Jean-Claude Juncker: Nicht nur Konsens. Le Premier ministre au sujet de la Présidence luxembourgeoise

Revue: Die EU-Präsidentschaft wird von zwei Themen beherrscht: einer Zwischenbilanz der Lissabon-Strategie und der Reform des Stabilitätspaktes. Worin liegt die größte Schwierigkeit?

Jean-Claude Juncker: Beide Herausforderungen sind anspruchsvoll, aber sinngemäß nicht vergleichbar. Bei der Zwischenbilanz der Lissabon-Strategie herrscht vor allem Erklärungsbedarf. Wir müssen den Menschen in Europa verständlich machen, dass wir uns zum Ziel gesetzt haben, der wettbewerbsfähigste Teil der Welt zu werden. Deshalb müssen wir Maßnahmen in die Wege leiten, die das europäische Sozialmodell in allen Mitgliedstaaten sicher stellen. Das ist eine gewaltige gesellschaftspolitische Reform. Sie hat 2002 angefangen, wurde aber bislang nicht umgesetzt. Deshalb versteckt sich hinter dem abstrakten geografischen Begriff vor allem der Wille, diesen Prozess voranzutreiben. Dabei müssen alle Regierungen mitmachen. Deshalb soll alle drei Jahre eine Bilanz des Erreichten präsentiert, diskutiert und bewertet werden.

Revue: Was hat Priorität? Die Wirtschaft oder der soziale Aspekt?

Jean-Claude Juncker: Lissabon besteht aus drei Teilen: Wettbewerbsfähigkeit, soziale Kohäsion und eine adäquate Umweltpolitik, die sich einschreibt in eine nachhaltige Entwicklung. Es ist die Absicht der luxemburgischen Präsidentschaft, allen Aspekten Rechnung zu tragen. Die Wettbewerbsfähigkeit darf jedoch kein Selbstzweck und der soziale Aspekt nicht zweitranging werden. Es gilt ein einheitliches Denken.

Revue: Stichwort Stabilitätspakt?

Jean-Claude Juncker: Europa braucht mehr Stabilität in der politischen Begleitung der Währungsunion. Wir müssen die Mehreinnahmen aus guten Zeiten konsequent nutzen, um Budgetdefizite in der öffentlichen Verschuldung abzubauen. In wirtschaftlich schwachen Zeiten wird künftig mehr Flexibilität gefordert. Die Regierung benötigt mehr Ellenbogenfreiheit, um gegen zu steuern, wenn es schlechter geht. Wir dürfen nicht gezwungen werden, in Krisenzeiten zu sparen und so die Notsituation zu verschärfen.

Revue: Was liegt Ihnen darüber hinaus europapolitisch am Herzen?

Jean-Claude Juncker: Bis Juli müssen wir die Finanzperspektiven der Jahre 2007 bis 2013 aufstellen. Das wird ein harter Brocken, weil zwischen den Nettozahlern und den Empfängerländern ein heftiger Kampf tobt. Die Nettozahler wollen den nationalen Beitrag auf 1 Prozent (des Bruttoinlandproduktes) beschränken. Diejenigen, die mehr kassieren als sie einzahlen, wollen höher greifen. Viel Arbeit erwartet auch den Justizminister im europäischen Rechtsraum.

Revue: Die niederländische Präsidentschaft hatte ihr Ziel bewusst nicht allzu hoch geschraubt, um der erweiterten Gemeinschaft Zeit zu lassen, zusammen zu wachsen. Hat sie das hin gekriegt?

Jean-Claude Juncker: Sie hat ein umfangreiches Programm abgespult, selbst wenn nicht immer alles reibungslos lief. Der Lernprozess ist noch nicht abgeschlossen. Auch wir werden uns bemühen, alle aufeinander abzustimmen.

Revue: Inwiefern gleicht das heutige Europa noch demjenigen, das Luxemburg vor acht Jahren präsidierte. Hat es sich durch die Erweiterung nicht verwässert?

Jean-Claude Juncker: Auch ein Europa mit 15 Mitgliedern hat nicht mit einer Stimme gesprochen. Es gab immer ausgeprägte Meinungsverschiedenheiten. Eine größere Gemeinschaft läuft noch mehr Risiko, dass die Meinungen auseinander driften, die Linien nicht mehr erkennbar sind, die Politik schwieriger zu vermitteln ist. Damit müssen wir uns abfinden.

Revue: Die Suche nach Konsens wird die Präsidentschaft viel Kraft kosten, die dann nicht anders eingesetzt werden kann.

Jean-Claude Juncker: Wir können nicht immer nur nach dem Konsens suchen. Über gewisse Fragen wird einfach abgestimmt. In der neuen Gemeinschaft ist ja keine Einstimmigkeit mehr gefordert, die Mehrheit wird entscheiden. Eine gute Präsidentschaft ist nicht diejenige, die Entscheidungen schnell herbeiführt und durchboxt. Eine umsichtige Präsidentschaft setzt voraus, dass man sich Zeit nimmt, um zuzuhören. Vor allem denjenigen, die man nicht so gut kennt, weil sie erst neu sind und andere Sensibilitäten haben. Gegenseitiges Verständnis herbeiführen ist die Hauptaufgabe der Präsidentschaft. Mehr noch als der Vorsitz der Sitzungen. Die kann man in meinen Augen nur gut präsidieren, wenn man ein extremes Feingefühl für die Sorgen aller Mitgliedsstaaten entwickelt hat.

Revue: Ist eine gute Präsidentschaft Voraussetzung für die Wahl zum ersten europäischen Präsidenten?

Jean-Claude Juncker: Es besteht kein Zusammenhang.

Revue: Besteht ein Zusammenhang mit den Aufgaben des Mister Euro?

Jean-Claude Juncker: In den ersten sechs Monaten sind das Amt des Präsidenten des Finanzministerrates und des Präsidenten der Eurogruppe eine enge Personalunion. Weil die Verantwortung der Eurogruppe danach noch 18 Monate andauert, können die Finanzminister ein Programm ausarbeiten, das sich geschlossen über zwei Jahre erstreckt. In der sechsmonatigen Doppelfunktion können eine Reihe Entscheidungen, vor allem im Zusammenhang mit dem Stabilitätspakt, vorbereitet und begleitet werden. Das vereinfacht die Arbeit der luxemburgischen Ratspräsidentschaft. Die Kollegen aus den 24 anderen Ländern wissen von Anfang an, dass sie mit dem Präsidenten klarkommen müssen.

Revue: Wie stark ist der Druck der Referenden über die europäische Verfassung, die jetzt in vielen Ländern stattfinden?

Jean-Claude Juncker: Die politische Auseinandersetzung über Europa ist eine meiner großen Sorgen. In Polen und Großbritannien sind Parlamentswahlen. Ab Februar sind die Referenden. Dadurch droht ein gewisser Stillstand. Die Länder, in denen abgestimmt wird, werden alles dran setzen, in Europa keine Diskussion aufkommen zu lassen, die die nationale Befragung beeinflussen könnte. Ich fürchte, ich werde öfters einen Regierungschef am Telefon haben, der eine Diskussion verhindern will, bis dass die Volksbefragung in seinem Land vorüber ist, als dass man mich bittet, Dampf zu machen. Ich bin nicht bereit, mich von diesen Ängsten beeindrucken zu lassen, muss sie allerdings berücksichtigen.

Revue: Wird die nationale Politik nicht allzu sehr unter der EU-Präsidentschaft leiden?

Jean-Claude Juncker: Die Demokratische Partei hat, genau wie 1997, Verständnis dafür, dass manche Minister in den nächsten Monaten bis über beide Ohren mit europäischen Fragen eingedeckt sind. Ihre Mitglieder haben selbst Regierungserfahrung und kennen die Bedeutung einer gelungenen EU-Präsidentschaft.

Revue: Besteht angesichts dieses Konsenses nicht die Gefahr eines innenpolitischen Stillstandes?

Jean-Claude Juncker: Die EU-Präsidentschaft belastet die Minister unterschiedlich. Staats-, Justiz-, Finanz- und Außenminister sind stark beansprucht, andere Minister sind stärker belastet als sonst, aber es sind auch Kollegen weitaus weniger betroffen und sie sollten deshalb die Zeit nutzen, um ihre Pläne und Projekte umzusetzen.

Revue: Welches sind die Prioritäten von 2005?

Jean-Claude Juncker: Die Wettbewerbsfähigkeit fördern, um das Gleichgewicht des Landes zu bewahren. Rund um dieses Thema artikulieren sich viele innenpolitische Fragen.

Revue: Sie sind seit 22 Jahren Minister. Sie managen Ihre vierte Ratspräsidentschaft. Was motiviert Sie immer wieder neu?

Jean-Claude Juncker: Die Menschen hier im Land.

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