"Pause auch zum Denken nutzen". Jean-Claude Juncker au sujet de l'actualité européenne

Heiko Schlottke: Herr Ministerpräsident, vor einem knappen halben Jahr haben Sie enttäuscht konstatiert, Europa stecke in einer tiefen Krise. Gibt es Gründe, jetzt wieder zuversichtlicher zu sein?

Jean-Claude Juncker: Europa steckt immer noch in einer tiefen Krise. Die britische Ratspräsidentschaft, die seit Juli 2005 die EU führen soll, führt nicht wirklich und kann deshalb die EU nicht aus der Krise herauslotsen. Meine Hoffnung: Der österreichische Bundeskanzler Schüssel, der am 1. Januar 2006 den EU-Vorsitz übernimmt, wird Wege aus der Krise aufzeichnen.

Heiko Schlottke: Aktuell belastet der Finanzstreit die Union schwer. Haben Sie begründete Hoffnung, dass spätestens beim Gipfeltreffen Mitte Dezember in Brüssel eine tragfähige Lösung gefunden wird?

Jean-Claude Juncker: Es wird im Dezember nur dann ein Ende des Finanzstreites geben, wenn Großbritannien mit einem Abbremsen des Kostenpunktes des britischen Haushaltsrabattes einverstanden ist. Dieses hat Herr Blair im Juni abgelehnt, er wird es im Dezember selbst vorschlagen müssen.

Heiko Schlottke: Welche Erwartungen haben Sie an die neue Bundesregierung? Rechnen Sie mit spürbaren Änderungen im Verhältnis Berlins zur EU?

Jean-Claude Juncker: Ich kenne Frau Merkel seit Jahren. Sie ist eine überzeugte Europäerin und wird die europapolitische Tradition der Bundesrepublik ohne Abstriche fortsetzen.

Heiko Schlottke: Die Verfassung liegt auf Eis. Sehen Sie Chancen und Notwendigkeiten, dass die Europäische Union das Vertragswerk wieder auf die Tagesordnung setzt?

Jean-Claude Juncker: Wir haben im Juni 2005 eine Denkpause in Sachen Verfassungsvertrag angeregt. Es darf nicht nur Pause sein, es muss auch Denken geben. Zielorientiertes Denken wird zwangsläufig zu einer Wiederaufnahme des Ratifizierungsprozesses des Vertrages führen. Für den Stillstand verantwortlich war offenbar, dass das schnelle Wachstum der EU viele Unionsbürger überfordert bzw. geängstigt hat.

Heiko Schlottke: Wie können die Sorgen abgebaut werden?

Jean-Claude Juncker: Wir müssen den Menschen in Erinnerung rufen - weil sie es vergessen haben -, dass in Europa und an Europas Grenzen 22 neue Staaten entstanden sind. Unser ureigenes Stabilitätsinteresse machte es unabdingbar notwendig, den neuen Demokratien in Mittel- und Osteuropa den Weg in die EU zu ebnen. Und verlangt von uns, mit den Staaten, die nicht EU-fähig sind, besondere, d.h. enge, Ankerverbindungen anzulegen. Ansonsten endet Europa im kontinentalen Durcheinander, und wir werden die Leid Tragenden einer derartigen Entwicklung sein.

Heiko Schlottke: Hält der innere Ausbau mit der Erweiterung Schritt?

Jean-Claude Juncker: Nein. Es sei denn, es gelingt uns, die institutionellen Neuerungen des von Frankreich und den Niederlanden abgelehnten Verfassungsvertrages zur Anwendung gelangen zu lassen.

Heiko Schlottke: Besondere Unruhe hat eine mögliche Türkei-Mitgliedschaft hervorgerufen. Wie viel Erweiterung verträgt die Union?

Jean-Claude Juncker: Die Verhandlungen mit der Türkei - dies ist Beschlusslage - müssen ergebnisoffen geführt werden. Die EU verträgt keine übereilig vorgenommenen zusätzlichen Beitritte.

Heiko Schlottke: Die jüngsten Krawalle in Frankreich zeigen, dass die Integration von Zuwanderern oft ungenügend ist. Müssen wir uns auf ähnliche Konflikte auch in Zukunft einstellen? Womit können wir sie vermeiden?

Jean-Claude Juncker: Die Integration der Zuwanderer ist eine zentrale Staatsaufgabe. Diese Aufgabe müssen sich Politik und Gesellschaft teilen. Regierungen und Parlamente allein integrieren nicht.

Heiko Schlottke: Wenn Sie eine Prognose wagen: Wie steht die Europäische Union im Jahre 2010 da?

Jean-Claude Juncker: Die EU wird sich bis 2010 entweder auf ihr Integrationswesen besonnen haben oder in Richtung Freihandelszone abdriften. Ich bin für intelligente Integration. Das Konzept der Freihandelszone ist zu simpel für unseren komplizierten Kontinent.

Dernière mise à jour