Jean-Claude Juncker: Warum vergessen wir so schnell? Le Premier ministre au sujet du Conseil européen

KURIER: Herr Ministerpräsident, auch Österreichs Bundeskanzler ist als möglicher Kandidat für den Kommissionspräsidenten im Gespräch. Wie groß sind seine Chancen?

Jean-Claude Juncker: Als jemand, der viel genannt wird, möchte ich andere nicht in dauerhaften Erklärungszwang bringen, indem ich sie nenne. Wir werden uns nach der EU-Wahl auf einen Namen einigen.

Was sagen Sie zum Koalitionspakt zwischen SPÖ und FPÖ in Kärnten?

Jean-Claude Juncker: Ich habe die Ereignisse von 2000 in mulmiger Erinnerung, weil die Österreicher keine Einmischung in interne Angelegenheiten wollen. Mir ist auch in Erinnerung, dass die SPÖ es damals sehr gemocht hat, dass man sich einmischt. Insofern kann ich hier keinen Lernprozess der SPÖ erkennen, sondern eine Verflachung, die ich sehr bedauere.

Der EU-Gipfel steht im Zeichen der Terror-Bekämpfung. Tun Regierungen genug, um ihre Bürger zu schützen?

Jean-Claude Juncker: Regierungen können nie genug tun, um ihre Bürger vor Terrorismus zu schützen. Beim Gipfel wird es darum gehen, jene Schnittmenge zwischen kollektiver Sicherheit und individuellen Freiheiten herauszufinden. Die Abwehrmechanismen müssen maximal funktionieren.

Wird die so genannte Solidaritätsklausel beschlossen?

Jean-Claude Juncker: Die Klausel aus dem Verfassungsvertrag wird vorzeitig in Kraft gesetzt werden. Das wird den Druck auf Geheim- und Nachrichtendienste sowie auf die Polizeiapparate erhöhen, Informationen auszutauschen. Ich habe den Eindruck, dass viele nationale Geheimdienste auf ihren Informationen sitzen bleiben wie eine Henne auf ihrem goldenen Ei.

Manche Länder wollen bei der Vernetzung der Geheimdienste eng koopiereren, andere nicht. Steht Europa nicht wieder vor einer Spaltung?

Jean-Claude Juncker: Ich sehe hier keine Spaltungsgefahr irakischer Machart. Es geht um unterschiedliche Befindlichkeiten. Wenn Terroristen es schaffen, dass wir die freie Gesellschaft Richtung Polizeistaat verlassen, dann hätten sich die Terroristen teilweise durchgesetzt.

Allerdings ist es auch nicht möglich, dass man aus Angst, individuelle Freiheiten zu verletzen, auf kollektive Sicherheitsmaßnahmen verzichtet. Falls nicht alle Länder an einem Sicherheitsverbund mittun wollen, wird man über eine verstärkte Zusammenarbeit nachdenken müssen.

Was ist die Ursache für Terror-Anschläge in Europa?

Jean-Claude Juncker: Ich möchte sehr energisch dem Eindruck entgegentreten, dass der Anschlag in Madrid wegen der spanischen Beteiligung am Irak-Krieg erfolgt ist. Bevor der Terror nach Europa kam, hat es an vielen Orten der Welt schon Terror und terroristische Übergriffe gegeben. Es gibt für das Töten unschuldiger Menschen und für die terroristische Logik keine Rechtfertigung.

Beim Frühjahrs-Gipfel geht es immer um die so genannte Lissabon-Strategie, um Wettbewerb, Reformen und Liberalisierung. Kommt dabei die Sozialpolitik nicht zu kurz?

Jean-Claude Juncker: Ich bin diesbezüglich besorgt. Was wir unter dem Arbeitstitel Wettbewerb tun, muss auf seinen Einfluss auf die Arbeitswelt geprüft werden. Man darf das Soziale und Wirtschaftliche nicht auseinanderreißen. Im globalen Dorf muss es Raum für soziale Notwendigkeit und Abfederungen geben. Prioritär ist die Beschäftigungspolitik.

Die Erweiterung steht unmittelbar bevor. Übernimmt sich Europa nicht damit?

Jean-Claude Juncker: An dieser kleingeistigen Annäherungsweise will ich mich nicht beteiligen. In Mittel- und Osteuropa ist Unwahrscheinliches passiert, die Menschen haben nach dem Zweiten Weltkrieg selbst Geschichte gemacht. Ich habe es lieber, die Menschen aus Mitteleuropa haben Erwartungen an uns, als sie richten Raketen auf uns. Warum vergessen wir so schnell? Was wäre, wenn wir uns nach dem Umsturz 1989 nicht zur Erweiterung entschlossen hätten? Wir hätten eine wesentlich instabilere Lage in Europa. Sechs von acht mitteleuropäischen Staaten haben vor 15 Jahren noch nicht existiert. Die Selbstständigkeit wäre auch ohne europäische Perspektive gekommen. Nur instabiler.

Anfang 2005 übernimmt Luxemburg den EU-Vorsitz. Starten dann die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei?

Jean-Claude Juncker: Das ist möglich. Darauf muss man sich einstellen.

Kommt der EU-Verfassungvertrag noch in diesem Halbjahr zustande? Spanien und Polen wollen einlenken.

Jean-Claude Juncker: Der Horizont hat sich nach den Aussagen des neuen spanischen Ministerpräsidenten wesentlich aufgehellt, weil Spanien nicht mehr an der Strategie des absoluten Nein-Sagens festhalten will. Wir werden es aber nicht mit einer spanischen Regierung zu tun haben, die bei allen strittigen Punkten klein beigeben wird. Auch Polen muss sich bewegen. Die Chancen auf Einigung sind besser. Es wäre gut, wenn die Verfassung in diesem Halbjahr zustande käme.

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