Jean-Claude Juncker im Gespräch mit Phoenix

PHOENIX-Ansage: Heute "Im Dialog" : Alexander Kähler mit Jean-Claude Juncker...

PHOENIX: ...dem dienstältesten Regierungschef in der Europäischen Union, obwohl er einer anderen, jüngeren Generation angehört als beispielsweise Gerhard Schröder oder Jacques Chirac...

Jean-Claude Juncker: ...deutlich jünger...

PHOENIX: ...deutlich jünger, und den man in Luxemburg Staatsminister nennt. Herzlich willkommen bei PHOENIX.

Jean-Claude Juncker: Guten Abend.

PHOENIX: Herr Juncker, in der Tageszeitung Die Welt ist über Sie zu lesen "Er genießt das Privileg des Kleinsten und versteht es zu nutzen als Instrument für Europa und in eigener Sache. Bisweilen schärft er es gar zur Waffe, die gefürchtet ist bei den Großen". Fühlen Sie sich mit dieser Bewertung gut verstanden?

Jean-Claude Juncker: Ach, sie ist etwas verkleinernd. Ich mache aus der Größe, respektiv der Nicht-Größe meines Landes selten ein Argument, weil ich denke, in der Demokratie zählt nicht die demographische oder die geographische Größe, sondern halt die Kraft der Argumente, und die Argumente sind mehr oder weniger stark, je nach Sachlage, aber nie nach geographisch oder demographischer Lage. Also ich kann mit dem, was Ihre Welt-Kollegen aufgeschrieben haben, leben, aber es beschreibt doch etwas eingrenzend die Möglichkeiten, die man hat.

PHOENIX: Dieses Zitat könnte ja doch eine recht boshafte Beschreibung Ihres Landes sein, das ja die Betuchten aller Länder ins Finanz- und Steuerparadies Luxemburg lockt, damit sie dort ihr Schwarzgeld vor den heimischen Finanzämtern verstecken können, und dann das Motto "Luxemburg blüht" und die Löcher in den Staatshaushalten der anderen Länder werden immer größer.

Jean-Claude Juncker: Ja, wenn es so wäre, wie Sie sagen dass es wäre, wäre die Antwort auf die Frage, was andere Länder zu tun hätten, damit sie keine Finanzierungslöcher hätten, ja relativ leicht zu beantworten. Es reichte ja, den Finanzplatz Luxemburg, wenn es so wäre wie Sie sagen, zu schließen, damit es den Berlinern besser ginge. Mal angenommen wir täten dies, sind Sie wirklich der Meinung, dass es dem deutschen Haushalt besser ginge? Ich bin der Meinung nicht. Und im Übrigen ist Luxemburg kein Steuerparadies. Ich mag das sehr, wenn Sie das sagen, in der Hoffnung, dass viele Luxemburger Ihrer Sendung Aufmerksamkeit schenken. Weil kurz vor der Wahl wäre es doch gut, wenn die Luxemburger so im Gefühl bleiben könnten, dass Luxemburg ein Steuerparadies wäre. Das ist es nicht. Im Übrigen ist Deutschland ein Steuerparadies wie Luxemburg es auch ist, weil Luxemburger, die ihre Geldguthaben in Deutschland haben, zahlen auch in Deutschland keine Zinssteuer, Franzosen nicht, Briten nicht, Niederländer nicht, andere nicht. Insofern ist Luxemburg diesbezüglich kein Sonderfall. Ansonsten haben wir inzwischen eine europäische Regelung getroffen, an der wir maßgeblich beteiligt waren, dass wir diese Dinge europaweit so regeln, dass es diese Steuerflucht nicht mehr gibt, die kein luxemburgisches Phänomen ist, sondern ein gesamteuropäisches Phänomen ist. Diese Regelung wird jetzt in die nationalen Gesetzgebungen überführt.

PHOENIX: Wir wollen noch etwas über Ihre Biographie reden. Sie sind 49 Jahre, sagen wir mal, jung. Mit 28 - da machen in Deutschland manche erst Ihr Universitätsexamen - waren Sie bereits Staatssekretär in der luxemburgischen Regierung. Sie waren noch keine 30 und Arbeitsminister dieses Landes und mit gerade 40 Jahren wurden Sie Regierungschef von Luxemburg. Leute wie Sie nennt man landläufig "Überflieger".

Jean-Claude Juncker: Ach ich weiß nicht, ob das mit überfliegen und Überfliegerei viel zu tun hat. Wahr ist, dass ich relativ jung in Regierungsverantwortung gekommen bin, fast hätte ich gesagt „geraten bin“. Das kann man sich so nicht aussuchen. Ich hätte auch lieber, wie Helmut Schmidt zu sagen pflegt, einen bürgerlichen Beruf ausgeübt und erst dann politische Verantwortung übernommen. Aber wenn mit 28 Jahren jemand Sie fragt, ob Sie Mitglied seines Kabinetts werden möchten, und wenn Sie an politischen Dingen interessiert sind, dann braucht es Heldenmut, um zu sagen: Ich mache das nicht. Es braucht im Übrigen auch Heldenmut, um zu sagen: Ich mache das. So lange wie es gedauert hat, war es ja auch nicht geplant. Inzwischen dauert das 20 Jahre und ich mache das gerne, konjunkturell manchmal weniger gern, aber ein Überflieger bin ich nicht. Ich weiß, wo ich herkomme, und ich weiß, wo ich hinfliege.

PHOENIX: Sie sind in den 9 Jahren, in denen Sie ja Regierungschef sind, auch gleichzeitig Finanzminister des Landes gewesen. Ist das ein Modell, das Sie auch Gerhard Schröder empfehlen können?

Jean-Claude Juncker: Ach ich weiß nicht, ob er das schaffen würde. Aber ich gebe ja gerne zu, die Dinge in Berlin und die Dinge in Luxemburg liegen ein bisschen anders. Aber das hat mit meiner Faulheit wesentlich zu tun. Ich war Finanzminister, eigentlich seit 1984 Haushaltsminister und ab 1989 Finanzminister, kannte die Dinge einigermaßen. Ich habe mir damals gedacht, anstatt mich jetzt mit einem Finanzminister herumplagen zu müssen, mache ich das lieber selbst. Ich weiß, wie die Dinge liegen, wie die Probleme sich stellen, sowohl in Luxemburg als auch in Europa, und das hat weniger Konsultierungszeit als Folge, wenn man das selbst macht. Also er kann es ja mal versuchen.

PHOENIX: Gut. Sie bezichtigen sich jetzt der Faulheit, aber wie segensreich es sein kann, dass der Regierungschef gleichzeitig Finanzminister ist, das war im Dezember 1996 auf dem EU-Gipfel in Dublin zu besichtigen. Nach heftigem Ringen war es vor allem Ihrem Verhandlungsgeschick zu verdanken, dass der Stabilitätspakt zustande kam. Die Berliner Tageszeitung TAZ schrieb damals über Sie: "Dabei hat es nicht geschadet", so das Zitat, "dass Juncker mehr Ahnung von der Währungsunion hat als alle anderen Premiers und Kanzler zusammen". Verstehen wir das also richtig: Jean-Claude Juncker, der Sir Lancelot der europäischen Tafelrunde?

Jean-Claude Juncker: Ich muss ja nicht alle Meldungen und Einlassungen der deutschen Presse massiv dementieren.

PHOENIX: Der Stabilitätspakt war ja die Voraussetzung für die gemeinsame Währung. Unser aller Euro, der jetzt vor Kraft kaum laufen kann, solches würde man vom Stabilitätspakt momentan ernsthaft nicht behaupten, das Meisterstück von Jean-Claude Juncker, wie Rotkäppchen allein im Wald bedroht von den bösen Wölfen aus Berlin und Paris.

Jean-Claude Juncker:  Ach nein, ich sehe mich nicht bedroht. Ich habe mich - das war 1996, das ist schon längere Zeit her - sehr darum bemüht, sehr gegensätzliche Standpunkte zwischen damals noch Bonn, glaube ich, und Paris, weiß ich, zu überbrücken, weil ich doch die Meinung habe, dass die Dinge in Europa nur von der Stelle kommen, wenn Deutsche und Franzosen - nie allein, aber immer mit anderen, aber die beiden jedenfalls - an einem Strang ziehen. Und deshalb habe ich mich damals eingesetzt, weil ich der Meinung bin, die Währungsunion braucht Stabilität auf Dauer, intern, extern. Der Euro wird nie stark werden auf Dauer, wenn er intern schwächelt. Das musste man den Franzosen sehr genau erklären. Die dachten, via Stabilitätspakt würden Kohl und Waigel versuchen, die französische Dominanz in Europa zu brechen. Und den Franzosen musste man erklären, dass auf Grund der deutschen Währungsgeschichte Stabilität ein essentieller Punkt ist, wenn die Währungsunion auf Dauer etabliert werden sollte. Wer, wie die Deutschen, zweimal in einem halben Jahrhundert das gesamte Volksvermögen sich hat zerstören lassen sehen, der hat zur Geldwertstabilität eine völlig andere Beziehung als die Franzosen sie damals hatten, die wesentlich legerer mit ihrer eigenen Währung umgingen und sie als Mittel der internationalen Handelspolitik stets einzusetzen wussten. Das musste man halt erklären.

PHOENIX:  Die Sache mit dem Rotkäppchen bezog sich jetzt aber vor allen Dingen auf die Ereignisse im Finanzministerrat im November des vergangenen Jahres, der Stabilitätspakt ...

Jean-Claude Juncker:  ...Den Eindruck hatte ich auch, dass die Bemerkung die war.

PHOENIX: Sie waren ja bis dahin immer der Gralshüter dieser so genannten Konvergenzkriterien, diese berühmten 3 Prozent vom Bruttoinlandsprodukt, die ein Land jedes Jahr nur als Neuverschuldung maximal aufnehmen darf. Sie haben sich aber in dieser Diskussion ja eigentlich auf die Seite von Deutschland und Frankreich geschlagen, die ja richtige Defizitsünder geworden sind.

Jean-Claude Juncker: Ja, objektiv sieht das so aus als ob ich mich auf die Seite der Deutschen und der Franzosen geschlagen hätte. So war es teilweise auch. Aber ich habe mich vor allem auf die Seite des gesunden Menschenverstandes geschlagen oder jedenfalls versucht, mich dorthin zu bewegen. Weil den gesunden Menschenverstand in Europa genau zu orten, das ist ein schwieriges Unterfangen, weil er ist sehr unterschiedlich verteilt zwischen den Ländern und in den Ländern. Nein, mein Punkt im November vergangenen Jahres war, dass Deutsche und Franzosen sich selbst dazu verpflichteten, zusätzliche Sparmaßnahmen in ihren nationalen Haushalten herbeizuführen, und dass deshalb die Notwendigkeit, sie zu zwingen dies zu tun, was sie ohnehin tun wollten, nicht gegeben war. Deshalb war ich auch aus makroökonomischer Betrachtung, auf der Ebene der Gesamteurozone gesehen, der Meinung, dass man so zu Rande kommen könnte, wie wir das getan haben. Jetzt die Deutschen und die Franzosen zu zwingen, über das Maß hinaus, das beide ohnehin vorhatten, in den öffentlichen Haushalten einsparende Kürzungen vorzunehmen, und dann im Investitionsbereich, in den Investitionen, die durch die öffentlichen Hände bedient werden, Einsparungen vorzunehmen, hätte ich für verhängnisvoll empfunden für die Gesamtauswirkung in der Gesamteurozone. Die Eurozone kommt aus dem Konjunktiv nur heraus, wenn Deutschland und Frankreich und ihre Binnenwirtschaften wieder auf die Füße und auf die Beine kommen. Das kann man nicht durch übermäßiges Sparen erreichen, sondern halt durch ein konsensuelles Koordinierungsverfahren der nationalen Wirtschaftspolitiken in der Europäischen Union. Beide müssen sparen, beide sind einverstanden zu sparen. Es macht wenig Sinn, nur um der Texterotik willen, sie dann zu etwas zu zwingen, zu dem sie ohnehin bereit sind.

PHOENIX: Aber sparen sie wirklich genügend? Sind sie auch bereit Strukturänderungen vorzunehmen?

Jean-Claude Juncker:  Also in Deutschland und in Frankreich - in Frankreich auch, weiß man in Deutschland weniger - gibt es strukturpolitische Maßnahmen in doch erheblichem Maße. Die Franzosen haben eine Rentenreform im Jahre 2002-2003 durchgezogen, die sich mittelfristig durch Einsparungspotential in der Höhe von 1 Prozent des Bruttoinlandproduktes Frankreichs übersetzen wird. Es gibt in Deutschland die Agenda 2010, die, wenn auch mangelhaft umgesetzt, trotzdem im strukturpolitischen Betrachtungssinne erhebliche Einsparungspotentiale zur Folge haben wird. Also so zu tun als ob Deutsche und Franzosen die Defizite über sich ergehen lassen würden, ohne Gegenkurs zu steuern, ist eine Vorstellung, die ich nicht habe. Beide Regierungen sind intensiv darum bemüht, in den öffentlichen Haushalten Einsparungen vorzunehmen. Mein Punkt war auch, der Kommission zu sagen, dass in den guten Jahren, in den konjunktureinnahmeerträglichen Jahren, die Kommission und die Minister, die anderen Finanzminister, eigentlich nichts getan haben und den Deutschen sagen "Jetzt müsst Ihr sparen". Ich galt - das hat nicht zu meiner Beliebtheit in Paris oder Berlin beigetragen - zu den schärfsten Kritikern deutscher und französischer Haushaltspolitik in den Jahren 1998, 1999, 2000. Das waren gute Jahre, und es wurde nicht genug getan in Richtung Defizitabbau und Schuldenabbau. Damals hat die Kommission sich in vornehmes Schweigen gehüllt, und jetzt, wo es der Konjunktur weniger gut geht, wird aus allen Rohren auf die Berliner und die Pariser Finanzpolitik geschossen. So geht es nicht! Anstatt dafür zu sorgen, dass man in konjunkturell erträglichen Jahren Schuldenabbau und Schuldendefizit korrekt bedient, jetzt auf Deutsche und Franzosen zu ballern, wo es der europäischen Konjunktur und der Weltkonjunktur insgesamt schlecht geht, dies war nicht nach meinem Geschmack.

PHOENIX: Gut. Die Kommission schweigt nicht mehr. Ganz im Gegenteil! Sie ist unzufrieden mit dem, was die Finanzminister im November letzten Jahres beschlossen haben, Deutschland und Frankreich zunächst das Defizitverfahren zu ersparen. Bleiben Sie denn auf der Seite von Paris und Berlin? Denn wir erinnern uns sehr gut, dass Sie ja immer an der Spitze der kleineren EU-Länder standen, die ja die Kommission stets gestützt und unterstützt hat gegen das Übergewicht der Großen.

Jean-Claude Juncker: Also ich unterstütze die Kommission gerne, wenn es um prinzipielle Fragen geht. Ich bin der Meinung, dass die Kommission auch der Sachverwalter der Interessenlage der gesamten Europäischen Union und in spezie der kleineren EU-Mitgliedsländer ist. Dies gilt generell und dies auch so. Aber in diesem Falle, was hätte es denn den kleineren Ländern, obwohl einige dies so sahen, die gegen Deutschland und Frankreich letztendlich abgestimmt haben, gebracht, wenn wir Deutsche und Franzosen gezwungen hätten zu etwas, was sie ohnehin zu tun bereit waren? Deshalb habe ich mit Deutschland und Frankreich gestimmt. Und Deutschland und Frankreich hätten im Übrigen diese Abstimmung verloren, wenn Luxemburg nicht gegen die Kommission und für Deutschland und Frankreich gestimmt hätte, sondern ein anderes Abstimmungsverhalten zu Tage gelegt hätte. Ich fand das, was die Kommission vorgeschlagen hat, in der Sache nicht für gerechtfertigt und ich halte auch den Versuch der Europäischen Kommission, diesen Problemfall vor Gericht, vor dem europäischen Gerichtshof in Luxemburg zu klären, für völlig neben der Sache. Dies ist ein Punkt, der von der Politik geklärt werden muss, und nicht von Gerichten.

PHOENIX:  Wir wollen die Erfolge der Europäischen Union nicht klein reden. Da gibt es ja einige, den Euro, die Osterweiterung, aber es gibt eben auch Misserfolge. Am Ende des vergangenen Jahres hatten wir eine mittelprächtige Silvesterrakete namens EU-Verfassung, die dann auch ganz schnell verglüht ist. Gibt es denn in nächster Zeit noch einmal eine Chance darüber abzustimmen und die Verfassung doch noch zu verabschieden, oder können wir in Europa auch ganz gut ohne Verfassung leben?

Jean-Claude Juncker: Ich halte den Versuch der 25 demnächst Mitgliedstaaten der Europäischen Union, zur Verfassungsgebung zu kommen, und dessen Scheitern für ein kollektives Unvermögen der europäischen Staats- und Regierungschefs. Wobei einige etwas stärker ausgeprägte individuelle Verantwortung tragen als andere - Spanien, Polen, aber andere auch - weil auch innerhalb beispielsweise der 15 jetzigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Divergenzen doch sehr erheblich waren, was man angesichts der Überbetonung des polnisch-spanischen Problems in Sachen Gewichtung der Stimmen im Rat, also der Machtfrage der Europäischen Union, etwas unterschätzt bei der Gesamtbetrachtung dessen, was zum Scheitern geführt hat.

PHOENIX: War denn der Eindruck richtig, dass die andern auch nicht so richtig wollten?

Jean-Claude Juncker: Also ich weiß nicht, ob die nicht wollten. Ich denke auch, dass die wollten. Aber die Divergenzen, die Differenzen, die Meinungsunterschiede zwischen den Fünfzehn und zwischen den Fünfundzwanzig waren doch erheblich. Man hat dies nicht zum Tagesordnungspunkt machen können, weil es in Sachen Spanien, Polen, Abstimmungsgewichtung im Rat nicht zu diesem Sachgespräch über andere Themen kam. Aber dort hätte es auch erhebliche Divergenzen gegeben. Nein, jetzt muss man nachdenken - das ist in der Politik nie vom Bösem und nie von Übel. Wir brauchen jetzt eine längere Pause, wo jeder in seiner Ecke und wir alle gemeinsam darüber nachdenken, was wir falsch gemacht haben, wie wir das besser machen können, und dann müssen wir unter irischem Vorsitz - der läuft vom 1. Januar bis zum 30. Juni – versuchen, die Dinge einigermaßen wieder aufs Gleis zu bringen und dann halt unter niederländischem Vorsitz - 1. Juli - 31. Dezember – versuchen, den Verfassungsauftrag den wir haben, zu erfüllen. Europa wird jetzt ohne Verfassung längere Zeit leben müssen auf Grund des Vertrages von Nizza. Der ist nicht ganz toll, der hat erhebliche Mängel, erhebliche Schwächen. Aber es wird möglich sein, diesen Vertrag mit Leben zu erfüllen, wenn denn der politische Wille der beteiligten Staaten, das heißt der Fünfundzwanzig, so ist, dass man auch angesichts eines schwachen Vertragstextes maximale politische Resultate wird einfahren können. Aber besser wäre es, wenn wir dies mit einer vollumfänglichen schlüssigen Verfassung machen könnten.

PHOENIX:  Es könnte also noch die verfassungslose Zeit noch jahrelang anhalten?

Jean-Claude Juncker:  Ach, ich denke nicht, dass es wünschenswert wäre, wenn sie jahrelang anhielte. Ich würde es sehr gerne sehen, wenn unter niederländischem Vorsitz im zweiten Halbjahr 2004 diese Verfassungsgebung effektiv werden würde. Wenn dies nicht möglich wäre, wird uns dies unter luxemburgischem Vorsitz im 1. Halbjahr 2005 rutschen und dann müssten wir dies halt machen.

PHOENIX:  Dann können Sie es auch maßgeblich mit beeinflussen. Wenn es jetzt nicht klappt, dann redet man ja so salopp als Alternative von dem Europa der zwei Geschwindigkeiten. Sagen wir dann also den Polen und Spaniern, den Briten und Schweden, wenn ihr nicht wollt, wir können auch anders?

Jean-Claude Juncker: Ach wissen Sie, man redet ja viel über dieses Kerneuropa, das Europa der zwei Geschwindigkeiten oder das Europa der variablen Geometrie. Ich denke mir, auch auf Grund einer inzwischen langjährigen Erfahrung in der Europäischen Union, dass dies kein Ziel europäischer Politik sein kann, zwei getrennte Wege zu gehen. Nein. In dem Moment, wo europäische Geschichte und europäische Geographie zusammenwachsen - womit wir nicht gerechnet hatten, aber die Geschichte war halt Gott sei Dank so - muss man versuchen, mit 25 Staaten an Bord, morgen 27, später noch mehr, in eine Richtung sich auf den Weg zu machen. Aber das geht nur, wenn alle am Prozess Beteiligten wirklich auch dasselbe wollen, das heißt ein Europa, wo wir intergrationsweiterführende Schritte in großer Zahl so setzen, dass das Netz der transnationalen Solidaritäten so wachsen wird, dass - komme ich zur Ursprungsgeschichte der Europäischen Union zurück - politische Gewalt als Lösung politischer Konflikte ausfällt. Weil wir so ineinander verwunden sind, so ineinander verzahnt sind, dass wir ohne Schaden für uns selbst nie mehr auf Kosten unserer Nachbarländer in der Europäischen Union Politik machen können. Dies muss das Ziel sein. Wenn nicht alle mitmachen wollen, nicht mitmachen können oder noch nicht mitmachen wollen, dann kann Kerneuropa, Europa der zwei Geschwindigkeiten, die nie die Finalität europäischer Anstrengungen sein dürfen, durchaus die Konsequenz aus der Weigerung anderer, genau diese Politik der hochangesiedelten europäischen Ambitionen sein.

PHOENIX: In diesem Zusammenhang ist von Ihnen ein ziemlich düsterer Satz überliefert, der so gar nicht zu Ihrem Naturell passt, aus einem Zeitungsinterview kurz vor dem letzten EU-Gipfel. Da haben Sie gesagt "die ewige europäische Frage wird immer die von Krieg und Frieden sein, auch wenn wir das heute gerne vergessen". Kann Krieg in Europa in der Zukunft wieder eine reale politische Option werden? Besteht diese Gefahr?

Jean-Claude Juncker: Ich weiß das nicht, aber ich habe immer diese Angst. Wissen Sie, ich habe anlässlich des Konfliktes um das frühere Jugoslawien herum doch gemerkt, dass wir mitten in Europa so etwas wir Kriegsbereitschaft immer noch vorfinden. Da war es ja nicht bei der Kriegsbereitschaft geblieben. Es kam zum Krieg, es kam zu Vergewaltigungen, es kam zu Folter, es kam zu Schüssen, zu Bombardierungen. Das war mitten in Europa. Das ist zwei Flugstunden von hier entfernt. Ich möchte die Möglichkeit, dass wir unsere Konflikte so austragen in Europa auf ewig vom europäischen Kontinent verbannen. Das hat - das ist zwar kein Argument, aber da ist halt meine Lebenserfahrung - mit der Biographie meines Vaters zu tun. Der war deutscher Soldat im Krieg. Nicht weil er mit Hitler gegen die andern losmarschieren wollte, sondern weil Luxemburg von den Nazis besetzt war, und die Luxemburger, die zwischen 1920 und 1927 geboren wurden, gezwungen wurden, Soldaten der deutschen Wehrmacht zu werden. Als kleiner Junge, als Bub, habe ich gesehen, dass mein Vater Einschüsse am Hals, am Knie und an der Hand hatte. Ich habe ihn gefragt "Was war da los?" und er hat mir das nicht erzählt. Jetzt erzählt er mir das. Aber ich wusste aus der Geschichtsbetrachtung heraus, dass mein Vater im Krieg war, ohne dass Luxemburg im Krieg war, ohne dass wir etwas kriegerisch bewegen wollten. Ich möchte nicht, dass unsere Kinder und Kindeskinder wieder in diese Drangsal hineingeraten. Ich bin ein skeptischer Betrachter europäischer Zukunft, weil ich die europäische Vergangenheit kenne, und ich hätte gerne - das ist die Aufgabe meiner Generation, die mit dem Kriegsgeschehen nichts mehr zu tun hatte, die aber aus den Erzählungen ihrer Großeltern und Eltern noch weiß, was Krieg mitten in Europa, in Luxemburg, in Trier, in Bonn, in Berlin, in Warschau und in Brüssel und Paris, was das bedeutet - ich hätte gerne, das ist die Aufgabe meiner Generation, dass dies auf ewig von dem europäischen Kontinent verbannt würde. Ich ärgere mich über die leichtfüßigen, über die oberflächlichen Betrachter europäischer Dinge, dass man nicht sieht, dass die alten Dämonen den europäischen Kontinent nicht verlassen haben, sondern nur eingeschlafen sind. Ich hätte gerne, dass sie dauerhaft pennen.

PHOENIX:  Es gibt die alten Probleme von Europa, es gibt auch neue. Ein wichtiges Thema sorgt in Deutschland für erheblichen Diskussionsstoff, der mögliche Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. In Deutschland ist das längst zu einem innenpolitischen Thema geworden. Ihre Parteifreunde, besonders von der CSU, planen ja auch das Thema zum Thema für den Wahlkampf zum Europäischen Parlament zum machen. Wie sehen Sie das persönlich? Soll die Türkei in absehbarer Zeit Vollmitglied der EU werden? Gibt es diesen Wunsch in Europa, und haben wir vielleicht daran sogar ein strategisches Interesse?

Jean-Claude Juncker: Ich habe mich hier an die Entscheidungslage zu halten, an der zu orientieren. Wir haben 1999 in Helsinki beschlossen, die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, dass die Türkei Erweiterungskandidat ist.  Ich hatte das als Ratsvorsitzender, 1997, Europäischer Rat in Luxemburg, noch abgelehnt, weil die Türkei in puncto Menschenrechte etc., etc. noch nicht so weit war, dass man dies hätte endgültig ins Auge fassen können. Die Türkei hat erhebliche Fortschritte gemacht. Und wir haben ihr 1963 versprochen, sie könnte Mitglied werden. Jetzt müssen wir prüfen, im Dezember 2004, ob die Türkei, ja oder nein, die Aufnahmebedingungen erfüllt und dann müssen wir Erweiterungsverhandlungen mit der Türkei in Angriff nehmen, wobei ich gerne hätte, dass wir und auch unsere türkischen Freunde dies als einen ergebnisoffenen Prozess begreifen. Verhandlungen werden in Angriff genommen, wenn die Bedingungen erfüllt sind, vornehmlich in Sachen Menschenrechte. Ob dies zu einer Vollmitgliedschaft der Türkei führen wird, das liegt an den Irrungen und Wirrungen der Verhandlungen, die wir mit der Türkei führen müssen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass man dies auch thematisieren sollte. Man kann ja nicht die Türkei zum Mitglied der Europäischen Union machen, ohne dass wir darüber in unseren Staaten und unseren öffentlichen Meinungen debattieren. Ich bin sehr dagegen, dass man dies mit einem negativen Grundtenor macht. Aber dass man darüber redet, halte ich doch nicht für ein verbotenes Unterfangen in einer demokratischen Auseinandersetzung.

PHOENIX: Kommen wir am Ende des Gespräches noch einmal nach Luxemburg zurück zu Jean-Claude Juncker. Sie entspannen sich, so ist zu lesen, beim Spiel am Flipperautomaten.

Jean-Claude Juncker: Ja. Ja wissen Sie, die schlimmste Nachricht 2003 war ...

PHOENIX:  Ja, wollte ich gerade sagen, was Sie wirklich traurig stimmt ist, dass diese letzte Firma, die diese Automaten herstellt in Kanada, neulich schließen musste.

Jean-Claude Juncker: Ja.

PHOENIX:  Wer so viel Selbstgewissheit und außerdem Selbstironie ausstrahlt, den kann doch eigentlich nichts mehr aus der Fassung bringen?

Jean-Claude Juncker: Doch. Mich bringt zum Beispiel die Nachricht aus der Fassung, dass die letzte Flipperfirma in Kanada dicht gemacht hat. Dies halte ich für einen die Zukunft in ein dunkel erscheinendes Gesamtbild entschwindender Vorgang. Mich erschüttert wenig, aber das hat mich sehr erschüttert.

PHOENIX:  Soweit Jean-Claude Juncker bei PHOENIX "Im Dialog". Herzlichen Dank für das Gespräch.

Jean-Claude Juncker: Danke schön.

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