Juncker: "Mit konstruktiver Grundhaltung nach London". Jean-Claude Juncker au sujet de la réunion informelle des chefs d'État ou de gouvernement à Hampton Court

Marc Glesener: Herr Premierminister, Sie haben nicht mit öffentlicher Kritik an der Vorbereitung des informellen Gipfels in Hampton Court gespart. Was hat der britische Ratsvorsitz falsch gemacht? Warum wurden Fragen wie EU-Verfassung und Finanzperspektiven ausgeklammert?

Jean-Claude Juncker: Dem informellen Treffen in Hampton Court ging keine breite Konsultierung voraus. Das ist auf der europäischen Bühne eher unüblich. Demnach rätseln die Staats- und Regierungschefs auch darüber, was ihnen im Endeffekt von britischer Seite aufgetischt wird. Wie es aussieht, will Premier Blair vor allem die europäische Reaktion auf die fortschreitende Globalisierung thematisieren. Es geht dem britischen Premier um eine Diskussion über ökonomische Reformen. Das ist an sich keine falsche Themensetzung. Falsch wäre es allerdings so zu tun, als hätten wir über diesen Themenkomplex noch nie diskutiert.

Marc Glesener: Sie meinen die Lissabon-Debatte?

Jean-Claude Juncker: Ja, genau. Unter luxemburgischen Ratsvorsitz ist es im März gelungen, die einzelnen Elemente dieses Reformprozesses anzupassen. Wir haben dabei klar gemacht, dass die Lissabon-Agenda auf drei Pfeilern beruht. Wirtschaftliche Reformen, soziale Kohäsion und nachhaltige Entwicklung, sprich eine adäquate Umweltpolitik bilden ein Ganzes. Die drei Dimensionen sind wichtig. Das wurde in den Schlussfolgerungen des Rates festgehalten. Wobei es auch damals schon andere Strömungen gab; aus Richtung Großbritannien.

Marc Glesener: Und jetzt wollen die Briten erneut ökonomische Reformen in den Mittelpunkt stellen.

Jean-Claude Juncker: Werden ökonomische Reformen überbetont und andere Aspekte vernachlässigt, werden wir uns wehren.

Marc Glesener: Was heißt,...

Jean-Claude Juncker: ...dass wir dafür sorgen werden, auf europäischer Ebene eine gleichberechtigte Wertschätzung der drei Elemente zu erreichen, auf die wir bei der Neufassung von Lissabon besonderen Wert gelegt haben: Wirtschaft, Soziales, Umwelt.

Marc Glesener: Streitfragen wie EU-Verfassung und Finanzperspektiven wurden ausgeklammert. Sind das aber nicht die eigentlichen Zukunftsfragen, mit denen sich die Staats- und Regierungschefs schnellstmöglich befassen müssten?

Jean-Claude Juncker: Premier Blair hat uns schriftlich mitgeteilt, dass er über diese Themen nicht diskutieren will. Die Diskussion über die Finanzperspektiven soll beim Dezember-Gipfel stattfinden. Dort müssen die Briten alles daransetzen, eine Lösung zu finden. Dezember 2006 ist der allerletzte denkbare Termin. Will die britische Seite eine Einigung, muss sie in der Rabatt-Frage einlenken. Die Haltung Luxemburgs ist klar. Wir werden die Briten bei der Konsenssuche konstruktiv begleiten. Übrigens reisen wir auch mit einer konstruktiven Grundhaltung nach Hampton Court. Wir wollen helfen, die Krisenstimmung in Europa zu überwinden. Wobei es gerade die Briten sind, die viel dazu beigetragen haben, dass es zu den klimatischen Verwerfungen in Europa gekommen ist.

Marc Glesener: Verwerfungen gab es auch im Zusammenhang mit dem Verfassungsvertrag. Darüber wird aber in London nicht geredet.

Jean-Claude Juncker: Wir halten uns an das, was im Juni in Brüssel beschlossen wurden, also an die Denkpause. Wobei ich den Eindruck habe, dass der Akzent mehr aufs Pausieren denn aufs Nachdenken gelegt wird. Zu Ihrer Frage: Unter britischem Ratsvorsitz wird im Zusammenhang mit dem Verfassungsvertrag rein gar nichts passieren. Ich setzte meine Hoffnungen in den österreichischen Ratsvorsitz.

Marc Glesener: Das Luxemburger Parlament hat eben den Verfassungsvertrag angenommen. Das haben mittlerweile 13 Staaten getan. Die stellen sich natürlich die Frage, wie es weitergehen wird.

Jean-Claude Juncker: Demnächst wird auch Belgien nachziehen, womit dann 15 Mitgliedstaaten den Vertrag ratifiziert haben werden. Die anderen zehn Länder müssen bis Juni 2006 ihre Annäherungsweise an die EU-Verfassung definieren. Dann werden wir sehen, wie es weitergeht.

Marc Glesener: Abwarten statt handeln. Ist das sinnvoll? Viele Menschen warten auf ein klares Signal der Staats- und Regierungschefs?

Jean-Claude Juncker: In Hampton Court reden wir nicht über Themen, die Europa in die Krise geführt haben. Wir werden uns mit Themen beschäftigen, die Europa aus der Krise führen sollen. Wir beschäftigen uns mit der Zukunft. Stichwort Lissabon.

Marc Glesener: Und das soziale Europa? Werden Sie auch das zum Thema machen?

Jean-Claude Juncker: Das hoffe ich doch sehr. Ich glaube an das europäische Sozialmodell. Ein Modell, das wirtschaftliche Effizienz und soziale Gerechtigkeit verbindet. So haben wir es bei der Neuformulierung der Lissabon-Agenda festgehalten. Dazu stehen wir. Das Sozialmodell will, dass nicht die Kräfte des Marktes Gestaltungsfreiheit haben. Diese Kräfte sind nicht in der Lage, Solidarität zu produzieren. Der freie Markt produziert keine Solidarität. Da bedarf es der korrigierenden Aktion der Politik.

Marc Glesener: Sie sprechen von politischer Aktion: Wie bewerten Sie die bisherige politische Leistung des britischen Ratsvorsitzes?

Jean-Claude Juncker: Ein Blick in die internationale Presse verrät, unter welch starkem Leistungsdruck die Briten stehen. Werden noch vor Jahresende beschlussreife Vorschläge gemacht, könnte mein Urteil positiver ausfallen, als das heute der Fall ist. Es bleibt jedenfalls noch viel zu tun.

Dernière mise à jour