Jean Asselborn: Wir brauchen die Türkei in der EU

Friedbert Meurer: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass am Montag nicht mit der Türkei verhandelt wird?

Jean Asselborn: Die Möglichkeit besteht. Ich glaube Österreich ist ja nicht das einzige Problem jetzt. Die Türkeifrage reflektiert ein wenig die Suche nach politischer Gradlinigkeit, die wir öfters in der Europäischen Union vorfinden. Wir suchen nicht immer den direkten Weg zwischen zwei Punkten. Wir haben öfters Krümmungen und Windungen und ich glaube, hier ist die Fragestellung eigentlich einfach: Wollen wir eine europäische Türkei ja oder nein? Wenn nein, sollten wir Schluss machen, wenn ja, brauchen wir ein Datum, um Gespräche anzufangen, wo wir feststellen, ob eine Verträglichkeit besteht. Sie wissen, dass wir im Dezember 2004 eine wirklich hochkarätige Spagatübung fertiggebracht haben: Ankara soll das Protokoll unterschreiben, muss aber Zypern nicht anerkennen; offenes Ende, steht im Text, offenes Ende der Verhandlungen. Also ich glaube, Österreich hat zwei Probleme: Psychologisch - und ich war letzte Woche bei der Außenministerin und habe auch andere österreichische Kollegen gesehen - psychologisch ist in Österreich das Gefühl, sagen wir, dass man von der britischen Präsidentschaft nicht zu ernst genommen worden ist, dass die Wahrnehmung der Probleme Österreichs heruntergespielt wurde.

Friedbert Meurer: Ist dieses Gefühl in Österreich berechtigt?

Jean Asselborn: Ja, also ich glaube wenn man eine Frage, die Türkei - man spricht ja nicht vom Beitritt, aber vom Anfang der Verhandlungen - wenn man diese Frage mit "Sein oder nicht sein" so hoch puscht, wie das jetzt in Österreich geschehen ist, dann hat man Probleme. Ich glaube, jetzt in dem Klima von Regionalwahlen, von den Parlamentswahlen nächstes Jahr, ist es sehr schwer für die Österreicher, vom Pferd wieder herunter zu kommen. Das sehe ich ein. Ich glaube, man muss trotzdem bescheiden und rationell bleiben. Die Türkei ist ja kein Imperium, das jetzt einen Friedensvertrag mit der EU abschließt, sondern es ist ein Land, das der EU beitreten will und selbstverständlich nicht umgedreht. Dieses Land wird mit 25 Ländern verhandeln, darunter auch Österreich, darunter auch Zypern. Darum verstehe ich eigentlich nicht, wenn ich höre, was die Österreicher im Grunde genommen wollen. Das steht alles in den Schlussfolgerungen vom Dezember 2004 im Text.

Friedbert Meurer: ...dem Österreich damals zugestimmt hat. Wie kriegt man denn die Österreicher vom Pferd wieder herunter, wie Sie es formulieren?

Jean Asselborn: Das ist die große Frage. Ich glaube, die Außenminister, wir kommen zusammen, wir kennen die Position Österreichs, die ist schon angekündigt worden auf der […]-Reunion in Cardiff. Ich glaube, das, was ich Ihnen gesagt habe von der englischen Präsidentschaft, ich sage das nicht in einem professoralem Ton, aber vielleicht ist die Position Österreichs unterschätzt worden. Das ist jetzt extrem schwierig. Wir riskieren am Sonntagabend leer nach Hause zu gehen und dann am Montag in unserer Sitzung haben wir ein negative Resultat, sowohl - und das riskieren wir -, sowohl für die Türkei, wie auch für Kroatien.

Friedbert Meurer: Verstehen Sie die Reaktion der Türkei, die sagt, dann kommen wir nicht am Montag?

Jean Asselborn: Also, wir haben ja jetzt die englische Präsidentschaft und die hat das ja richtig gemacht, die hat für abends den Außenminister eingeladen. Man sollte jetzt auch nicht sagen: "Wir stehen vor einem Berg, wir kommen nicht hinüber". Die Einladung ist meiner Meinung nach berechtig, sonst bräuchten wir ja überhaupt keine Sitzung einzuberufen, auch für Sonntagabend nicht. Wir werden diskutieren.

Ich sehe allerdings große Probleme. Ich bin von Natur aus ein Optimist. Ich sehe große Probleme, wie wir das schaffen können. Ich glaube, der einzige Weg ist wirklich, dass man sich da hinsetzt und sich fragt, ist das richtig oder falsch? Machen wir einen Fehler, wenn wir nicht wenigstens Beitrittverhandlungen mit der Türkei jetzt anfangen, um zu sehen, ob eine Verträglichkeit besteht, zwischen der EU und der Türkei? Wenn diese Verträglichkeit nicht besteht, dann finden wir das nicht emotional heraus, sondern rational heraus in Verhandlungen, dann ist die Tür offen im Text, um dann eben eine möglichst starke Bindung die Türkei vollständig in die europäischen Kulturen zu verankern, das ist auch im Text schon vorgesehen. Das ist ja diese berühmte CDU/CSU-Alternative, diese "privilegierte Partnerschaft", wo keiner weiß, was das wirklich ist. Aber es gibt dann eine Möglichkeit, falls die beiden Seiten nicht in der Lage sind, ja zu sagen, um eine starke Bindung an die EU, was die Türkei angeht, zu fixieren.

Friedbert Meurer: Auf der anderen Seite, Sie kennen ja auch die Stimmung, die Umfragen, die in der letzten Zeit in der EU und wahrscheinlich auch bei den EU-Regierungen etwas umgeschlagen sind und es gibt eine klare Mehrheit gegen einen Beitritt der Türkei in die Europäische Union. Wird da zu wenig Rücksicht auf die Stimmungen genommen?

Jean Asselborn: Aber die Stimmung ist unterschiedlich. Es gibt viele Länder, wo die Stimmung nicht negativ ist. Es gibt natürlich Länder, wo Sie... aber wissen Sie, Deutschland ist jetzt zum Beispiel 50 Jahre in der NATO. Stellen Sie sich vor, man hätte damals eine Umfrage gemacht, was das Resultat geworden wäre? Auch die Aufrüstung, dass Deutschland wieder erlaubt wird, Militär zu bekommen und so weiter. All diese Sachen, die großen historischen Momente, kann man nicht mit einer Fotografie eines Referendums für immer dann fixieren. Die Debatte ist, und das verstehe ich auch in der Bevölkerung, ist bis jetzt falsch gelaufen. Wir haben uns politisch nicht damit auseinandergesetzt, ob es richtig ist oder ob es falsch ist, dass wir eine europäische Türkei in der Union brauchen ja oder nein. Das ist die große Frage.

Friedbert Meurer: Sie sind der Meinung, wir brauchen die Türkei?

Jean Asselborn: Sicher.

Friedbert Meurer: Aber was ist mit den Bedenken der Bürger, die sagen, da wird die EU überdehnt? Die Türkei liegt zu 90 Prozent in Asien.

Jean Asselborn: Ja, wir kennen ja die Argumente dagegen, die geographische Lage, wie Sie sagen, die Lebensweise, die Kultur. Es gibt aber ein Argument, glaube ich: Der Druck, den die EU gemacht hat zum Beispiel auf die Menschenrechte: Enorme Fortschritte wurden gemacht, Todesstrafe abgeschafft, Folter abgeschafft. Selbstverständlich, es bleibt noch unheimlich viel zu tun. Aber durch diesen Druck ist doch das Leben von 70 Millionen Menschen in der Türkei verbessert worden und dann das Zweite, darf man nie vergessen: Wenn wir auf Augenhöhen, ein Wort, das Sie kennen in Deutschland, diskutieren wollen, planetarisch gesehen mit den USA und mit China, dann müssen wir ja zeigen, dass dieser Riss, der durch die Kulturen geht, dass der verhindert werden kann in der Europäischen Union und geostrategisch gesehen, dass wir mitreden können, nicht nur zusehen, wenn es um das Pulverfass der Erde geht, nämlich den Nahen Osten, auch die Golfregion, der Iran, der Irak. Wir haben doch große politische geopolitische Vorteile auch wenn wir versuchen, wenigsten den Dialog herzustellen, ob es möglich ist, in 10/15 Jahren die Türkei in die EU aufzunehmen.

Friedbert Meurer: Das war der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn. Am Sonntag gibt es eine Sondersitzung der EU-Außenminister zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Ich bedanke mich, Herr Asselborn, auf wiederhören.

Jean Asselborn: Bitte sehr, auf wiederhören.

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