"Balanceakt", Jean-Claude Juncker au sujet de la Présidence luxembourgeoise du Conseil de l'UE

Die elfte EU-Präsidentschaft seit dem Inkrafttreten der Römischen Verträge von 1957 kommt auf Luxemburg im ersten Halbjahr 2005 zu – wie bewerten Sie dieses Ereignis?

Die Übernahme einer EU-Präsidentschaft ist insofern undramatisch, als dass dies alle sechs Monate passiert. Und im luxemburgischen Fall besonders undramatisch, weil es zum elften Mal passiert und in meinem persönlichen Fall noch undramatischer, weil es zum vierten Mal passiert. Dies ist jedes Mal eine Anstrengung für die gesamte Regierung und die gesamte Verwaltung, also eine Herausforderung, die es in sich hat, die bei mir aber nicht zu schüttelfrostartigen Zuständen führt.

Verfällt Luxemburgs nationale Politik trotz Reformbedarfs in einen Dornröschenschlaf, wenn alle Regierungskräfte sechs Monate lang auf den EU-Vorsitz ausgerichtet sind?

Es wird in der Innenpolitik nur ein Tempo vorgelegt werden können, das der Inanspruchnahme durch den EU-Vorsitz entspricht. Die nächsten sechs Monate werden jedenfalls nicht Schrittmacherfunktion bei der innenpolitischen Gestaltung haben können.

Trotzdem sind ja nicht alle Minister in gleichem Maß von dem EU-Vorsitz betroffen oder durch Mehrarbeit überlastet. Es gibt Minister, die wenig bis in die europäische Union hineinreichende Kompetenzen zu verwalten haben, die jedenfalls können ihre Reformvorhaben ungestört weitertreiben. Ich habe sie im Übrigen auch individuell gebeten, dies zu tun, damit wir diese halbjährige Präsidentschaft nicht völlig ungenutzt für das innenpolitische Weiterkommen verstreichen lassen.

Wird es der EU gut tun, ab 2007 von einem gewählten europäischen Präsidenten geführt zu werden, dessen Amtszeit, wie im Verfassungsvertrag vorgesehen, auf zweieinhalb Jahre ausgelegt ist?

Das wird im Wesentlichen davon abhängen, wer dieses Amt bekleiden wird.

Wenn dies jemand sein wird, der die Zuständigkeiten des Kommissionspräsidenten achtet, der sehr genau Rücksicht nimmt auf die Befindlichkeiten der Mitgliedstaaten, der ein nicht intergouvernementales, sondern in allen Hinsichten lupenreines pur-europäisches Engagement zeigt, weil er auch derartige Überzeugungen hat, dann wird sich die Neuschaffung dieses Posten positiv auf die europäische Entwicklung auswirken. Wird aber jemand EU-Präsident, der – wie ein Sonnenkönig alles und alle anderen überstrahlend – versucht, die europäischen Geschicke ohne Rücksicht auf andere zu lenken oder den Kommissionspräsidenten vom Spielfeld zu verdrängen, nur mit den großen Mitgliedsstaaten zusammenzuarbeiten und nicht mit allen, dann wird sich dies als eine schlechte Idee herausstellen. Das Amt besteht nicht aus sich selbst. Es wird mit Leben erfüllt vom Geist dessen, der erster Präsident sein wird.

Viele wollten Sie schon im Sommer 2004 zum EU-Kommissionspräsidenten wählen. Ist Ihr EU-Vorsitz 2005 daher eine Art Kürlauf für die Übernahme des Amtes des ersten EU-Präsidenten im Jahr 2007?

Ich glaube nicht, dass ich jetzt plötzlich über Nacht beweisen müsste, dass es keine abwegige Idee war, mich um die Kommissionspräsidentschaft zu bitten. Ich habe abgelehnt aus den bekannten Gründen, weil ich den Luxemburgern versprochen hatte, in Luxemburg zu bleiben, wenn der Wahlausgang so wäre, wie er war, und das war er dann auch. Ich kann mich jetzt nicht jeden Tag mit derartigen Karriereplänen oder Karrieresprüngen beschäftigen.

Es ist Ihr erklärtes Anliegen, exzessive nationale Tendenzen in Europa zu entschärfen. Wie wollen Sie sich als EU-Ratspräsident da anlegen?

Ach, man muss immer wieder erklären, dass, wenn jeder Europapolitik nach eigenem Gusto betreibt und jeder nur auf seine eigene Geschmacksrichtung Rücksicht nimmt, dass dann der europäische Tisch nicht korrekt gedeckt werden kann und das, was aufgetragen wird, nur einem schmecken wird. Insofern muss jeder immer wieder neu lernen, dass wir alle Schritte auf den anderen zutun müssen. Der exzessive Vortrag des national Wünschenswerten unter einfordernder Form tut Europa nicht gut.

Die Schwerpunkte Ihres EU-Vorsitzes sind bekannt, mit Lissabon-Strategie, Reform des Stabilitätspaktes, Absteckung des Finanzrahmens 2007 bis 2013, Balkanfrage ... Das ist ja ein sehr dichtes Programm. Was muss wirklich erledigt werden?

Die Zwischenbilanzierung, die Lissabon-Agenda betreffend, muss erledigt werden, der Stabilitätspakt wird reformiert werden und wir werden uns sehr um die Aufstellung der finanziellen Vorausschau für den Zeitrahmen 2007 bis 2013 bemühen, mit der Absicht, dieses Unterfangen bis Ende Juni unter Dach und Fach gebracht zu haben, ohne dass wir uns allerdings der Illusion hingeben würden, dies wäre einfach. Es gibt einige in der Europäischen Union, die es lieber sähen, wenn wir uns über die Finanzfrage erst im zweiten Halbjahr 2006 einigen würden als im ersten Halbjahr 2005. Die so denken, irren sich gewaltig, denn wir müssen uns im Juni 2005 geeinigt haben, um den Politikbereich und die anzuleiernden Programme fristgerecht zum 1. Januar 2007 aufstellen zu können.

Apropos Finanzen: Warum fällt vielen Bürgern beim Stichwort EU eigentlich nur ein, was das kostet?

Ich glaube nicht, dass viele Ihrer Leser aus dem Stand den Kostenpunkt der Europäischen Union benennen könnten, und die wenigsten Ihrer Leser werden genau angeben können, was die Europäische Union sie persönlich kostet. Im Übrigen kann man den Kostenpunkt der Europäischen Union berechnen, indem man ausrechnet, was eine Stunde Frieden wert ist und was eine Stunde Krieg kostet. Diese Überlegung ist uns inzwischen aber fremd geworden.

Viele der so genannten Netto-Beitragsländer wollen eine klare Abgabegrenze nach oben. Ist das ein falsches Denken?

Ich glaube, es ist falsch zu denken, man könne die Mitgliedstaaten der Europäischen Union in zwei Gruppen aufteilen, auf der einen Seite die Gruppe der Nettozahler, auf der anderen Seite die Gruppe der Nettoempfänger. Europa ist mehr als ein nominaler Finanztransfer. Es geht um die Finanzierung der europaweit wirksamen Solidarität. Die hat einen Kostenpunkt. Dieser Kostenpunkt muss vornehmlich von denen bestritten werden, denen es besser geht, als von denen, die Konsumenten europäischer Solidarität sind. Mir ist es lieber, ich wohne in Luxemburg und bin Nettozahler, als dass ich in einer wirtschaftlich und sozial sich langsam entwickelnden Region in Südgriechenland wohnen würde.

Seit Mai besteht die EU aus 25 Mitgliedsländern. Sie sind langjähriger Beobachter und Kenner. Wofür steht die neue EU der 25?

Die europäische Union, die sich von 15 auf 25 Staaten entwickelt hat, hat durch diese Erweiterung nach Osten hin unter Beweis gestellt, dass sie in einem Moment größter politischer Umbrüche in Europa, sprich Niedergang des Kommunismus und Neugründung vieler Staaten in Europa, fähig war zu reagieren. Dass sich diese EU mit 25 Staaten an Bord, 2007 mit 27 an Bord, anders anfühlt und anders liest als die EU der 15, liegt auf der Hand. Die Entscheidungsprozesse sind vielfältiger und komplizierter geworden. Die Standpunkte, die es zu beachten gilt, setzen einen Sinn für nuancenreiches Facettendenken voraus, dass wir uns in der EU der 15 notwendigerweise nicht angewöhnt hatten. Wir laufen Gefahr, wenn wir nicht auf uns achten, dass wir uns von dem Ziel einer tiefer gehenden politischen Integration Europas in die Richtung einer großen Freihandelszone entwickeln könnten. Aber dass wir aus einer EU, die mit sechs Mitgliedstaaten begonnen hat, inzwischen eine politische Konstruktion sui generis, die in der ganzen Welt auf Bewunderung stößt, von 25 gemacht haben, an deren Tür immer neue Beitrittskandidaten klopfen, zeigt, dass die europäische Integrationsidee der größte Erfolg ist, der politisch weltweit zu besichtigen ist.

Apropos an die Tür klopfen – es gibt Interessenten bis hin zur Ukraine. Vor welchen Risiken steht die EU der 25, wenn sie das Interesse auch dieser Länder weckt?

Das ist eine Frage, die man generell und abschließend überhaupt nicht beantworten kann. Die EU war, ist und soll ein kontinentales Friedensprojekt bleiben und dafür sorgen, dass überall auf dem europäischen Kontinent Demokratie vorherrscht, dass wir uns erfolgreich um das Miteinander bemühen, statt uns in einem plumpen Gegeneinander auszutoben, was europäische Angewohnheit war während vieler Jahrhunderte. Kann man eine Grenze ziehen, wenn es um Frieden und Stabilität geht? Gibt es da objektiv feststellbare Grenzpfähle, die der Ausdehnung der Europäischen Union im Wege stehen? Das glaube ich nicht. Trotzdem weiß ich, dass die Europäische Union immer von Überdehnungsgefahr bedroht ist. Die Gesamtdebatte um die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zeigt, dass die Menschen schon ein sehr dezidiertes Gefühl für das entwickelt haben, was geht und was nicht geht.

Was geschähe Ihrer Meinung nach, wenn die EU-Staaten ihre Bürger über die Türkei-Beitrittsfrage abstimmen ließen?

Ich glaube, dass, wenn man in drei Wochen über einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union abstimmen würde, dieses Unterfangen auf eine massive Ablehnung der öffentlichen Meinung stoßen würde-jedenfalls in unseren Regionen Europas. Es gibt unter den 25 Staaten der EU auch viele Länder, in denen der mögliche Beitritt der Türkei auf größtmögliche Zustimmung stößt. Aber wenn die Luxemburger beispielsweise am übernächsten Sonntag abstimmen würden, ob die Türkei jetzt Mitglied werden sollte, würde ein derartiges Unterfangen auf massive Ablehnung stoßen. Wenn in 15 oder 20 Jahren die Frage wirklich ansteht – denn so lange werden diese Beitrittsverhandlungen dauern, wenn sie nicht vorher abgebrochen werden -, wenn wir also, in 20 Jahren von jetzt aus betrachtet, diese Frage zu erörtern haben, wird man dies vermutlich weniger leidenschaftlich tun. 20 Jahre sind ein langer Zeitraum, wenn es um Völker geht.

Wie viele Generationen junger Europäer müssen denn nachkommen, bis das Europagefühl ein natürlicheres geworden ist?

Ich habe nie große Überzeugungsprobleme, wenn ich denen, die aus eigenem Erlebnis heraus noch Kriegserinnerungen haben, die Notwendigkeit der europäischen Integration erläutern muss, kann und darf. Ich habe größere Probleme, wenn ich jungen Menschen die europäischen Notwendigkeiten vermitteln muss, die eben keine Kriegserfahrungen haben. Ich glaube, dass wir jetzt vieles in Europa fest verankern müssen, weil im Jahre 2030 oder 2040 die europäischen Länder von Menschen regiert und die europäischen Gesellschaften aus Menschen bestehen, für die die Erinnerungen an Hitler und Stalin nicht ausgeprägter sind wie die Erinnerung an Clemenceau oder Wilhelm II in meiner Generation. Deshalb müssen jetzt einige Dinge endgültig und unumkehrbar auf den Weg gebracht werden, weil ich mir denke, ohne dass ich die zukünftigen Generationen beschimpfe würde, dass die längere Zeit nach uns Geborenen Europa nicht mehr im Bauch haben, sondern nur noch im Kopf. Wer Europa nur im Kopf hat und nicht im Bauch hat, der wird Europa nicht weiter bringen.

Alle Welt redet von mehr Wettbewerbsfähigkeit. Die EU peilt mit der Lissabon-Strategie für 2010 sogar die Spitzenposition an. Wo bleibt bei dieser starken Betonung der Wettbewerbsfähigkeit die soziale Dimension der EU?

Die Lissabonner Reformagenda besteht aus drei Elementen: Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, Festigung des sozialen Zusammenhaltes und eine den Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung gerecht werdende Umweltpolitik. Bei der Zwischenbilanz des Lissabon-Prozesses, für die die luxemburgische EU-Ratspräsidentschaft zuständig sein wird, kommt es uns wesentlich darauf an, dieses synergetische Gleichgewicht nicht aus der Balance zu bringen. Es geht zwar um mehr Wettbewerbsfähigkeit, weil wir mehr Wachstum und mehr Beschäftigung in Europa brauchen, aber Wettbewerbsfähigkeit, wie das Ökonomische überhaupt, ist kein Selbstzweck. Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum werden nicht angestrebt, weil dies geschlossene Gedankenkreise wären, sondern weil ein beschäftigungsintensives Wachstum soziale Kohäsion möglich macht. Es kann keinen gefestigten sozialen Zusammenhalt geben, wenn wir bei diesen schwachen Wachstumssprüngen bleiben, die wir als Europäer in den letzten Jahren zu verzeichnen hatten. Deshalb gehören für mich Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit und Festigung der sozialen Kohäsion intimst als Begriffspaar beieinander. Man darf beides nicht auseinander reißen.

Ist dies eine Auffassung, zu der sich die EU-Mitgliedstaaten mehrheitlich bekennen?

Nein. Alle Länder der Europäischen Union haben wesentlich höhere Arbeitslosenbestände als Luxemburg. Sie haben finanzielle Probleme, die wesentlich größer sind als die, die wir aus eigener Anschauung haben. Sie haben Wachstumszuwächse, die wesentlich niedriger sind als die luxemburgischen. Dass es in den Ländern, denen es weniger gut geht als Luxemburg, die Überlegung gibt, alles müsse getan werden, um die Wachstumskraft der nationalen Volkswirtschaften und der europäischen Volkswirtschaft insgesamt zu steigern, das alles getan werden muss, damit die europäische Wirtschaft im Verhältnis zu Amerika, Japan und Asien wettbewerbsfähig ist, ist nachvollziehbar. Dieses Ziel darf aber nicht so glorifiziert werden, dass andere Zielsetzungen wie beispielsweise die soziale Kohäsion hinten angestellt werden. Dagegen muss man sich wehren und man muss diesen Zusammenhang erklären. Es gibt keinen Widerspruch zwischen Umweltpolitik, sozialer Kohäsion und Wettbewerbsfähigkeit. Es ist im Gegenteil so, dass je weniger soziale Kohäsion man hat, um so weniger man auf ständiges gleichgewichtiges Wirtschaftswachstum vorbereitet ist. Eine konsequente Umweltpolitik ist kein Standortnachteil, sondern bei richtig gelagerter Politik ein sehr wesentlicher Standortvorteil.

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