Michel Wolter: Eine Herkulesaufgabe. Le ministre de l'Intérieur au sujet de l'IVL

In einem Luxemburger Kreuzworträtsel gäbe es auf die Frage "Zauberwort mit drei Buchstaben" derzeit nur eine Antwort: IVL. Wie erklären Sie sich die hohen Erwartungen, die daran geknüpft werden?

Michel Wolter: Eine Studie wie das "Integrative Verkehrs- und Landesentwicklungskonzept" hat es bis dato weder in Luxemburg noch in Europa gegeben. Die Bereiche Wohnen, Arbeiten und Verkehr werden miteinander untersucht, um die Zusammenhänge zu veranschaulichen.

Bautenministerin Erna Hennicot-Schoepges hat das IVL-Papier unlängst als "neue Bibel" bezeichnet. Was ist da dran?

Michel Wolter: Auf ziemlich schonungslose Art und Weise führt uns das IVL vor Augen, dass wir unsere aktuelle Lebensqualität nur halten können, wenn wir etwas Grundsätzliches ändern. Um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern, müssen wir das System überdenken!

Die Diagnose hätte man wohl auch ohne Studie erstellen können...

Michel Wolter: Um zu wissen, wohin man will, muss man erst einmal wissen, woher man kommt. In den vergangenen zehn Jahren hat Luxemburg eine rasante Entwicklung durchlebt. Mittlerweile sind wir an einem Punkt angelangt, an dem wir die Probleme der Zukunft nicht mehr mit den Rezepten der Vergangenheit lösen können. Diese Feststellung findet ihren Niederschlag zum Beispiel in den Debatten über das tägliche Chaos auf unseren Straßen. Die Menschen haben den Eindruck, dass die Lebensqualität abnimmt.

Wo liegt das Problem?

Michel Wolter: In den vergangenen 20 Jahren zogen etwa 100.000 Menschen nach Luxemburg. Jedes Jahr wuchsen wir also um eine Ortschaft wie Rümelingen! Im selben Zeitraum wurden über 130.000 Arbeitsplätze geschaffen, noch in diesem Jahr erreichen wir das Kap der 300.000. Gleichzeitig stieg die Zahl der Grenzgänger von 10.000 auf 110.000. Davon fahren die allermeisten nach Luxemburg-Stadt, wo sich 44 Prozent aller Jobs befinden. Zählt man die neun Anrainergemeinden hinzu, sind es sogar 60 Prozent. Wenn man dann noch bedenkt, dass im Gegensatz zu früher heute rund vier Fünftel der Bevölkerung auf dem Land wohnen, dann muss es eng werden auf unseren Straßen.

Und wie wollen Sie dem Abhilfe verschaffen?

Michel Wolter: Zum einen soll der Anteil der öffentlichen Transportmittel am Gesamtverkehrsaufkommen bis 2020 von derzeit zwölf auf 25 Prozent steigen. Obwohl wir wahre Auto-Champions sind: Die Hälfte aller Wege unter einem Kilometer legen wir im Wagen zurück, eine nennenswerte Fußgänger- oder Fahrradkultur haben wir nicht. Den Schweizer Verkehrsexperten Heinrich Brändli veranlasste dies zu dem Satz: "Sie haben kein Problem, Sie sind das Problem!"

Sie haben mehrfach zugegeben, dass in der Vergangenheit Fehler bei der Landesplanung gemacht wurden. Welche?

Michel Wolter: Ich will niemandem Vorwürfe machen, denn eine Entwicklung, wie Luxemburg sie mitgemacht hat, war nicht vorhersehbar. Trotzdem ist es heute ein großes Problem, dass vor allem dort Arbeitsplätze geschaffen wurden, wo es keine gute Anbindung an den öffentlichen Transport gibt. Man denke nur an Leudelingen, Contern oder die Cloche d'or. Aber lange Wege bringen Verkehr mit sich. Wir müssen also Wohnort und Arbeitsplatz wieder zusammen bringen. Das IVL lotet Wege aus, um zu einem Luxemburg der kurzen Wege zurückzukehren, ohne auf Lebensqualität und Wachstum zu verzichten.

Stichwort Wachstum...

Michel Wolter: ... daran scheiden sich die Geister. Einige stellen sogar jedwedes Wachstum in Frage. Den Stillstand im Auge, übersehen diese aber, dass Luxemburg ein Einwanderungsland ist und auch bleibt!

Mit dem IVL-Modell wollen Sie nach eigener Aussage den Verkehr in den Griff kriegen, nachhaltige Siedlungsstrukturen schaffen und die Landschaften erhalten. Wunschdenken?

Michel Wolter: Nein, vorausgesetzt es kommt zu Kurskorrekturen in den entscheidenden Bereichen. In puncto Wohnen müssen wir vermehrt dort bauen, wo es gute Anbindungen an den öffentlichen Transport gibt. Wichtig ist auch eine dichtere Bauweise, die mitnichten gleichzusetzen ist mit weniger Lebensqualität. Das frei stehende Einfamilienhaus mit großem Garten - obwohl noch immer Standard - können sich viele nicht mehr leisten und wird von rund 60 Prozent der Haushalte auch gar nicht angestrebt. Trotzdem wurden in der Vergangenheit vor allem solche Häuser gebaut. In den neuen "Cités" soll es neben frei stehenden Einfamilienhäusern aber auch Appartements, Doppel- und Reihenhäuser geben. Das verbessert die soziale Struktur, verringert den Landverbrauch und ermöglicht einen effizienten öffentlichen Transport.

Und was ändert sich in Sachen Arbeitsplatz?

Michel Wolter: Industrie- und Gewerbegebiete dürfen nur noch dort entstehen, wo es gute Bus- oder Bahnanbindungen gibt. Also keine Aktivitätszonen mehr auf der grünen Wiese! Arbeitsplätze sollen gezielt im Grenzbereich angesiedelt werden, denn das Hin- und Herfahren macht wenig Sinn! Und neue Fahrradwege sollen her, damit man nicht gleich in Lebensgefahr schwebt, sobald man im Sattel sitzt. Hinzu kommt das Bestreben, die Stellentypen stärker zu mischen. So soll es im Süden nicht nur Industriearbeiter geben, sondern auch Bankangestellte und Beamte. Esch-Belval übernimmt hier eine Vorreiterrolle.

Bleibt die Frage, ob die Leute das auch wollen?

Michel Wolter: Die Menschen müssen bereit sein, etwas zu geben, um etwas zu bekommen. Busse und Züge füllen sich nicht von alleine. Der Landverbrauch kann nur gestoppt werden, indem Bauland nicht länger zurückgehalten wird - obwohl noch über 6.000 Hektar in bestehenden Bauperimetern ausgewiesen sind, wird ständig deren Vergrößerung gefordert! Auch den wünschenswerten Grüngürtel um die Hauptstadt erhalten wir nur, wenn Staat, Regionen und Gemeinden sich in einer neuen Zusammenarbeit begegnen.

Worauf wollen Sie hinaus?

Michel Wolter: Im Kern geht es um den totalen Umbau der Verwaltung des Landes. Unsere Strukturen stammen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, einer Zeit ohne Eisenbahnen und Autos. Doch ein Land mit einer halben Million Einwohner muss anders verwaltet werden als ein Staat mit 120.000. Das ist die eigentliche Herausforderung. Wenn wir unser Land heute zu organisieren hätten, würde die neue Struktur mit Sicherheit anders aussehen als die aktuelle. Es wird Zeit, dass wir die Ärmel hochkrempeln und das Land umgestalten!

Sie wollen das IVL demnach zum Wahlkampfthema machen?

Michel Wolter: Natürlich! Bei Wahlen geht es um die Zukunft des Landes, genau wie im IVL-Papier auch. Wenn das dann kein Thema ist, dann ist es nie eins. Aus diesem Grund habe ich mich auch nicht davon abbringen lassen, die IVL-Karten vor den Wahlen auf den Tisch zu legen.

Sehen Sie überhaupt eine Alternative zu den IVL-Vorschlägen?

Michel Wolter: Nein. Wenn es nicht zu Kurskorrekturen kommt, sehe ich schwarz. Wir haben schon jetzt 1,4 Millionen Verkehrsbewegungen pro Tag und ohne gegenzusteuern werden es bald 1,7 bis 2 Millionen sein. Hier zeigt das IVL Auswege auf; wir müssen uns jetzt auf entsprechende Lösungen einigen.

Wo rechnen Sie mit den meisten Widerständen?

Michel Wolter: Bis jetzt gibt es kaum welche und das ist gerade das Tückische. Die tauchen erst auf, wenn es um konkrete Maßnahmen geht. Dann kommt der Nimby-Reflex oder Korporations-Gedanke zum Tragen. Man kann sich ja ausmalen, was geschieht, wenn wir feststellen, dass wir statt 118 vielleicht nur noch 60 Gemeinden benötigen; oder dass Gemeinden wie Kopstal und Leudelingen fortan nicht mehr zum Süden, sondern zum Zentrum gehören; oder wenn eine Industriezone nicht gebaut wird, weil aus nationaler Sicht nichts dafür spricht. Dann zählen lokale Argumente auf einmal mehr als nationalpolitische. Aber das IVL beweist uns, dass wir den Umbau in Angriff nehmen müssen. Wir stehen vor der Wahl: Veränderung und Lebensqualität oder Stillstand und Rückschritt!

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