Sozialstandards auf hohem Niveau halten. Interview mit Wirtschaftsminister Henri Grethen über den Wirtschaftsstandort Luxemburg

Luxemburger Wort: Wie bewerten Sie die aktuelle Situation der Luxemburger Nationalwirtschaft?

Henri Grethen: Im Vergleich zu den Nachbarstaaten geht es Luxemburg verhältnismäßig gut. Das Bruttoinlandsprodukt stieg im vergangenen Jahr in unserem Land um 2,1 Prozent gegenüber 0,5 Prozent im EU-Durchschnitt. Deutschland als größte Volkswirtschaft der Eurozone musste sogar eine Phase der Stagnation durchmachen.

Wir hatten nicht das Glück wie bei vorigen Zyklen, dass der Finanzsektor die allgemeine wirtschaftliche Verlangsamung abbremsen oder abfedern konnte. Das Gegenteil war vielmehr der Fall: Die rückläufige Entwicklung von vereinzelten Aktivitäten in der Finanzbranche verstärkte verschiedene Probleme. In einer Ansprache auf der Foire sprach ich einmal vom Finanzzentrum als Arbeitsplatzvemichter. Das hörte niemand gerne. Ich wollte damit aber nur unterstreichen, wo unsere Probleme liegen.

Sie tragen den Titel des Wirtschaftsministers, sind aber hauptsächlich nur für die Industriebetriebe zuständig. Ist das nicht irreführend? Fürchten Sie nicht, dass Sie für Entwicklungen verantwortlich gemacht werden können, die Sie gar nicht wirksam beeinflussen können?

Henri Grethen: Es trifft zu, dass der Wirtschaftsminister in Luxemburg in erster Linie nur für die Industrie zuständig ist. .Dieser macht leider nur noch zehn Prozent des Nationalprodukts aus. Andere Zweige wie Handel, Handwerk und Finanzplatz fallen nicht in die direkte Kompetenz des Wirtschaftsministers. Dieses Risiko muss ich in Kauf nehmen. Aber in der Politik muss man zum Risiko stehen. Daraus kann sich nämlich auch eine Chance ergeben.

Würden Sie eine Bündelung von verschiedenen Teilen der Wirtschaft unter einem Ministerium befürworten?

Henri Grethen: Das würde Sinn machen. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, Industrie, Mittelstand und Tourismus zusammenzuführen. Denkbar wäre auch die Schaffung eines Ministeriums der Infrastrukturen, unter dem das Transportressort und die öffentlichen Bauten fungieren könnten. Aber das ist Zukunftsmusik. Das sind Verhandlungen, die in einem Koalitionsabkommen geführt werden müssen. Die Sorge von mittelständischen Unternehmen, ihre Anliegen könnten in einer solchen Struktur zu kurz kommen, sind zwar verständlich, aber im Fall einer gut durchdachten Organisation nicht berechtigt.

Sie stehen seit fünf Jahren an der Spitze des Wirtschaftsministeriums. Haben Sie alles erreicht, was Sie sich vorgenommen hatten?

Henri Grethen: Ich hätte mir selbstverständlich gewünscht, dass die Wirtschaft mit der gleichen Stärke wie im Jahr 2000 gebrummt hätte. Durch negative internationale Entwicklungen konnten sich diese Hoffnungen nicht erfüllen. Erlauben Sie mir aber daran zu erinnern, dass die zyklischen Bewegungen, also das konjunkturelle Auf und Ab, eine Selbstverständlichkeit in der Wirtschaft sind. Die Regierung hat aber nicht tatenlos auf die Wende reagiert. In den mageren Jahren wurde auf die finanziellen Rücklagen zurück gegriffen, die in den guten Jahren aufgebaut wurden.

Diese erfolgreiche Politik darf aber nicht darüber hinweg täuschen, dass die Wirtschaft eine ständige Baustelle ist, die sowohl die Unternehmen als auch die öffentliche Hand kontinuierlich fordert. Die Regierung hat sich in den vergangenen fünf Jahren auf jeden Fall bemüht, die Rahmenbedingungen für die Betriebe kontinuierlich zu optimieren.

Über welche Akzente freuen Sie sich am meisten?

Henri Grethen: Mir lagen zwei Punkte besonders am Herzen. Einerseits die Erforschung und Entwicklung von neuen Produkten, also die Innovationspolitik im Interesse der Unternehmen, andererseits das "Life Long Leaming". In beiden Politikfeldern wurde in Zusammenarbeit mit dem Forschungsministerium und dem Erziehungsministerium eine ausgezeichnete Arbeit geleistet.

Wir haben zudem das Programm der industriellen Diversifikation konsequent weitergeführt. Die Resultate, die auf dem Tisch liegen, unterstreichen unser Engagement. Niemand kann behaupten, wir hätten auf die Bremse getreten. Priorität maßen wir der endogenen Entwicklung der bestehenden Betriebe in Luxemburg bei. Dazu gehörte, dass wir durch unsere wiederholten Besuche der Hauptsitze der in Luxemburg vertretenen ausländischen Konzerne den nationalen Wirtschaftsstandort mit seinen Vorzügen definitiv in den Köpfen der ausländischen Wirtschaftskapitäne zu verwurzeln versucht haben. Außerdem haben wir diese Muttergesellschaften immer wieder angeregt, weiter in ihren Werken in Luxemburg zu investieren.

Können Sie Beispiele nennen?

Henri Grethen: Ein treffendes Beispiel ist DuPont. Der Technologiekonzern baut weltweit 3 000 Arbeitsplätze ab. Luxemburg das größte Standbein in Europa, ist jedoch davon nur am Rande betroffen. Das zeigt, dass unsere Politik nicht falsch war. Ein anderes Beispiel ist Husky. Dieser Konzern hat eine atemberaubende Entwicklung genommen. Er hat entschieden, den Sitz für sein europäisches Geschäft exklusiv in Luxemburg anzusiedeln.

Nun gut. Haben Sie sich auch ausreichend um die Ansiedlung neuer Betriebe bemüht?

Henri Grethen: Selbstverständlich! Wir gingen dabei jedoch selektiv vor. Wir haben uns insbesondere um hochspezialisierte, kleine Unternehmen bemüht, die unsere nationale Industriestruktur diversifizieren, uns weniger anfällig machen für zyklische Schocks und für unser Land mit der Ansiedlung von wichtigem Knowhow verbunden sind. Luxemburg ist kein Billiglohnland. Es macht deshalb wenig Sinn, den Investoren etwas anders vorzugaukeln. Das wäre eine Politik, die kurzfristig von Erfolg gekrönt sein könnte, mittelfristig jedoch enorme Probleme schaffen würde.

Kurzum: Über meine Bilanz im Bereich industrielle Diversifikation bin ich stolz. Ich stehe dazu.

Was war für Sie in der vergangenen Legislaturperiode das schwerste Dossier?

Henri Grethen: Als Transportminister hat auch mir der tragische Unfall der Luxair-Fokker die schwersten Stunden bereitet. Keine Freude bereiteten im Wirtschaftsministerium die Restrukturierung von traditionellen Luxemburger Unternehmen wie Villeroy & Boch und Arcelor. Auf der einen Seite stellt eine Restrukturierung eine neue Chance für ein Unternehmen dar, seine Zukunft am Standort Luxemburg zu festigen. Auf der anderen Seite gehen die Produktivitätsgewinne, die durch neue Investitionen erzielt werden, auf Kosten von Arbeitsplätzen. Ich habe leidvoll erfahren müssen, dass es nicht einfach ist, beide Sachverhalte zu erklären.

Sie sprachen gerade davon, dass Luxemburg kein Billiglohnland ist. Über welche Stärken verfügen wir denn noch, die aus Produktionssicht diesen Nachteil ausgleichen können?

Henri Grethen: Der Wirtschaftsstandort Luxemburg verfügt weiterhin über eine ganze Reihe von Vorzügen: unsere gute Lage im Herzen des kaufkraftstarken Europa, unsere Mehrsprachigkeit, niedrige Lohnnebenkosten oder eine wettbewerbsfähige Steuerlandschaft.

Trumpf ist auch die Kombination einzelner Faktoren wie z.B. der Aspekt Sicherheit. Luxemburg gilt als das sicherste Land weltweit. Aber auch Argumente wie die gute Ausbildung der menschlichen Ressourcen haben ihre volle Gültigkeit.

Neben den positiven Faktoren gibt es aber auch Schwächen. Die Industriellenvereinigung Fedil spricht von einer Verschlechterung der Produktivität, der Inelastizität der Staatsausgaben oder einer hohen Kerninflationsrate. Teilen Sie diese Analyse?

Henri Grethen: Ich teile diese Kritiken, die im Rahmen einer internationalen "pensee unique" übernommen werden, nicht ganz. Je nachdem auf welcher Seite man sitzt, werden die Stärken und Schwächen anders eingeschätzt und gewichtet. Nehmen wir den Punkt der starken Inelastizität des Staatshaushalts. Diese Kritiker behaupten gleichzeitig, die Konsumausgaben müssten eingeschränkt, die Investitionen aber auf dem Niveau gehalten werden. Wenn man jedoch die Frage stellt, bei welchen Ausgaben der Rotstift angesetzt werden soll, verwässert sich die Diskussion ganz schnell.

Lassen Sie mich eines unterstreichen: Luxemburg hat sehr hohe Sozialstandards. Wir sind kollektiv sehr zufrieden damit. Unser Gestaltungsspielraum muss so ausgelegt werden, dass wir dieses Niveau auch in Zukunft halten können.

In ihrer ersten Foire-Ansprache haben Sie hervorgehoben, dass die Entwicklungsmöglichkeiten Luxemburgs immer mehr durch Brüssel festgelegt würden. Welche Gestaltungsmöglichkeiten haben wir denn noch?

Henri Grethen: Ich bin überzeugt, dass Europa eine Chance darstellt. Europa ist aber auch eine Herausforderung. Unser Spielraum ist tatsächlich enger geworden. Er ist aber immer noch groß genug, wenn man geschickt vorgeht. Als kleines Land müssen wir nicht die gleichen Rücksichten auf den Heimatmarkt nehmen wie die großen Wirtschaftslokomotiven. In meiner letzten Foire-Rede habe ich von einer neuen Arbeitsgruppe gesprochen, deren Hauptaufgabe darin bestehen soll, auszuloten, welche Möglichkeiten sich aus europäischen Richtlinien und Reglementen für den Wirtschaftsstandort und wo sich Nischen und Entwicklungspotenzial ergeben können. Die Arbeitsgruppe, die nach dem Schema der Codeplafi in der Finanzbranche funktionieren könnte, soll sich aus Staatsbeamten und Fachleuten aus der Privatwirtschaft wie Industrie, Beratungsgesellschaften und Anwaltskanzleien zusammensetzen. Ich bin dabei, diese Idee umzusetzen.

"Les conditions pour aller de l'avant, nous les detenons entre nos mains, mais il faut éviter de commettre une erreur d'aiguillage", haben Sie mit optimistischem Grundton in der von Ihnen erwähnten Foire-Ansprache erklärt. Was wäre denn ein schlimmer Fehler, den wir nicht begehen sollten?

Henri Grethen: Ein großer Fehler wäre zum Beispiel die Einführung der 35-Stunden-Woche. Das würde die Produktivität dramatisch verringern und am Problem der Arbeitslosigkeit absolut nichts ändern. Der Fall Frankreich zeigt uns, in welche Sackgasse eine solche Entscheidung führen kann.

Herr Grethen, eine letzte Frage: Der Premierminister hat angekündigt, unter Luxemburger EU-Präsidentschaft eine Reform des EU-Wirtschafts- und Stabilitätspakts vorzulegen. Welchen Zielen sollten Ihrer Meinung nach die neuen Bestimmungen gerecht werden?

Henri Grethen: Ich glaube nicht, dass der Pakt in seinen Grundfesten geändert werden muss. Luxemburg ist der Meinung, dass der Stabilitätspakt seiner nationalen Situation nicht richtig Rechnung trägt. Es ist ja irrig, dass nach Maastricht-Interpretation unser öffentliches Defizit steigt, wenn wir Investitionen tätigen, die aus den eigenen Rücklagen und ohne Neuverschuldung finanziert werden. Wichtig ist aber auch, dass in Zeiten, in denen Flexibilität notwendig ist, der Stabilitätspakt diese Flexibilität ermöglicht, um einen sich abzeichnenden Wirtschaftsaufschwung nicht schon im Keim zu ersticken. Ich bin aber strikt gegen zu viel Schuld, da diese eine unverantwortliche Belastung für zukünftigen Generationen darstellt.

Herr Minister, vielen Dank für das Gespräch!

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