabilitätsgebot ist ein Gebot, das nicht nur gedacht war für die Vorbereitungsphase dieser Wirtschafts- und Währungsunion. Nein, dieses Gebot sollte permanenten Charakter haben. Aus diesem Grund bin ich sehr dagegen, mit diesen Stabilitätszwängen einen leichtfertigen Umgang zu üben. Dies heißt aber nicht, dass man in einer bestimmten konjunkturellen Lage sich nicht doch auch sehr genau mit den Teilstücken dieses Paktes auseinander setzen muss. Mir ist das lieber, als dass Investitionen in den führenden Teilen der Eurozone, sprich in Deutschland, geschleift werden. Mir ist es lieber, dass man ein paar Millimeter neben diesem absoluten Stabilitätsgebot liegt, als dass die gesamte europäische Wirtschaft durch einen massiven Investitionsabbau beispielsweise in Deutschland nach unten gezogen wird. Das hat also auch mit der Koordinierung der Wirtschaftspolitik in der Eurozone zu tun: Da müssen Deutsche, Franzosen, Italiener und auch die kleineren Mitgliedstaaten der Eurozone intensiver zusammenarbeiten, als sie das zurzeit tun. 

Mayer: Heißt das, dass man im Zweifelsfall diese Stabilitätskriterien auch mal reformieren muss, wenn man erst einmal bestimmte Erfahrungen damit gesammelt hat? 

Juncker: Ach, ich bin nicht sehr dafür, dass man das reformiert, denn es wird die Wissenschaft und die Märkte zu sehr beschäftigen, wenn wir uns ans Eingemachte heranwagen. Nein, es geht darum, in einer gut koordinierten europäischen wirtschaftspolitischen Schnittmenge diejenigen Dinge zu tun, die insgesamt getan werden müssen, damit es in Europa zu mehr Wachstum und zu mehr Arbeitsplätzen kommt – ohne das man dabei jedes Mal die Stabilitätssystematik in Frage stellt. Ich bin sehr dagegen, dass man jetzt in die Logik neu entstehender Verschuldungsspiralen eintritt: Dies ist schlechte Politik. Ich bin aber auch sehr dagegen, dass man mit dem Stabilitätspakt einen irrationalen, fetischartigen Umgang pflegt. Gesunder Menschenverstand ist hier gefragt. Das ist freilich schwierig, denn dieser ist, wie Sie wissen, sehr unterschiedlich verteilt. 

Mayer: Bei den Professoren, die Sie vorhin angesprochen haben, mag das in der Tat so sein. Sehen Sie denn insgesamt eine Diskrepanz zwischen den deutschen Professoren und der deutschen Politik? 

Juncker: Ich glaube, dass viele deutsche Professoren, die sich zu Beginn der neunziger Jahre noch etwas abschätzig über die währungspolitischen Ambitionen der Europäischen Union unterhalten haben, in der Zwischenzeit gemerkt haben, dass die Europäer dann, wenn sie einen festen Plan mit Überzeugung zu vertreten beginnen und an diesem Plan dann auch festhalten, zu großen Leistungen fähig sind. Es hat in der deutschen Wissenschaft doch kaum jemand der europäischen Politik zugetraut, dass wir die Irrungen und Wirrungen der Vorbereitungsphase des Euro so überwinden würden, dass wir uns heute zu zwölft diese Währung teilen. Dies ist und bleibt ein Erfolg europäischer Politik. 

Mayer: Wie sehen Sie denn – nicht unter pekuniärem Aspekt, sondern im Hinblick darauf, wo denn die Grenzen Europas eigentlich liegen – die bevorstehende Osterweiterung? 

Juncker: Bei der Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa hin ist die Frage nach den Grenzen Europas eigentlich noch nicht gestellt. Budapest, Sofia, Prag und Warschau sind so sehr europäische Städte wie München oder Regensburg oder wie Luxemburg. Niemand wird die europäische Dimension der jetzt beitretenden Länder und Nationen ernsthaft in Abrede stellen können. Aber die Erweiterungsrunden, die nach dieser jetzigen Erweiterungsrunde kommen werden, werden sehr wohl die Fragen nach den Grenzen der Europäischen Union aufwerfen. Wobei ich mir allerdings nicht sehr schlüssig darüber bin, ob man...

Mayer: Denken Sie hierbei an die Balkanstaaten? 

Juncker: Nein, der Balkan ist noch eine relativ einfache Frage, denn rein geographisch liegt -- auch von München aus betrachtet -- der Balkan einfach noch vor Athen und nicht dahinter. Insofern ist es wohl so, dass es mitten in Europa nicht irgendwie ein Stück Nicht-Europa gibt. 

Mayer: Wie steht es mit Istanbul? 

Juncker: Die Frage nach der Türkei ist da schon etwas schwieriger zu beantworten. Wobei ich hier aber gerne anführen möchte, dass die Frage nach den Grenzen Europas nicht nur eine geographische und nicht nur eine kulturelle ist. Nein, das ist auch eine Frage nach Qualität und Intensität der gemeinsamen politischen Absichten. Es macht wenig Sinn, ein Land zum Mitglied in der Europäischen Union zu machen, so europäisch es auch sei, wenn es mit der EU als gesamtem politischen Entwurf für die nächsten Jahrzehnte nichts anzufangen weiß, wenn es Europa nicht sozusagen auch im Bauch hat. Das muss man also nicht nur im Kopf haben: Europa ist auch eine Sache des Bauches. Nicht nur, aber eben auch. Ich glaube also, dass die Grenzen Europas dort verlaufen, wo die Ambitionen divergieren. Europa ist überall dort, wo die Ambitionen konvergieren. 

Mayer: Sie plädieren also dafür, die Karte mehr oder weniger außer Acht zu lassen? 

Juncker: Nein, ich würde nicht sagen, dass wir sie außer Acht lassen sollten. Es macht einfach wenig Sinn, auf der anderen Seite des Mittelmeeres nach neuen Mitgliedern der Europäischen Union Ausschau zu halten. Es würden sich dort bestimmt einige interessierte Länder finden lassen. Aber wichtiger als die Frage nach den geographischen Grenzen scheint mir die Frage des gemeinsamen Qualitätsanspruchs zu sein. 

Mayer: Was bedeutet denn Ihrer Meinung nach die Osterweiterung in finanzieller Hinsicht? Wir haben ja gerade im Moment die große Diskussion um die Agrarpolitik und um die Frage, wie das alles finanziert werden soll, wenn Europa größer wird. Denn es wird ja allenthalben begrüßt, dass eine Erweiterung stattfindet. Auf der anderen Seite muss man sich aber bei diesen Fragen dann doch auch ganz real zusammenraufen. Ist das eigentlich Ihrer Meinung nach eine kleinkarierte Diskussion? Oder würden Sie einfach sagen, dass man schauen muss, was kommt? 

Juncker: Ich finde diese Debatte nicht notwendigerweise kleinkariert, aber auch nicht gerade großmaschig. Worum geht es denn eigentlich bei dieser Erweiterung nach Ost- und Mitteleuropa? Man muss hier ja die eigentlichen Ziele klar vor Augen haben. Es geht doch darum, ob wir es schaffen, dass diese zwei Teile Europas, die durch die Nachkriegsgeschichte brutalst getrennt waren, sich in Harmonie aufeinander zu bewegen. Lassen sie sich so miteinander vermengen, dass daraus wieder ein großes und starkes Stück neues Europa entsteht? Wir haben doch über sechs Jahrzehnte hinweg in allen möglichen Sonntagsreden andauernd verkündet und proklamiert, dass es reichen würde, wenn sich die Menschen in Ost- und Mitteleuropa des Kommunismus entledigten: Die Fenster und Türen der EU wären weit geöffnet für alle demokratischen Staaten, die dann Mitglied in der EU werden möchten. Jetzt, wo diese Arbeit geleistet worden ist von den Menschen in Mittel- und Osteuropa – und nicht von uns! –, fangen viele Menschen im westlichen Teil Europas, im von der Sonne verwöhnten Teil des Nachkriegseuropas an, Türen und Fenster zu schließen und zu vernageln. So geht das nicht! Mit den Menschen kann man derartige Spielchen nicht treiben! Jetzt wird in der Tat die Frage der Finanzierung gestellt. Aber es ist doch so: Nicht-Europa hat auch einen erheblichen Preis! Wenn sich diese Staaten in Mittel- und Osteuropa, die Ende der achtziger Jahre und zu Beginn der neunziger Jahre ihre Souveränität zurückerobert haben, von Europa wegbewegt hätten, anstatt sich auf Europa zu zu bewegen, wenn diese Staaten also untereinander stärker den Dissens anstatt den Konsens, den man heute beobachten kann, kultiviert hätten, wenn also in diesem Teil Europas Instabilität Einzug gehalten hätte, dann wäre der Preis, den wir zu zahlen hätten, ganz erheblich größer als derjenige, den wir jetzt zu bezahlen haben. Wir bringen insgesamt in Europa bis zu maximal 1,27 Prozent unseres gesamteuropäischen Bruttosozialprodukts auf, um den Haushalt der EU zu finanzieren. Dieses Jahr, also im Jahr 2004, liegt dieser Anteil sogar bei unter einem Prozent. Wir müssen uns in unserem Teil Europas, also im westlichen Teil Europas vielleicht doch endlich an den Gedanken gewöhnen, dass wir auch ein bisschen teilen mit denjenigen Menschen, die nicht durch ihr eigenes Verschulden nach dem Zweiten Weltkrieg auf der Schattenseite des Kontinents groß geworden sind. Es ist uns gut gegangen und ihnen ging es weniger gut. Wir haben da eine Bringpflicht!

Mayer: Fragen wir doch mal andersherum nach den positiven Seiten: Welche Dimensionen eröffnet denn eine solche Erweiterung? Denn eine derart erweiterte und große EU ist ja auch eine Zukunftsdimension. 

Juncker: Dass es nicht einfach werden wird, hier Länder, Menschen, Räume, Nationen, Staaten, Kulturlandschaften usw. aneinander zu fügen, ist ja keiner besonderen Beweisführung bedürftig. Aber dass wir auch reicher werden dadurch, dass sich so viele Menschen in Europa frei bewegen können, dass Geist, Wissenschaft und Forschung neue Möglichkeiten erhalten, dass sich Menschen vielerorts begegnen können, Menschen, die vor dem Fall der Mauer überhaupt nicht wussten, wer wo wie lebt, das ist doch eine unwahrscheinlich anspornende Gemeinschaftsaufgabe, die da unser Kontinent zu leisten hat. Wenn wir das schaffen – und wir werden das schaffen –, werden wir in der Welt ein Beispiel dafür abgeben, wie ein gefolterter und blutender Kontinent nach Jahrzehnten wieder in Frieden zusammengeführt werden kann. Es gibt doch wirklich viele Menschen auf der Welt, die nach Europa blicken und mit Staunen sehen, wie die Europäer aus den Fehlern und Fehlleistungen der Vergangenheit gelernt haben. Anstatt dauernd zu erklären, die Welt wäre schlecht und nichts wäre so, dass man es wirklich betreiben sollte, sollten wir uns mit einer gewissen Anwandlung von Stolz zu diesen europäischen Leistungen bekennen. Ich bin also völlig gegen diese Kulturpessimisten, die uns dauernd erklären, alles wäre schlecht und nichts würde mehr wirklich eine Bedeutung haben. Das, was wir in Sachen Euro geleistet haben, und das, was wir in Sachen Erweiterung zustande gebracht haben, hat trotz aller Fehler und Mängel, die es bei beiden Projekten gibt, dazu geführt, dass der Frieden in Europa sicherer geworden ist. 

Mayer: Herr Juncker, das was Sie sagen, bringt mich natürlich unmittelbar zur Außen- und Sicherheitspolitik. Wir haben soeben im Hinblick auf die Osterweiterung und die Frage, ob es noch zu Europa gehört oder nicht, von der Türkei gesprochen. NATO-Mitglied ist die Türkei jedenfalls. Wie ist denn überhaupt diese europäische Außen- und Sicherheitspolitik Ihrer Meinung nach insgesamt zu definieren? Denn da gibt es ja im Moment doch relativ unterschiedliche Strömungen. 

Juncker: Das Thema "gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik" ist ein schwieriges Thema, weil es diese gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht gibt. Sie heißt nur so. 

Mayer: Aber die Bedrohung ist doch überall die gleiche. 

Juncker: Ja, die Bedrohung ist für alle gleich. Aber nicht alle werfen denselben Blick auf die Bedrohungskulisse und hinter diese Bedrohungskulisse. Was wir also brauchen, ist ein stärkerer europäischer Zuschnitt der so genannten gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, damit diese auch wirklich eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wird. Da wird die Schaffung des Postens eines europäischen Außenministers von hervorragender Bedeutung sein. Denn wir brauchen einfach jemanden, der aus gesamteuropäischer Perspektive heraus außenpolitische Positionen vorformuliert, indem er initiativ wird in diesem Bereich. Wir brauchen jemanden, der die Initiativen der Nationalstaaten, die es ja immer noch geben wird, bündelt und kanalisiert, damit langsam aber sicher so etwas wie eine europäische Diplomatie entsteht. Dies setzt selbstverständlich voraus, dass wir uns als Europäer außenpolitisch von den Ereignissen nicht überraschen und überrennen lassen. Es gibt viele Krisen weltweit, die wir heute schon auf uns zukommen sehen: Dennoch beschäftigen wir uns mit diesen Krisen erst, wenn sie sich über der EU oder in direkter Nachbarschaft der EU entladen, statt dass wir uns prophylaktisch und präventiv in die Krisenursachen einmischen, bevor es überhaupt zu einer Krise kommen kann. Dafür brauchen wir aber entsprechende Organe. Dies können jedenfalls die Mitgliedstaaten alleine mithilfe der klassischen Diplomatie nicht mehr leisten. 

Mayer: Es geht doch eigentlich um die Frage, inwieweit Europa nun für sich selbst Verantwortung übernimmt. Natürlich haben wir aus bekannten Gründen diese Diskussion ganz speziell in Deutschland, das ist klar. Aber letztlich ist damit immer die Frage verbunden, wer in Europa welche Verantwortung übernimmt. Und wenn dieses Europa ein gemeinschaftliches ist, dann stellt sich doch die Frage: Leisten wir für unsere Sicherheit selbst die Verantwortung oder lassen wir uns von Freunden helfen? Oder gilt beides? 

Juncker: Ich glaube nicht, dass dies in einem sich gegenseitig ausschließenden Verhältnis zueinander steht. Die Vorstellung, die Europäer könnten kurzfristig und im Alleingang für ihre Sicherheit sorgen, halte ich für eine aberwitzige Vorstellung. Denn die europäische Sicherheitsbedrohung ist ja nicht ein innereuropäischer Vorgang, sondern ein weltweiter Vorgang. Dort würden wir als Europäer alleine die Dinge nicht so in den Griff bekommen, dass wir aus eigenem Antrieb heraus und alleine wirksam werdend diese europäische Sicherheitsbedrohungen bewältigen könnten. Nein, der Sicherheit und der Stabilität weltweit und auch auf unserem Kontinent ist am besten damit gedient, wenn Europäer und Amerikaner gemeinsam handeln. Wobei es wünschenswert wäre, und so wird es in Zukunft auch sein, dass die europäische Dimension des nordatlantischen Bündnisses gestärkt wird, dass die Europäer mehr Verantwortung für sich selbst tragen, als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Da darf man sich auch nicht irre machen lassen durch Warnungen oder durch Eilmeldungen aus Washington, die die Europäer jetzt plötzlich davor warnen, ihre verteidigungspolitischen Notwendigkeiten ernst zu nehmen. Es war doch in den letzten 30 Jahren so, dass die Amerikaner nicht müde wurden, uns daran zu erinnern, dass wir in Europa mehr Verantwortung auf sicherheits- und verteidigungspolitischem Gebiet schultern müssten. Jetzt möchten wir das tun und jetzt werden wir das auch tun. Ich bin dagegen, dass wir das quasi in einem Putschverfahren gegen die Amerikaner in die Wege leiten. Ich möchte vielmehr, dass wir das gemeinsam mit den Amerikanern machen, aber eben mit einem stärkeren europäischen Zuschnitt. Normalerweise sind ja die Sicherheitsbedürfnisse in den USA und in Europa ähnlich gestrickt, sie müssen aber nicht immer nach dem gleichen Strickmuster verlaufen. 

Mayer: Nun ist die Frage, wie sich Paris dazu verhält. Es hat ja eine geschichtliche Dimension, dass Paris auf diesem Gebiet immer eine etwas andere Meinung vertreten hat. Frankreich muss sich aber, wenn ich Sie richtig interpretiere, ebenfalls einer solchen gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik unterordnen. 

Juncker: Das gilt für Berlin, für Paris und alle anderen ebenfalls: Wenn es eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gibt und geben soll, dann muss sie allgemeinverbindlich sein. 

Mayer: Ist das Ihrer Meinung nach wirklich zu schaffen? 

Juncker: Das ist nicht kurzfristig zu schaffen. Aber ich hätte gerne, dass wir uns jetzt auch anlässlich der Regierungskonferenz, die zu einem europäischen Verfassungsentwurf führen soll, die Instrumente an die Hand geben, die uns im Laufe der Zeit behilflich sein werden, um zu dieser europäisch formulierten und auch europäisch präsentierten gemeinsamen Außenpolitik zu kommen. Kurzfristig halte ich das jedoch nicht für machbar. Der Nationalstaat bleibt der primäre Akteur in der internationalen Politik. Aber weil es so viele Akteure gibt, macht es Sinn, wenn die Europäer mit einer Stimme sprechen würden. Das werden auch diejenigen, die die Diplomatie als nationale Bauchladenpolitik begreifen und immer wieder dieselben Fähnchen schwenken, eines Tages begreifen. Wenn man so klein und winzig ist wie Luxemburg oder Belgien oder Dänemark, dann hat man das schon längst begriffen. Größere Länder brauchen dazu scheinbar etwas mehr Zeit. 

Mayer: Sie treffen sich ja immer auf den so genannten Gipfeltreffen. Sie haben soeben auch die Regierungskonferenz angesprochen. Wir als Journalisten sind aufgrund von Sicherheitsvorkehrungen im Laufe der Zeit leider immer weiter weggerückt vom eigentlichen Geschehen, und der Zuschauer an den Fernsehbildschirmen zu Hause kann es sich erst recht nicht mehr vorstellen, wie denn überhaupt Staats- und Regierungschefs miteinander umgehen. Wie ist es eigentlich, wenn Sie da so mit den wichtigsten Staats- und Regierungschefs zusammenkommen und hinterher ein Ergebnis präsentieren – oder auch womöglich nur etwas, das so aussieht wie ein Ergebnis? Muss man sich das so vorstellen, dass da auf den Gängen gemauschelt wird? Wird das in der Regel auf dem Tisch abgesegnet? Wie läuft das also? 

Juncker: Ach, es gibt von Gipfel zu Gipfel unterschiedliche Methoden, wie man zu Einigungen findet. Sehr oft findet das im Sitzungssaal statt, sehr oft muss aber auch zwischen den Sitzungen und während der Sitzungen in Dreier-, Vierer- oder Sechsergesprächen versucht werden, die entsprechenden Dinge zu bewegen. 

Mayer: Es ist ja sehr erstaunlich, dass im Vorfeld solcher Sitzungen viele Themen oftmals noch offen sind. Da spielen dann möglicherweise auch noch die Medien eine gewisse Rolle, die sagen: "Hier ist noch ein Thema offen und dort ebenfalls! Und es führt scheinbar kein Weg zueinander." Dann findet einen Tag lang oder eineinhalb Tage lang so eine Sitzung statt und hinterher wird verkündet, dass man sich doch noch in letzter Minute geeinigt hat. Ist es wirklich so? 

Juncker: Wir tagen ja nicht, um uns nicht zu einigen. Sitzungen finden in der Regel statt, damit man sich einigt, damit sich diejenigen, auf die es wirklich ankommt, nämlich die Staats- und Regierungschefs, die Außenminister, zusammensetzen, um Lösungen in die Wege zu leiten. Ich habe also die Reise zu einem europäischen Gipfel nie begriffen als eine Reise zu einem Gipfel des Dissenses, sondern immer als eine Reise in die europäische Zukunft. Das heißt, dass man Sitzung für Sitzung die Dinge so abarbeiten muss, dass es immer wieder zu konsensbildenden Elementen kommt, die den europäischen Zug auf dem Gleis belassen und ihn voranbringen. 

Mayer: Das müssen aber auch alle 15, die zu diesem Gipfel fahren, so sehen. 

Juncker: Wer nie einen Kompromiss schließt, ist nicht demokratiefähig und auch nicht integrationsfähig in Europa. Jeder muss also Wasser in seinen Wein gießen: Das müssen die Großen tun, das müssen die Kleinen tun. Und so wird das auch gemacht. Für mich ist das hin und wieder schon auch ein frustrierendes Geschäft, weil ich viele Kompromisse, die wir schmieden, eigentlich kaum noch für Lösungsvorschläge halte, weil sie so verwässert sind, dass sie dann fast schon nicht mehr tragfähig sind. Aber mir ist ein schlechter europäischer Kompromiss immer noch lieber als das Nicht-Europa, das dann eintreten würde, wenn wir völlig kompromissunfähig geworden wären. Ich habe es also lieber, wir schreien miteinander, als dass wir aufeinander schießen – denn das hatten wir schon einmal. 

Mayer: Noch eine weitere Frage zum Blick hinter die Kulissen. Auch Sie haben Präsident Bush erlebt bei verschiedenen Treffen. Er war ja auch zu Beginn seiner Amtszeit in Europa und hat sich bei den europäischen Staats- und Regierungschefs vorgestellt. Man sieht ihn ja immer nur im Fernsehen und über die Medien vermittelt: Wie haben Sie denn diesen amerikanischen Präsidenten erlebt? Dies vielleicht auch vor dem Hintergrund, was so alles über ihn in den Medien erzählt wird. Stimmt denn das alles? 

Juncker: Ich habe den amerikanischen Präsidenten mehrfach getroffen: sechs, sieben Mal und auch schon in seinem Büro im Weißen Haus. Ich befinde mich nicht in allen Politikpunkten in Übereinstimmung mit dem amerikanischen Präsidenten und ich finde es auch nicht richtig, dass viele Amerikaner denken, man müsse automatisch mit allem, was die Amerikaner denken, einverstanden sein, aber vieles von dem, was in den europäischen Medien über Präsident Bush berichtet wird, erinnert mich mehr an Karikaturen als an die Resultate eines streng und genau beobachtenden Journalismus. 

Mayer: Gut. Kommen wir noch zum Thema "Konvent". Das ist ja eigentlich der nächste große Schritt. Dabei geht es selbstverständlich um viele verschiedene Punkte. Es geht um eine europäische Verfassung, um die Frage, wie die Rechte aussehen und verteilt werden. Und es geht auch darum, wie die einzelnen Nationen bzw. sogar die einzelnen Regionen dort weiterhin ihre Identität bewahren können. Sie haben sich ja teilweise sehr kritisch über das Ergebnis dieses Konvents geäußert, einfach auch deshalb, weil Ihnen, wenn ich das richtig verstanden habe, das Ergebnis noch dünn zu sein schien. Sie kritisieren also nicht die Idee, die dahinter steckt, sondern das dünne Ergebnis. Ist das von mir so richtig interpretiert? 

Juncker: Es gibt in der Tat in einigen Bereichen Ergebnisse, die zwar dick aufgetragen werden, die aber dennoch relativ dünn ausgefallen sind. Generell gilt jedoch, dass die Konventsarbeiten von einer erstaunlichen Qualität sind und sie Europa auch wirklich weiterbringen. Ich habe nur kritische Anmerkungen zu dem ganzen Bereich der institutionellen Neuausrichtung der EU angebracht: zu dieser Idee, dem Europäischen Rat einen gewählten Präsidenten an die Spitze zu setzen, zu dem Vorschlag, die rotierende Präsidentschaft abzuschaffen. Ich denke ja selbst auch, dass man diese rotierende Präsidentschaft abschaffen muss, also die Tatsache, dass alle sechs Monate ein anderes Land den Vorsitz führt. Ich habe nur kritisiert, dass man nicht gesagt hat, durch was denn das, was man abschaffen will, ersetzt werden soll. Dies sind Fragen, die einfach einer weiteren Klärung in der Regierungskonferenz bedürfen. Darüber hinaus hätte ich gerne, dass wir uns in Fragen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wirklich ein effizienteres Instrumentarium an die Hand geben, um uns außenpolitisch besser artikulieren zu können. Des Weiteren finde ich noch immer, dass es im Bereich der sozialen Dimension der EU nur ein Angebot mit mangelhafter Ware gibt. Das sind Punkte, die man versuchen muss, in Ordnung zu bringen. Wobei ich mir keinesfalls die größten Illusionen machen, dass man das alles in Ordnung wird bringen können. Aber angesprochen werden muss es. Und die Dinge müssen sich in den nächsten Monaten so bewegen, dass die Nachfolgegeneration etwas an der Hand hat, womit sich auch in den nächsten Jahrzehnten die Politik gestalten lässt. 

Mayer: Sind Sie denn optimistisch hinsichtlich dessen, dass das jetzt vielleicht nur eine Wegstrecke ist, dass im schlimmsten Fall Europa jetzt im Moment und für eine bestimmte Zeit eben nicht so schnell vorwärts kommt, wie das vielleicht zu Zeiten der Einführung des Euro der Fall gewesen ist? Oder glauben Sie, dass es mit einem ganz großen Europa dann automatisch immer noch schwieriger werden wird, etwas zu erreichen? Hier würde mich wirklich interessieren, ob der luxemburgische Premierminister optimistisch ist, dass Europa auch weiterhin gedeiht. 

Juncker: Wir haben eigentlich in einem Jahrzehnt zwei epochale Projekte in der EU zustande gebracht: den Euro und die Erweiterung. Das sind keine Petitessen, nein, das hat schon kontinentale Grandeur, was wir da zustande gebracht haben. Aus diesem Grund traue ich den Europäern eigentlich mehr zu, als ich ihnen zutraue, wenn ich sie mir von innen her anschaue. Ich bin weder Optimist noch Pessimist: Ich versuche wirklich, und das ist einfach nicht anders auszudrücken, Realist zu sein. Mein Realitätssinn lässt mich jedenfalls ganz deutlich spüren, dass wir diese Jahre nutzen müssen, um die europäischen Dinge wirklich dingfest zu machen. Wir müssen die Instrumente wirklich so anlegen und die politischen Absichten wirklich so gestalten, dass die europäische Integration irreversibel wird. Sehen Sie mal, diejenigen, die im Jahr 2030, 2040 in Europa regieren werden – das sind Menschen, die heute vier, fünf Jahre alt sind oder noch nicht einmal geboren sind –, die die Gesellschaften in Europa dann animieren werden: Was werden denn diese Menschen noch wissen von den eigentlichen Gründen, die die Nachkriegseuropäer dazu gebracht haben, die europäische Integration regelrecht zu forcieren? Das waren ja nicht nur die tätigen Staatsmänner, sondern auch die Völker selbst. Adenauer und Schuman und all die anderen Politiker hätten ja nichts bewirken können, wenn die Völker nach all dem Schlimmen, das sie erlebt haben, nicht auch gewollt hätten, dass derartiges nicht wieder passieren darf. Aber die Menschen, die im Jahre 2030 oder 2040 in der Politik, in der Kunst, in der Kultur, in der Gesellschaft schlechthin tätig sein werden, werden davon nichts mehr wissen. Sie werden von Hitler und Stalin so weit entfernt sein wie wir beide heute von Wilhelm II. Was wissen wir denn von Wilhelm II. heute noch? Außer, dass es ihn gegeben hat? Im Jahre 2040 wird es nicht reichen, nur zu wissen, dass es Hitler gegeben hat: Nein, es ist wichtig, dass man dann in Europa auch in bestimmten Verhältnissen leben wird, in Verhältnissen, die aus den Reaktionen resultieren, die es in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund dieser schlimmen Ereignisse gegeben hat. Man wird also auch in Zukunft noch lernen und verstehen müssen, warum es genau diese bestimmten Reaktionen nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat. Wer dies heute und in Zukunft nicht versteht, wird die europäischen Dinge nicht dingfest machen können. So lange meine Generation, so lange unsere Generation noch am Ruder ist, also eine Generation, die von den eigenen Vätern und Müttern noch weiß, wieso und weshalb die Dinge so gemacht werden mussten, wie sie nun gemacht worden sind, so lange müssen wir dafür sorgen, dass diese Dinge endgültig in Ordnung gebracht werden. Denn diejenigen, die nach uns kommen werden, werden das weniger intensiv spüren als die Kinder der Kriegsgeneration. Deshalb muss das jetzt gemacht werden. 

Mayer: Das erinnert mich stark an Helmut Kohl: Man muss wissen, woher man kommt, um zu wissen, wohin man geht. 

Juncker: Ja. 

Mayer: Das war ein schönes Schlusswort. Vielen Dank, Herr Juncker, für dieses Gespräch. Das war das Alpha-Forum, wir waren heute zu Gast im Großherzogtum Luxemburg. Vielen Dank fürs Zuschauen, ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend. 

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