Jean-Claude Juncker au sujet des perspectives financières de l'UE et l'avenir de l'Europe

Kurier: Herr Ministerpräsident, was sind die Voraussetzungen für einen Kompromiss beim EU-Budget?

Jean-Claude Juncker: Die drastischen Kürzungen für Strukturhilfen an die neuen Mitglieder können nicht bleiben, auch nicht die Kürzungen für die ländliche Entwicklung, die ja gerade der zukunftsorientierte Teil der gemeinsamen Agrarpolitik sind. Wer die Landwirtschaft reformieren will, muss mehr Geld dafür ausgeben. Es wird auch Einschnitte beim britischen Rabatt geben müssen.

Kurier: Kann London in dieser Situation noch ein ehrlicher Makler sein ?

Jean-Claude Juncker: Großbritannien hat hier eine Bringpflicht. Aus der Verantwortung seiner Präsidentschaft heraus, muss es Sorge tragen, die Finanzfrage nicht an die Österreicher weiterzureichen. Ich gehe davon aus, dass es zu einer Einigung kommt, weil jeder einsieht, dass es heute noch mehr Gründe gibt, sich zu einigen als noch vor sechs Monaten. Schlussendlich wird es daraus hinauslaufen, dass eine Einigung millimetergenau an den Luxemburger Vorschlag von Juni 2005 heranzuführen sein wird. Solange wir bei dem Budget nicht von der Stelle kommen, lähmen wir uns selbst, um andere Dinge in die Hand zu nehmen.

Kurier: Wie soll das gehen, wenn fundamentale Punkte noch immer strittig sind?

Jean-Claude Juncker: Der Solidaritätsgedanke ist fundamental. Man kann nicht den neuen Mitgliedern den Zugang zu Strukturhilfen verwehren.

Kurier: Tony Blair hat bei seiner Antrittsrede als Ratsvorsitzender im EU-Parlament ein modernes, zukunftsträchtiges Budget versprochen. Was ist davon übrig geblieben?

Jean-Claude Juncker: Sein Budget-Entwurf wird seiner Rede nicht gerecht. Das moderne Europa lässt sich nicht exklusiv über den Haushalt gestalten. Ich widerspreche ihm dabei energisch und bin seinem Anspruch auch nie auf dem Leim gegangen. Modernisierung dort, wo sie geboten ist, lässt sich nur über Entscheidungen im EU-Rat herbeiführen.

Kurier: Was stört Sie an Blair?

Jean-Claude Juncker: Ich habe nicht den Anspruch, die Europa-Politik partout modernisieren zu wollen. Ich weiß es nicht, ob Menschen es als wünschenswert empfinden, das Arbeitsrecht zu zerlegen, den Solidaritätsgedanken negativ zu strapazieren und den sozialen Zusammenhalt der Gesellschaft aufs Spiel zu setzen. 48 Stunden pro Woche zu arbeiten ist keine Modernität. Das halte ich nicht für gut. Die Kontinentaleuropäer wollen das nicht.

Kurier: Fehlt es den Regierungschefs nicht insgesamt an politischem Willen, die EU weiterzubringen?

Jean-Claude Juncker: Die Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden hatten eine bremsende Wirkung. Die Debatte über die Verfassung muss in allen Ländern weiter gehen, um die Kluft zu überwinden zwischen jenen, denen die Integration zu weit und zu schnell geht und jenen, denen es zu langsam geht. Das ist die eigentliche europäische Identitäts-, Richtungs- und Orientierungskrise. Diese Krise wird auch nicht behoben, wenn wir uns bei den Finanzen einigen.

Kurier: Wie geht es mit der Verfassung weiter?

Jean-Claude Juncker: Wir haben uns eine Reflexionspause verordnet. Man sieht aber mehr Pause als Reflexion. Ich hoffe sehr, dass Österreichs Ratsvorsitz diese Debatte beleben wird. Ich halte daran fest, dass der Vertrag in allen Mitgliedsstaaten ratifiziert wird, um in der erweiterten Union handlungsfähig zu sein.

Kurier: Wie wollen Sie den Bürgern die Verfassung schmackhaft machen?

Jean-Claude Juncker: Wir sollten uns überlegen, ob wir nicht Teile des Vertrages früher in Kraft setzen, um die Menschen in die Lage zu versetzen, dem Verfassungsvertrag mehr Sympathie entgegenzubringen.

Kurier: Welcher Teil des Verfassungsvertrages soll früher in Kraft treten?

Jean-Claude Juncker: Es gibt eine Kluft zwischen europäischer Politik und der Zustimmung in den Mitgliedsländern. Viele denken, die EU ist wie ein Riese und will alles in Besitz nehmen. Im Vertrag steht, dass ein Drittel der nationalen Parlamente sich zur Wehr setzen können, wenn ein Vorschlag der Kommission die Rechte der Länder oder der Regionen nicht berücksichtigt. Die Kommission muss dann einen neuen Vorschlag erarbeiten. Damit kann man zeigen, dass die Sorgen der Menschen berücksichtigt werden.

Kurier: Was erwarten Sie sich von der österreichischen EU-Präsidentschaft?

Jean-Claude Juncker: Es ist anmaßend, einem Vorsitzland programmatische Vorgaben zu machen. Ich freue mich schon sehr auf den 1. Januar, weil Bundeskanzler Wolfgang Schüssel ein ausgewiesener Europäer mit extrem diplomatischem Geschick ist.

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