Jean-Claude Juncker fait le bilan de la Présidence luxembourgeoise

Joé Spier: Die luxemburgische EU-Ratspräsidentschaft war mit wichtigen Aufgaben befasst, u. a. mit der Reform der Lissabon-Strategie. Konnte diese Arbeit im Sinne der Interessen der Arbeitnehmer vollzogen werden?

Jean-Claude Juncker: Die Kommission hatte das soziale Thema recht niedrig aufgehängt. Der EGB hatte scharf dagegen protestiert und wir haben ein Maximum der EGB-Forderungen in unsere Vorschläge aufgenommen. Es ging bei der Reform der Lissabonstrategie nicht nur darum, die Wettbewerbsfähigkeit zu festigen (was natürlich auch wichtig ist). Es ging darum, dass nicht eine Reform gemacht werden würde, die von vorne herein, oder in ihren Auswirkungen, gegen die arbeitende Bevölkerung in Europa gerichtet wäre. Der Reformprozess soll mittelfristig sicherstellen, dass das europäische Sozialmodell der größt möglichen Zahl von Menschen zugute kommt. Dahingehend haben wir eingewirkt und diese Arbeit erkennt auch der EGB an, der die Willensfestigkeit der luxemburgischen Präsidentschaft ausdrücklich lobt.

Joé Spier: Die Reform des Stabilitätspaktes gehört zu den Erfolgen der luxemburgischen Präsidentschaft. Seit langem forderte die Gewerkschaftsseite eine konjunkturorientlerte Reform der Umsetzung dieses Paktes...

Jean-Claude Juncker: Der Stabilitätspakt wurde 1996 beschlossen um die Konvergenzkriterien, die den Eintritt in den Euro definierten, auch nach dem Inkrafttreten des Euro weiter zu respektieren. Mit der Zeit konnte man feststellen, dass eine automatische Anwendung der Kriterien und eine undifferenzierte Finanz- und Haushaltspolitik, die auf eine exzessive Reduzierung der Staatsausgaben orientiert war, in der Konsequenz das Abwürgen von eventuell vorhandenen konjunkturellen Kräften zur Folge hatte.

Die Reform des Stabilitätspaktes stellt sicher, dass eine mehr volkswirtschaftliche Leseart der Vorgänge berücksichtigt wird. Wer mehr als 3 % Defizit schreibt muss zwar in orthodoxe Verhältnisse zurückkehren, er hat aber mehr Zeit dazu. Es geht also nicht darum, sich kaputt zu sparen oder Einschnitte im Sozialnetz vorzunehmen (wogegen ich übrigens allergisch bin!). Italien und Portugal profitieren bereits jetzt von dieser Reform.

Joé Spier: Wie geht's mit der Aufstellung des europäischen Haushaltes für die Periode 2007-2013 weiter, nachdem sich die Staats- und Regierungschefs nicht einigen konnten?

Jean-Claude Juncker: Seit Mai habe ich kontinuierlich darauf hingewiesen, dass meiner Überzeugung nach die Bereitschaft der Mitgliedstaaten, dieses Dossier voran zu bringen, nicht genügend ausgeprägt sei. Das hat sich schließlich als richtig erwiesen.

Dabei wäre eine Einigung Mitte Juni 2005 wichtig gewesen, weil dann die Kommission unter guten Voraussetzungen all jene Programme und Initiativen hätte vorbereiten können, die besonders in wirtschaftlicher Hinsicht für die neuen Länder wichtig sind.

Nun bleibt zu hoffen, dass die britische Präsidentschaft mit ihrem Wunsch ernst macht, bis zum Ende dieses Jahres das Dossier abzuschließen. Man wird dann feststellen, dass der britische Kompromißvorschlag sich nur um Millimeter von den luxemburgischen Vorschlägen unterscheiden wird. Man kann sich jetzt schon fragen, weshalb, wenn es im Dezember ein Resultat geben sollte, zuerst eine europäische Krise organisiert wurde, um sie dann lösen zu können!

Joé Spier: Wo steuert die Bolkestein-Richtlinie hin?

Jean-Claude Juncker: Was interessierten Kommentatoren wohl entging: Es ist der luxemburgischen Präsidentschaft im März gelungen, die Bolkesteindirektive in eine andere Richtung zu bewegen, weil wir den europäischen Rat im März entscheiden liessen, dass diese Richtlinie umformuliert werden müsse, um das Risiko eines sozialen Dumpings aus der Richtlinie verschwinden zu lassen.

Ich bin nach wie vor der Auffassung, dass wir in Europa eine Liberalisierung der Dienstleistungen brauchen. Der Dienstleistungsbereich macht in Europa 70% des geschaffenen Mehrwertes aus. Es ist, wenn sozial verträglich liberalisiert wird, ein Aspekt der europäischen Binnenmarktpolitik, der ohne Zweifel zu mehr Wachstum und Beschäftigung führen wird.

Und das Prinzip des Ursprungslandes, das ich in vielen sozialen Bereichen als ein inadequates Prinzip empfinde, ist aber in vielen Dienstleistungsexportbereichen passend. Besonders ein Land wie Luxemburg, das Dienstleistungsstark ist, dessen Wirtschaft von Dienstleistungen geprägt ist, die stark nach außen orientiert sind, ist auf eine sehr starke Art und Weise für sein internes Wachstum und seine interne Beschäftigung auf die Richtlinie angewiesen. Allerdings kann sie nur vom Ministerrat akzeptiert werden, wenn die Risiken des sozialen Dumpings aus der Direktive verbannt worden sind. Die Vorteile eines vereinfachten Exportes von Dienstleistungen überwiegen nicht die Gefahren der Verschlechterung der sozialen Bedingungen.

Das Europaparlament arbeitet jetzt in diese Richtung, dann geht es wieder an den Ministerrat zurück und dann müssen wir uns mit dem Parlament und der Kommission auf eine sozial vernünftige Dienstleistungsöffnung einigen.

Joé Spier: Und wie geht es mit der Arbeitszeit-Richtlinie weiter?

Jean-Claude Juncker: Die Arbeitszeitrichtlinie, so wie sie von der Kommission vorgeschlagen wurde, mundet uns nicht. Arbeitsminister Francois Biltgen hat versucht, ihr eine andere Richtung zu geben, das Europaparlament hat inzwischen eine Entscheidung getroffen mittels derer verschiedene allzu liberale Elemente abgeschossen wurden – insbesondere die Idee des individellen "Opting-out" bezüglich der 48-Stundenwoche. Die Entscheidung des EP freut mich, jedoch verkenne ich nicht, dass verschiedene Staaten, wie bspw. Großbritannien, diese Entscheidung wieder rückgängig machen möchten.

Wir machen so etwas aber als luxemburgische Regierung nicht mit. Auch befreit von der Last der Präsidentschaft werden wir uns weiter gegen alles zur Wehr setzen, was die individuellen Arbeitsbedingungen drastisch verschlechtern könnte.

Joé Spier: Was bringt der positive Ausgang des Verfassungsreferendums für Luxemburg?

Jean-Claude Juncker: Wenn Luxemburg am 10. Juli "Nein" gestimmt hätte, dann wäre das der absolute Genickschuß für den Verfassungsvertrag gewesen. Das ist nicht lediglich meine eigene Überzeugung, sondern ich weiß, dass dies die einheitliche Meinung der europäischen Staats- und Regierungschefs war.

Durch das luxemburgische Ja bleibt der Verfassungsvertrag auf der europäischen Tagesordnung und damit bleiben auch alle Chancen die der Text uns gibt, nämlich die Weiterentwicklung der sozialen Dimension Europas, weiter bestehen.

Das Votum hat für Luxemburg einen doppelten Vorteil: Für den Fall, dass Frankreich und die Niederlande nicht noch einmal über den Text abstimmen und ihn weiterhin ablehnen, kommen wir schnell in die Situation, den Vertrag irgendwie stückweise neu zu verhandeln um ihn zustimmungsfähiger zu gestalten. Ich stelle mir das sehr schwierig vor. Aber, in diese Verhandlungsauseinandersetzung gehen wir gestärkt hinein, weil wir überall dort, wo wir uns wünschen, dass Europa weiter reichen soll, wie z.B. im Sozialbereich, können wir alles das einfordern für das wir bereits seit langem, beim ersten Entwurf des Textes, gekämpft hatten. Und überall dort, wo das Risiko besteht, dass für Luxemburg wichtige Elemente aus den Vertragsverhandlungen verschwinden würden, können wir Nein sagen, weil unsere Leute bei einem Volksreferendum zugestimmt hatten.

Jene, die ohne Weiteres dafürhalten, dass in Steuerfragen die Mehrheit in Europa beschließt, denen können wir getrost sagen: mit uns nicht! Ich bin dagegen, dass eine Mehrheit von anderen Mitgliedstaaten entscheiden kann, wie hoch die Mehrwertsteuer in Luxemburg auf der Butter und der Milch zu sein hat. Das bleibt eine Entscheidung der luxemburgischen Politik, die sich mit anderen einigen kann, die sich aber nichts aufzwingen lässt. Dies gilt ebenso für die Bereiche der Renten und der Krankenkassen. Es gilt auch für die Möglichkeit, die EU-Verträge abzuändern.

Joé Spier: Weshalb haben die Luxemburger Ja zum Verfassungsvertrag gesagt?

Jean-Claude Juncker: Letzten Endes hat die Debatte gezeigt, dass es weniger um den Vertragstext ging, als vielmehr um die grundsätzliche Einstellung zu Europa. "Ja" haben jene gesagt, die mit der Fassung des Vertragstextes und seiner vorgezeichneten europäischen Ordnung einverstanden sind, und die auch die wichtigen Entscheidungen der letzten Jahre, den Euro und die Ost-Erweiterung, befürworten.

"Nein" haben jene gestimmt, die das vorgezeichnete Europa nicht wünschen weil sie ihm nicht trauen oder weil sie gegen Vieles sind, das gemacht wurde. Die Nein-Sager hatten es dabei leichter in der Debatte weil sie nur zu fordern brauchten wohingegen die Ja-Sager auch die Politik der letzten 15 Jahre erklären und verteidigen mußten.

Joé Spier: Wie bringt man Europa den Menschen näher?

Jean-Claude Juncker: Europa ist nicht nur eine Sache des Verstandes sondern auch des Herzens. Man muss auch aus dem Bauch heraus argumentieren können. Europa ist natürlich eine Sache des Verstandes und somit eine Bastion gegen die Unvernunft der Staaten. Aber Europa muss auch erfahrbar sein.

Hier gibt es einen. Unterschied in der Auffassung der Generationen. Die älteren, und deren Kinder, können noch etwas mit dem Spannungsverhältnis zwischen Krieg und Frieden anfangen, wohingegen die Jüngeren keine Vorstellung davon entwickeln.

Die extreme Vergesslichkeit, die ich bei jungen Menschen wahrnehme - und dies nicht erst seit dem Referendum - bereitet mir viel Sorgen. Vergessen ist bereits, dass noch vor 10 Jahren in Sarajevo Menschen wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit hingemetzelt wurden. Das liegt 2 1/2 Flugstunden von Luxemburg entfernt! Man kann jedoch nicht mit jungen Leuten darüber streiten – sie haben diese Lebenserfahrung ganz einfach nicht. Man muss ihnen gegenüber wohl eher rational begründen, weswegen Europa wichtig ist.

Beispielsweise in Bezug auf die Erweiterung. Viele haben ein Problem damit. Jedoch muss man wissen, dass wir mit den sechs Mittel- und Osteuropäischen Ländern und ihren 80 Millionen Einwohnern heute, also zehn Jahre nachdem die Beitrittsverhandlungen anliefen, mehr Aussenhandel betreiben als mit den USA (290 Millionen Bürger) mit denen wir seit 60 Jahren in Kontakt stehen. Es hängen heute mehr luxemburgische Arbeitsstellen am Handel mit Ost- und Mitteleuropa als am Handel mit Amerika.

Joé Spier: Sind die Befürchtungen um die Arbeitsplätze in Bezug auf den Verfassungsvertrag angebracht?

Jean-ClaudeJuncker: Der Verfassungsvertrag nennt erstmalig in der europäischen Vertragsgeschichte als Ziel die Schaffung einer sozialen Marktwirtschaft, die der Vollbeschäftigung und dem sozialen Fortschritt dienen muss. Ich kann die Behauptung nicht nachvollziehen entsprechend derer der Verfassungsvertrag durch eine Hintertür ein neo-liberales Wirtschaftssystem in Europa einführen sollte.

Ich wäre des Weiteren froh, wenn man die Situation in Luxemburg nicht mit den Problemen unserer Nachbarländer verwechseln würde. Jedermann schaut das deutsche Fernsehen und sieht, dass in Potsdammer Schlachtereibetrieben polnische Arbeiter für zwei Euro die Stunde arbeiten und die deutschen Arbeitnehmer auf der Strecke bleiben. Das kann aber nur geschehen, weil es in Deutschland keinen Mindestlohn gibt. Wir haben in Luxemburg einen Mindestlohn und die Pflicht für die Betriebe, die ausgehandelten Tarife anzuwenden. Ich kann nichts dafür wenn eine Rot /Grüne deutsche Regierung seit ihrem Amtsantritt es verpaßt hat für paradiesische Zustände für deutsche Arbeitnehmer zu sorgen.

Luxemburg schafft pro Jahr 3 % neue Arbeitsstellen. Wir sind kein Land von Massenarbeitslosigkeit oder vom Abbau des Nettobestandes der Arbeitsplätze. Also brauchen wir auch nicht die gleichen Rezepte (übrigens oftmals unsozialer Art und ergebnislos) zu übernehmen, mit denen das Ausland versucht, seine unsozialen Verhältnisse zu beheben.

Joé Spier: Welche Herausforderungen bringen die kommenden Wochen und Monate?

Jean-Claude Juncker: Die luxemburgische Regierung hat kürzlich zwei Tage lang darüber diskutiert und wir werden im Herbst noch zwei Tage beraten.

Wir müssen uns der Notwendigkeit einer Modernisierung auch in Luxemburg stellen. Ich würde eher sagen, es handelt sich um eine Re-Modernisierung, denn ich kann nicht erkennen, dass unser Land verstaubt, vermodert, alt oder gar ein Wackelgestell wäre. Das ist nicht so und die Menschen in Luxemburg arbeiten gut und die Unternehmen machen auch ihre Arbeit.

Wir müssen also eine wirtschaftliche Modernisierung machen, Neues wagen, Einzelnes ausprobieren was wir noch nicht taten, ohne dass der Prozeß der wirtschaftlichen Re-Modernisierung und neuen Positionierung begleitet wäre von einem Nuancenlosen sozialen Abbau.

Die Mode, die darin besteht zu sagen, Betriebe würden nur wettbewerbsfähig werden, wenn Druck auf die Löhne gemacht wird, wenn soziale Leistungen massiv gekürzt werden, das ist eine Mode, die ich nicht mit mache und an die ich sowieso nicht glaube. Schliesslich sieht man bisher nirgends ein Resultat dieser Politik!

Ich meine also, dass wir die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen verbessern müssen, dass wir zu einer Reihe von Umgestaltungen im Sozialwesen kommen müssen, die aber nicht auf der falschen, vielerorts in Europa grassierenden Ansicht fußen darf, dass die Beschäftigten die Feinde der Beschäftigung seien!

Und dann meine ich – und das wird neben der Schulpolitik eine der wesentlichen Aufgaben der Zukunftsgestaltung in Luxemburg sein: Wir müssen uns in einem viel stärkeren Masse um die soziale Kohäsion, den sozialen Zusammenhalt in Luxemburg kümmern.

Wir machen uns gerne vor, dass es in Luxemburg keine Armut gäbe. Dabei gibt es Armut bei uns. Nur dass wir sie nicht auf der Strasse antreffen. Es gibt in Luxemburg Menschen, die in sozialen Verhältnissen leben, die ihnen keine Lebenschance mehr lassen. Es sind Menschen, die keinen Anschluß an die Gesellschaft finden.

Es kommen so viele junge Menschen aus der Schule, die keine Lebensperspektive haben, die irgendwo verschwinden und wir wissen noch nicht einmal wohin!

Das geduldige Nachvollziehen der individuellen Lebensläufe, die schief gingen, um herauszufinden, ab wann etwas schief ging, ab wann man also eingreifen muss um eine Biographie auf der Geraden zu halten, ist die fundamentale Aufgabe der Politik.

Auch ein Politikbruch ist erforderlich, damit wir nicht mehr zusätzliche soziale Leistungen dahin steuern, wo es deren eigentlich genügend gibt, sondern um sie dorthin zu bringen, wo sie fehlen, weil wir bisher die Lebensverhältnisse dieser Menschen nicht kennen und weil Teile der Gesellschaft sie geflissentlich übersehen. Dies ist keine populäre Politik. Sie muss erst thematisiert werden. Es wird erst an der jährlichen Verdichtung der Zahlen von Jugendlichen, die von der Piste abkommen, deutlich, dass es eines Tages zur sozialen Explosion kommen kann. Es gilt, diese Gefahr einer Explosion bereits heute zu entschärfen.

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