"Der Europarat wird unsere Generation weit überdauern". Jean-Claude Juncker au sujet du rapport sur les relations entre le Conseil de l'Europe et l'Union européenne

Neue Zürcher Zeitung: Herr Juncker, um die wichtigste Frage zu Ihrem Bericht vorwegzunehmen, wird es den Europarat in 10 oder 20 Jahren noch geben, wenn immer mehr Staaten auch der EU angehören?

Jean-Claude Juncker: Der Europarat wird so lange an Bedeutung gewinnen, als Menschen unterschiedlicher geographischer und kultureller Herkunft versuchen, europäische Dinge gemeinsam zu gestalten. Er wird so lange aktuell bleiben, als die Menschenrechts- und die Kriegs- und Friedensfrage auf dem europäischen Kontinent nicht endgültig beantwortet ist. Er wird so lange an Bedeutung gewinnen, wie Kultur-, Bildungs- und Jugendaustausch nicht selbstverständlich sind. Und weil all dies nie endgültig sein wird, wird der Europarat eine unsere Lebenszeit weit überdauernde Einrichtung bleiben.

Neue Zürcher Zeitung: Stimmen Sie der oft erhobenen Kritik an den Überschneidungen bei den Zuständigkeiten zwischen den beiden Organisationen zu?

Jean-Claude Juncker: Europarat und Europäische Union verbindet dieselbe kontinentale Idee. Sie unterscheiden sich in den Strukturen. Die Europäische Union hat Souveränitätsrechte übertragen bekommen, ohne dass aus ihr ein föderaler Staat entstanden wäre. Immerhin ist sie aber ein neuartiger politischer Organismus mit supranationaler Funktionalität und auch mit eigener Gesetzgebungsbefugnis.

Der Europarat bleibt dagegen eine intergouvernementale Einrichtung, allerdings unterlegt mit einem parlamentarischen Arm, der sich sehr oft löst von der rein zwischenstaatlichen Regierungs-Kooperation, um Gemeinsames für Europa zu leisten. Es gibt also eine funktionale Divergenz zwischen den beiden Einrichtungen, und es gibt klar erkennbare Schnittmengen. Das ist die Problemmasse zwischen den beiden. Diese Problemmasse kommt konstitutiv deshalb zustande, weil man in der EU glaubt, viel weiter zu sein als der Europarat. Dieser wiederum denkt, nicht dieselben Dinge bewegen zu können wie die EU, und lässt daraus ein in meinen Augen unberechtigtes Gefühl der Frustration aufkommen.

Dieses wird auch dadurch dauerhaft genährt, dass die EU und als ihr Sprachrohr die Kommission sich in Strassburg nicht gerade durch bescheidenes Auftreten auszeichnen. Deshalb kommt es darauf an, den Europarat jetzt in seiner Funktion und Nützlichkeit, aber auch in seiner Funktion des kontinentalen Brückenschlags zu bestätigen. Der Europarat wird und muss die europäische Referenzadresse für die Menschenrechte bleiben. Ein Konkurrenzkampf zwischen der Europäischen Menschenrechts-Agentur, die gerade von der EU in Wien auf die Beine gestellt wird, und den Menschenrechts-Kontrollmechanismen des Europarats wäre grundfalsch.

Neue Zürcher Zeitung: Muss es die Agentur überhaupt geben?

Jean-Claude Juncker: Ich bin schon der Meinung, dass das Thema Menschenrechte auch eine Konstante der EU-Innenpolitik sein muss. Ich kann aber nicht erkennen, wieso sich die Agentur jetzt in inhaltliche und auch in territoriale Zuständigkeiten des Europarats einmischen soll.

Ich meine, dass beide eine insgesamt kohärente und kongruente europäische Zuständigkeit in Menschenrechtsfragen für sich beanspruchen. Ich hätte aber gern, dass wir uns auf das Fachwissen dessen verlassen, der sich um diese Fragen gekümmert hat, bevor die EU auch nur daran dachte. Wenn es also beispielsweise um Menschenrechtsprobleme in der Ukraine geht, bedarf es keiner gesonderten Sondierungsmission der EU. Der Europarat kann diese Arbeit perfekt und besser als die EU leisten. Zusammengefasst: Ich hätte gern etwas weniger Minderwertigkeitskomplexe beim Europarat und etwas mehr Bescheidenheit bei der EU.

Neue Zürcher Zeitung: Einen guten Ruf hat sich der Europarat mit den Monitoring-Berichten erworben, in denen die Rechtsstaatlichkeit und die Demokratie vor allem bei den osteuropäischen Mitgliedsländern unter die Lupe genommen werden. Wie könnten diese Berichte besser von der EU genutzt werden?

Jean-Claude Juncker: Ich bin der Auffassung, dass sowohl die EU-Kommission als auch der Ministerrat der EU sich, wann immer es geht, auf die Ergebnisse der Überprüfungen des Europarats verlassen sollen. Der früher für die Erweiterung zuständige Kommissar Verheugen hat das auch richtig gemacht, indem er eine Anfrage an den Menschenrechtsbeauftragten des Europarats zur Menschenrechtssituation in den damaligen zehn Kandidaten- und heutigen neuen Mitgliedsländern richtete. Wieso sollte sich die EU bürokratisch für eine solche Überprüfung gewaltig aufrüsten, wenn diese Arbeit in Strassburg beispielhaft geleistet wird? Jeder in der EU sollte begreifen, dass die Menschenrechtsfragen beim Europarat gut aufgehoben sind. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Europarat mit seiner Untersuchung der CIA-Gefangenenflüge enorm viele Frage aufgeworfen hat. Dazu hatte die EU alle Unterlagen der Flugsicherung Eurocontrol über Bewegungen der US-Flugzeuge zur Verfügung gestellt. Das nenne ich eine vernünftige und respektvolle Art der Zusammenarbeit. Diese Form der Kooperation muss institutionalisiert und ausgebaut werden.

Neue Zürcher Zeitung: Enthält Ihr Bericht auch Vorschläge zum Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg?

Jean-Claude Juncker: Nein, darum habe ich mich bewusst nicht gekümmert, weil eine Gruppe unter der Ägide des früheren Präsidenten des EU-Gerichtshofs in Luxemburg Iglesias damit beschäftigt ist. Es würde mir aber sehr gefallen, wenn alle Institutionen der EU und des Europarats so intensiv zusammenarbeiteten wie der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg und der Europäische Gerichtshof in Luxemburg. Es handelt sich um eine hochprofessionelle intensive Zusammenarbeit, die nur deshalb nicht für Schlagzeilen sorgt, weil sie gut funktioniert.

Neue Zürcher Zeitung: Im Rahmen der Terrorismusbekämpfung gibt es weltweit, auch in Europa, Versuche, die Grundrechte w beschneiden. Sehen Sie hier den Europarat besonders gefordert?

Jean-Claude Juncker: Der Europarat hat sowohl eine wissens- als auch eine gewissensbildende Aufgabe. Beim Terrorismus geht es um die Notwendigkeit des Kampfes gegen eine fast tödliche Gefahr für die europäische Art und Weise des Zusammenlebens. Dennoch muss der Europarat dafür sorgen, dass das bürgerliche Recht nicht unter die Dampfwalze der Terrorismusbekämpfung gerät. Der grösste Sieg des Terrorismus bestände darin, dass die europäischen Gesellschaften ihre bürgerlichen Freiheiten untergraben und diese nur noch in Ausnahmefällen zulassen. Nein, diese Freiheiten dürfen nur dort eingeschränkt werden, wo sie den Terroristen Tür und Tor öffnen. Um diese schwierige Aufgabe kümmert sich besonders verdienstvoll die Venedig-Kommission. Ich hätte gern, dass die EU der Europäischen Menschenrechtscharta und auch der Venedig-Kommission beitritt, um deutlich zu machen, dass es hier nicht nur eine Schnittmenge zwischen EU und Europarat gibt, sondern auch eine Identität der Ansichten.

Neue Zürcher Zeitung: Welche Rolle kann der Europarat bei den sogenannten gutnachbarschaftlichen Beziehungen zwischen EU und Rest-Europa, etwa auf dem Balkan, in der Ukraine oder den Kaukasusrepubliken, übernehmen? Ist der Europarat quasi Wartesaal für die EU-Beitritts-Kandidaten?

Jean-Claude Juncker: Ich war nie der Auffassung, dass der Europarat der Exklusiv-Warteraum für zukünftige EU-Mitglieder ist. Es gibt unter den Europaratsmitgliedern viele, die nie EU-Mitglieder werden können. Der Respekt vor den Menschen in diesen Ländern gebietet es, dass sie den Europarat als ein in sich geschlossenes System für den europäischen Kontinent betrachten. Leider wenden sich manche EU-Staaten vom Europarat ab, vielfach auch unwissentlich. Die EU-Aussenminister nehmen nicht mit der gebotenen Intensität an den Sitzungen des Ministerkomitees des Europarats teil. Sie sollten die Wichtigkeit der Arbeit begreifen und mehr Präsenz in Strassburg zeigen.

Auch bin ich der Auffassung, dass man zu einer anderen Form der Wahl des Generalsekretärs des Europarats kommen sollte. Unabhängig von den ehemals und den zurzeit handelnden Personen halte ich es nicht für angemessen, dass er aus den Reihen der Parlamentarischen Versammlung heraus gewählt wird. Wie bei der Berufung des Präsidenten der EU-Kommission sollte eine Persönlichkeit aus dem Kreis der Staats- und Regierungschefs für dieses Amt gewonnen werden, um eine intensive politische Zusammenarbeit zwischen EU und Europarat auf gleicher Augenhöhe zu erreichen. Und zwar in Form eines nach fester Tagungsordnung funktionierenden, einmal jährlich stattfindenden Spitzentreffens.

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