"Sieben-Punkte-Plan mit festen Zieldaten versehen" Interview mit Premierminister Jean-Claude Juncker vor dem EU-Gipfel in Brüssel

Luxemburger Wort: Herr Premierminister, kurz vor dem Frühjahrsgipfel, der sich eigentlich der Wachstums- und Beschäftigungsinitiative widmen sollte, ist das Thema "Innere Sicherheit" ganz in den Vordergrund gerückt. Was wollen die Staats- und Regierungschefs in Brüssel erreichen?

Jean-Claude Juncker: Nachdem sich die Innen- und Justizminister sowie die Außenminister mit der Problemlage auseinander gesetzt haben, müssen sich die Staats- und Regierungschefs um eine zügige Beschlussfassung in diesem Bereich bemühen. Es kommt in erster Linie darauf an, dass wir kritisch überprüfen, ob wir die Entscheidungen, die wir nach dem 11. September 2001 trafen, auch umgesetzt haben. Dort, wo es Umsetzungsdefizite gibt, werden wir dafür Sorge tragen, dass diese schnellstmöglich behoben werden. Es ist unstrittig, dass wir nach den Anschlägen von Madrid eine Straffung und Koordinierung der geheimdienstlichen Erkenntnisse brauchen. Es gibt in Europa keine zentrale Stelle, an die man geheimdienstliche oder nachrichtendienstliche Erkenntnisse in Echtzeit übermitteln könnte, diese die Daten überprüft, analysiert und filtern würde und sie dann an Europol oder unter Umständen an nationale Polizeistellen weiterleiten würde.

Sind Sie für einen europäischen Geheimdienst?

Jean-Claude Juncker: Ich bin nicht der Meinung, dass wir jetzt die Zeit haben darüber nachzudenken, ob wir einen europäischen Geheimdienst brauchen. Was wir brauchen, ist eine effizientere, gestrafftere Koordinierung und Kooperation der Geheimdienste in der Europäischen Union plus eine Reihe von Maßnahmen, die wir auf den Weg bringen müssen, wie biometrische Merkmale und den Austausch von Fingerabdrücken. Dann vor allem eine Verstärkung der Möglichkeiten, uns praktisch Tag für Tag ein geschlossenes Lagebild in die Hand zu geben. Es besteht die begründete Annahme, dass einige Geheimdienste auf ihren Informationen sitzen bleiben wie die Henne auf ihren Eiern. Das muss man abstellen.

Die EU-Innen- und Justizminister haben sich am vergangenen Freitag auf die Schaffung eines EU-Koordinators für Sicherheitsfragen verständigt. Was soll er tun, wer käme für das Amt in Frage und wo ist dieser Posten anzusiedeln?

Jean-Claude Juncker: Der Koordinator soll genau das tun, was ich soeben angemahnt habe, nämlich die geheimdienstlichen Erkenntnisse bündeln, analysieren, filtern und weiterleiten. Wo dieser Koordinationspunkt jetzt institutionell festgemacht wird, ist eine eher sekundäre Frage. Ich denke aber, dass es am zweckdienlichsten wäre, wenn wir ihn in direkter Nachbarschaft zu Javier Solana ansiedeln würden, den Hohen Beauftragten für die EU-Außen- und Sicherheitspolitik.

Wäre es nicht besser, dieser Koordinator fände seinen Platz bei der Europäischen Kommission?

Jean-Claude Juncker: Wenn man weiß, wie schwer sich Geheimdienste tun, untereinander Daten auszutauschen, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, dass nationale Nachrichtendienste Informationen an eine den Regierungen nicht unterstellte Behörde weitergeben.

Deutschland, Frankreich und Luxemburg haben einen Sieben-Punkte-Plan vorgelegt. Einige haben Sie schon erwähnt. Welche Maßnahmen sind die wichtigsten und wie will Luxemburg sie umsetzen?

Jean-Claude Juncker: Dieser Maßnahmenkatalog wird anlässlich der Sitzung der Staats- und Regierungschefs erörtert werden. Alle Punkte sind eigentlich dringlich und wenn Europa verbindliche Beschlüsse in Brüssel trifft, werden wir sie danach auf den normalen Gesetzgebungs- und Verwaltungsweg bringen.

Man hat den Eindruck, dass insbesondere im Bereich "Innere Sicherheit" alles furchtbar lange dauert, bevor die Gesetze zur Anwendung kommen. Wäre es nicht besser, man würde sich feste Fristen setzen?

Jean-Claude Juncker: Ich bin entschieden der Auffassung, dass die sieben Punkte, die bereits Aufnahme gefunden haben in die Beschlusslage der Europäischen Union alle mit festen Zieldaten versehen werden müssen. Wobei ein Problem darin besteht, dass wir als Staats- und Regierungschefs manchmal Entscheidungen in Brüssel treffen, wie beim europäischen Haftbefehl, uns aber dann sehr schwer damit tun in den nationalen Parlamenten Mehrheiten für die Umsetzung zu organisieren.

Ist das nicht ein triftiges Argument für die Vergemeinschaftung des ganzen Sektors, also die wesentlich stärkere Einbeziehung von Kommission und Europaparlament?

Jean-Claude Juncker: Ich bin ohnehin der Meinung, dass wir im Gesamtbereich "Dritter Pfeiler" (justizielle und polizeiliche Zusammenarbeit) zu einer Stärkung der Politik der Gemeinschaft kommen müssen. Ich halte die Debatte, dadurch, dass sie eh in der Regierungskonferenz zur Verfassung geführt wird, jedoch nicht für eine Priorität für diese Woche. Diese Woche sollten wir uns darauf verständigen, dass unsere Instrumente besser funktionieren.

Themenwechsel. Nach der Wahlniederlage von Aznars Partido Populär in Spanien sind die Chancen für eine Einigung zur Europäischen Verfassung offensichtlich gestiegen. Halten Sie eine politische Einigung bereits auf dem Frühjahrsgipfel für möglich?

Jean-Claude Juncker: Die Chancen auf Einigung haben sich erhellt nach dem Regierungswechsel in Spanien. Ich denke mir, dass wir einen Bericht unseres Ratsvorsitzenden Bertie Ahern erhalten auf dessen Basis wir dann prüfen, ob wir im Juni oder später in diesem Jahr 2004 im Prozess der Verfassungsgebung zu Rande kommen. Ich halte Spekulationen, ob dies bereits während der März-Sitzung gelingen kann, für verfrüht, denke aber dass gute Chancen bestehen, dass wir das im Juni tun können und dass die absolute Notwendigkeit besteht, es spätestens im Dezember zu machen.

Welche neuen Beschlüsse sind im Rahmen der Strategie von Lissabon zu erwarten?

Jean-Claude Juncker: Zuerst wäre es ratsam, dass wir uns darauf verständigten, dass wir die Lissabonner Strategie popularisieren. Kaum jemand weiß, was mit der Lissabonner Strategie gemeint ist. In der öffentlichen Meinung der Mitgliedstaaten ist die Lissabonner Strategie mit keinerlei Inhalten in Verbindung gebracht worden. Man muss noch einmal erklären, dass es darum geht, bis zum Jahr 2010 aus der Europäischen Union den wettbewerbsfähigsten Teil der Weltwirtschaft zu machen und dass dementsprechende zielorientierte Reformen in die Wege geleitet werden. Es geht nicht um Reformen ihrer selbst willen, sondern um arbeitsmarktstärkende Reformen. Man sollte überlegen, ob wir im ersten Halbjahr 2005 unter luxemburgischem EU-Vorsitz bei der Halbzeitbilanz der Lissabonner Strategie nicht einen Namen verpassen wollen, der ansprechender ist. Wir sind sehr dagegen, dass man jetzt der Lissabonner Strategie verbreitendere Elemente hinzufügt. Wir sollten uns darauf konzentrieren, die getroffenen Vereinbarungen auch umzusetzen. Im Übrigen werden wir uns auf dem Gipfel auch dafür einsetzen, dass eine hochrangige Expertengruppe gebildet wird, die bis zum l. November 2004 der Europäischen Kommission einen Bericht über die Umsetzung der Lissabonner Strategie zuleitet. Aufgrund dieser Bilanz will der Luxemburger Vorsitz dann bei der Aufarbeitung der Halbzeitbilanz dieser Strategie Initiativen ergreifen.

Als weiteres Gipfelthema waren die Beziehungen zu Russland vorgesehen. Der Kreml blockiert bislang die Anwendung der Grenzabkommen mit Estland und Lettland, die zum l. Mai EU-Mitglieder werden und Anfang April auch Nato-Mitglieder. Das Europaparlament hal das unverändert brutale Vorgehen der russischen Armee in Tschetschenien kritisiert. Ist es nicht an der Zeit, einmal Tacheles mit Wladimir Putin zu reden?

Jean-Claude Juncker: Die Russen müssen wissen, dass sich die Europäische Union ab l. Mai aus 25 Mitgliedstaaten zusammensetzt und dass die mit der Fünfzehnergemeinschaft getroffenen Vereinbarungen auf die Gemeinschaft der 25 angewandt werden müssen. Man muss allerdings auch wissen, dass Russland ein unverzichtbarer Partner für die europäische Stabilität und die europäische Gesamtarchitektur ist. Man kann also nicht im Kommandoton mit Russland verkehren. Alle europäischen Regierungschefs, die sich in letzter Zeit mit Präsident Putin unterhalten haben, kamen dabei auf das Thema Tschetschenien zu sprechen. Es ist also nicht so, dass wir dieser Frage schon den Rücken gekehrt hätten.

Am Donnerstagvormittag ist ein Treffen der drei Benelux-Länder mit den vier Visegrad-Staaten Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei vorgesehen. Was ist der Sinn dieser Konferenz?

Jean-Claude Juncker: Dies ist die dritte Auflage dieser Treffen. Das erste fand in Luxemburg statt, das zweite in der Slowakei und das dritte wird jetzt in Brüssel sein. Wir werden in dieser Siebenerrunde alle anstehenden Tagesordnungspunkte ansprechen und vor allem, weil Polen ja dabei ist, die Möglichkeit in der Frage der Verfassungsgebung so schnell wie möglich von der Stelle zu kommen. Wir werden die Polen noch einmal eindringlich darauf hinweisen, dass sie wie andere auch sich in Richtung des europäischen Mainstreaming bewegen müssen. Ansonsten rindet am 25. April der Sozialgipfel statt, an dem der Luxemburger Premier und der Luxemburger Arbeitsminister teilnehmen werden. Dieser Sozialgipfel wurde installiert aufgrund eines einschlägigen Beschlusses des Beschäftigungsgipfels von 1997 in Luxemburg, und weil wir im ersten Halbjahr 2005 die EU-Präsidentschaft innehaben, werden wir uns in jedem Fall an diesem Sozialgipfel beteiligen.

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