"Die Menschen mit Europa versöhnen". Jean-Claude Juncker au sujet de l'avenir de l'Europe

Inforadio: Zu Gast bei uns heute Jean-Claude Juncker, Ministerpräsident von Luxemburg, vielfach geehrt und dekoriert, jetzt auch mit dem Karlspreis für Verdienste um Europa, so heisst das ja. Und in der Begründung hiess es, Sie seien, Jean-Claude Juncker, Motor und Vordenker des europäischen Integrationsprozesses. Klingt ein bisschen trocken. Aber andererseits, immer Motor in Europa zu sein, ist das nicht aber irgendwie furchtbar anstrengend?

Jean-Claude Juncker: Das ist anstrengend und wäre noch anstrengender wenn die Preisbegründung voll umfänglich zutreffen würde. Das heisst, wenn ich mich rund um die Uhr als Motor betätigen würde - das kann niemand tun, es würde auch niemand zulassen, dass ich dies täte. Aber anstrengend ist dies schon, sich um integrationsweiterführende Schritte in der Europäischen Union zu bemühen. Und es lohnt sich allemal, nicht notwendigerweise für uns, die wir zu unserer Generation gehören, aber jedenfalls für die nächstfolgenden.

Inforadio: Bevor wir zu der unausweichlichen Frage kommen, wie es weiter mit Europa geht, in Europa per se, vielleicht fangen wir die Sache mal von der anderen Seite an. Was fällt Ihnen ein zum Lobe Europas? Das Positive, lasst uns doch einfach einmal mit dem Positiven anfangen, dem Guten.

Jean-Claude Juncker: Das Gute, das Schöne eigentlich [unterbrochen]

Inforadio: Das Grossartige.

Jean-Claude Juncker: Das Grossartige, das Einmalige.

Inforadio: Das Wunderbare.

Jean-Claude Juncker: Das Herrliche an Europa ist das, was wir nicht mehr zur Kenntnis nehmen. Das heisst, dass friedliche Verhältnisse auf unserem Kontinent zur Normalität geworden sind.

Sehen Sie, die Männer und Frauen der Generation meiner Eltern, die kamen von den Frontabschnitten, aus den Konzentrationslager nach Hause, müde, halb tot, erfroren, verletzt, und haben aus diesem ewigen Nachkriegssatz "nie wieder Krieg" ein politisches Programm gemacht, von dem wir in vollen Zügen profitieren, ohne das überhaupt noch zur Kenntnis zu nehmen. So normal wie dies heute scheint, sind die Friedensdinge in Europa nie gewesen, und werden sie auch in Zukunft nicht sein, wenn wir nicht sehr gut auf sie achten.

Dann hat uns Europa Wohlstand gebracht, auch der Wohlstand, der relative Reichtum Europas - aber immerhin ist Europa der kleinste der Kontinente, der reichste der Kontinente - scheint uns auch wie Gott gegeben, wie uns in die Wiege gelegt. Ist aber nicht so.

Dass wir es geschafft haben, in vielerlei Beziehungen, aus dem ewigen europäischen Gegeneinander ein europäisches Miteinander, bei aller Fehlerhaftigkeit dieses Schulterschlusses, zu machen, das ist das Schöne an Europa. Und das merkt man in Europa weniger als im Rest der Welt. Wer als Europäer, auch als europäischer Regierungschef nach Asien, nach Afrika, sonst wohin reist, der sieht ja die hoffnungsvollen Augen der Menschen dort auf Europa gerichtet. Die bewundern das, was wir hier gemacht haben. Wir reden ja viel schlecht was wir hier tun, aber im Rest der Welt trifft das auf ungeteilte Bewunderung, weil es hat noch niemand so etwas hingekriegt aus so einem geschundenen Kontinent wie dem unserigen so ein, ja, in die Welt hinein leuchtenden zu gestalten. Das hat etwas mit europäischem Genie zu tun, der der Welt auffällt und den wir überhaupt nicht mehr sehen.

Inforadio: Der amerikanische Politologe Jeremy Rifkin hat im vorigen Jahr an einem Buch geschrieben, und das auch in vielen Lesungen und Artikeln in Europa verbreitet, wo er seiner eigenen Europabegeisterung Ausdruck gibt. Und er hat gesagt: Das ist doch einzigartig, noch nie haben auf der Welt sich Staaten freiwillig verbündet, zusammengeschlossen um dann gemeinsam weiter zu machen. Und er hat auch gesagt, den Europäern geht es doch im Prinzip durchschnittlich sehr viel besser als den Amerikanern. Warum wissen die Europäer das nicht? Warum schätzen die dieses Europa nicht? Weil sie so sehr es gewöhnt sind, weil man sich nichts mehr dabei denkt, oder woran liegt das?

Jean-Claude Juncker: Ich stelle mir die Frage immer wieder, und dann fallen einem viele einzelne Erklärungselemente ein.

Wahrscheinlich hat das damit zu tun, dass wir seit Kriegsende auf der Sonnenseite des Kontinentes aufgewachsen sind. Was gibt uns eigentlich das Recht auf die Menschen in Prag, in Warschau, in Ljubljana, in Budapest so herablassend und auch arrogant zu blicken, wie wir dies ja oft tun? Ganz einfach weil wir von der Sonne verwöhnt sind, während die in der kontinentalen Dunkelkammer sassen.

Dann hat diese Europamüdigkeit auch etwas damit zu tun, dass wir uns in den letzten 15 Jahren sehr anstrengen mussten, um die europäischen Dinge in Bewegung zu kriegen.

Wir haben den Binnenmarkt ab 1985 auf die Wege gebracht, und ihn sehr oft forciert. Das hat Opfer verlangt von einigen, jedenfalls Abkehr von lieb gewonnenen Gewohnheiten weil die Handelsgrenzen zwischen den europäischen Staaten fielen.

Wir haben den Euro auf den Weg gebracht, eine unwahrscheinliche Leistung unserer Generation, dass wir es schafften 12 und demnächst 13 Länder in einem Währungskern, in einem festen Währungskern, zusammenzulöten - in der Welt nie versucht, in der Welt nie erreicht, und niemand hat uns das zugetraut, wir eigentlich uns selbst am allerwenigsten. Aber das hat grosse Haushaltskonsolidierungsanstrengungen, grosse Opferbereitschaft vieler gebraucht.

Wir haben nach dem Zusammenfall des Kommunismus in Ost- und Mitteleuropa es geschafft, nachdem in Europa und an der direkten Peripherie der europäischen Union 30 neue Staaten seit 1989 entstanden sind, diesen Kontinent der plötzlich so viele neue Subjekte internationalen Rechtes auf seinem Territorium sich entfalten sah, auf dem Wege einer friedlichen, Wiederversöhnung zwischen europäischer Geographie und europäischer Geschichte zusammenzuführen. Nie versucht in der Welt, nie erreicht in der Welt, aber mit grossen Opfern verbunden, für viele Menschen in Ost- und Mitteleuropa, und auch viele Menschen in unseren westeuropäischen Staaten betreffend.

Man wird müde, wenn man sich in dem Rhythmus der Geschichte, wenn die sich beschleunigt, bewegen muss. Und das erklärt einiges an Europamüdigkeit, sehr gerne auch als Europafaulheit bezeichnet.

Inforadio: Eines der Probleme mag ja vielleicht auch sein, dass die Bürger ja in ihrem Alltag nicht in historischen Zusammenhängen denken. Sie wissen das sind immer die Reden die an den grossen Tagen, wie Preisverleihungen, und zu Weihnachten und zu Ostern gehalten werden. Aber normalerweise kucken die, was habe ich im Porte-monnaie, was kostet das Brot und die Butter, und wie sicher ist mein Arbeitsplatz? Das sind so die nahen Dinge.

Und ist vielleicht auch diese Europamüdigkeit und auch diese Abneigung, die manche Menschen ja haben, dem geschuldet, dass die Vermittlung einfach ausserordentlich schlecht ist? Also mir fallen, wenn ich in die letzten Wochen kucke, mehrere Beispiele ein, sofort, wo Europa für die Bürger gut war. So ganz praktisch.

Zum Beispiel der Druck den die europäische Kommission jetzt auf die Energiekonzerne ausübt, um die Preise zu senken. Zum Beispiel die Senkung der Roaminggebühren bei den Handys. Zum Beispiel die neuen Regeln für die Lebensmittelwerbung, die für mehr Wahrhaftigkeit sorgen soll. Die Liste liesse sich verlängern. Das sind ja doch Erfolge, das sind ganz positive, ganz greifbare und eigentlich alltägliche Dinge. Aber es weiss keiner, es nimmt keiner wahr und keiner sagt: "Es ist ja toll, das kommt aus Europa." Wessen Schuld ist das denn, die der nationalen Regierungen?

Jean-Claude Juncker: Die guten Nachrichten die Sie da auflisten standen alle in der Zeitung, nur etwas klein gedruckter als die Berichte über europäische Misserfolge. Und auch die Politiker - die Politiker sind ja nicht alleine Schuld an dem Zustand. Die Völker sind ja auch müde geworden, die Publizistik ist auch etwas hinkender geworden als sie früher mal war. Die guten Nachrichten werden klein gedruckt, die Meldungen über europäische Krisen werden, zu Recht wie ich im übrigen finde, etwas grösser dem Publikum ins Bewusstsein gebracht.

Und wir haben über viele Jahre, ich manchmal auch, weniger als andere aber trotzdem, wenn wir von unseren Brüsseler Gipfeln nach Inseln, Nationalstaaten, unsere Hauptstädte zurückkehrten, immer so getan, als ob wir da Gott weiss welche grosse Siege davon getragen hätten, immer gegen andere.

Wir haben über Jahrzehnte das Gefühl gegeben, wir fahren nach Brüssel um andere zu bekämpfen, und haben es eigentlich nie geschafft den Menschen zu vermitteln, dass wir dort gemeinsam etwas tun, dass wir gemeinsam versuchen die europäischen Dinge in Bewegung zu kriegen. Der britische Premierminister fährt ins Unterhaus und teilt mit, dass Grossbritannien sich durchgesetzt hat gegen alle andere. Der französische Staatspräsident meldet, er hätte die Briten niedergerungen. Es hat auch deutsche Zungenzwischenschläge in der Richtung einiger in den vergangenen Jahren gegeben. So kann das ja nicht bleiben, dass wir immer den Eindruck geben, wir müssten uns da Gott weiss gegen welche Gefahren die von anderen ausgingen zur Wehr setzen. Und dann fragen wir plötzlich wenn wir einen neuen Vertrag abschliessen, jetzt müsst ihr alle applaudieren.

Also man redet Europa schlecht. Die ganze Woche über sagt dieses Mädchen Europa ist hässlich. Wenn dieses Mädchen auch am Sonntag zur Braut wird, und zum Traualtar schreitet, dann verlangen wir von der versammelten Dorfgemeinschaft, dass sie in Hurra-Ausrufe ausbricht. So geht das nicht. Wir müssen Europa weniger schlecht reden, damit wir wieder das richtige Mass der Dinge erreichen.

Inforadio: Der eine Punkt ist möglicherweise diese Doppelzüngigkeit der Regierungschefs, die immer auf zwei verschiedenen Bühnen spielen. Zu Hause auf der nationalen Bühne das Monster Europa siegreich bekämpfend, und in Brüssel dann natürlich versuchen so einigermassen den Anschein von Kooperationsbereitschaft und Gemeinsamkeit zu wahren, auf dem Familienfoto einträchtig Schulter an Schulter stehen.

Das andere ist vielleicht aber auch die Frage ob nicht auch tatsächlich zu viele Fehler gemacht werden. Ich denke einmal so ganz exemplarisch an diese unselige Dienstleistungsrichtlinie. Die ist geradezu zum Inbegriff sozusagen des Neo-liberalen, die einzelnen Menschen in ihrem Leben beeinträchtigenden Europa geworden. Und es war handwerklich schlecht gemacht, und vielleicht nicht zu Ende gedacht.

Man kann sich solche Fehler eigentlich nicht leisten. Ist ein Teil davon eben auch hausgemacht? Kommt das auch aus den Brüsseler Institutionen?

Jean-Claude Juncker: Es kommt aus den Brüsseler Institutionen. In dem spezifischen Falle Bolkestein-Richtlinie, Dienstleistungsrichtlinie aus der Kommission, nicht aus dem Rat, nicht aus dem Kreise der Regierungschefs, die haben sich dagegen gewehrt. Und das hat damit zu tun, ja das mag jetzt anmassend klingen, dass einige in Europa etwas denkvoll geworden sind. Wir haben die Beschäftigungskrise, wir haben Massenarbeitslosigkeit in Europa. Man denkt dieser Massenarbeitslosigkeit Herr dadurch zu werden, dass man unter europäischem Vorzeichen, und mit Hinweis auf europäische Vorgaben, den Eindruck vermittelt, als ob die Beschäftigungskrise dadurch zu bewältigen wäre, dass man die Arbeitnehmer eigentlich zu den eigentlichen Feinden der Beschäftigung erklärt.

Also das was ich manchmal in Momenten höchster Verärgerung als den Deregulierungswahn beschrieben habe, als den Versuch beschrieben habe so zu tun als ob Privatisierung, Prekarisierung, Parzellisierung der Beschäftigungsverhältnisse in Europa, als ob in all diesem Teufelszeug die Lösung aller Probleme liege.

Das heisst, es hat schleichend den Prozess gegeben, dass man, weil man wusste man kann nicht mehr so weitermachen, auch in der Sozialpolitik, wie bisher, eigentlich so den Eindruck gegeben hat, jetzt machen wir genau das Gegenteil. Wer möchte das Gegenteil haben? Nicht wir deutsche Regierung, nicht wir britische Regierung, nicht wir luxemburgische, französische oder niederländische Regierungen, aber die Europäische Union hätte das gerne. Aber die Europäische Union sind wir. Es passiert doch nichts was die Regierungen nicht wollen. Also dieses Abschieben von Schuldzuweisungen in Richtung Europa, hat dazu geführt, dass vor allem die einfachen Menschen, die sind ja nicht blöder und nicht weniger nobel und nicht weniger würdig, und nicht weniger intelligent als die, die sich selbst zur Elite erklären, hat bei diesen Menschen das Gefühl dafür geschärft, dass von Europa eigentlich nur für die einfachen Menschen, in dem Definitionssinne den ich eben gegeben habe, nur schlechte Nachrichten kommen. Und diesen unseligen Zustand muss man beenden.

Wenn Europa sich nicht darauf besinnt, dass es auch eine soziale Dimension haben muss, dass wir so etwas brauchen wie einen Mindestsockel an einheitlichen Arbeitnehmerrechten, dass wir so etwas brauchen wie Mindestregeln bei europäischem Kündigungsschutz, dass wir so etwas brauchen wie Mindestregeln bei der Gestaltung der Beschäftigungsverhältnisse in Europa, dann reden wir an den Menschen vorbei.

Ich habe schon öfters gesagt: wenn mein Vater, der Stahlarbeiter und später Stahlangestellter war, immer nur ein befristetes Arbeitsverhältnis gehabt hätte, wo er sich alle 6 Monate hätte fragen müssen, bleibe ich in Beschäftigung oder werde ich freigesetzt, wie das so schön in der kapitalistischen Zärtlichkeitssprache heisst, dann hätte ich nie zur Uni gehen können. Der hätte sich das einfach nicht leisten können. Er hätte diese Lebensplanungssicherheit nicht gehabt, um seinen Sohn studieren zu lassen.

Und wir reden über die Probleme, die Interessenlage der Arbeitnehmer, so oft so, als ob wir nicht wüssten wie die eigentlichen Lebensverhältnisse der Menschen auch sind. Also näher an die Menschen heran, auch mehr näher an den Herzschlag oder an den Pulsschlag der normalen Menschen heran. Das ist der einzige Weg, der sich die Europäer wieder mit Europa versöhnen lässt.

Inforadio: Sie sind, wie man hört, dezidiert kein Neo-Liberaler. Aber Sie wissen, dass das längere Zeit eine grassierende Mode war, gerade in der Europäischen Union, gerade in den Institutionen, in der Kommission zum Beispiel, bei vielen derer die dort Richtlinien entworfen haben, und Regeln für die Zukunft Europas nach dem Motto: "Über das Soziale müssen wir nicht reden, das macht jedes Land irgendwie alleine, aber wir müssen der Globalisierung standhalten".

Wo liegt der Weg für Sie, wie kann man es tun? Einerseits China und Indien standzuhalten auf dem globalen Markt, und auf der anderen Seite für die Leute noch eine Heimat, einen Arbeitsplatz, eine gewisse Lebenssicherheit zu bieten?

Jean-Claude Juncker: Ja, der Begriff Heimat in diesem breiten Sinne des Wortes, den Sie ihm jetzt geben, ist wichtig. Menschen brauchen Heimatgefühl. Und deshalb war ich auch immer gegen den Begriff Vereinigte Staaten von Europa. Nein, nein, nein, ich möchte auch Luxemburger bleiben. Ich bestehe aus 200% - 100% Europäer und 100% Luxemburger. Das gibt eine sehr gute Schnittmenge, und das trifft für alle zu.

Und wir dürfen uns nicht diesen neuen Denkschulen einfach anschliessen, ohne zu überprüfen zu welchen Endergebnissen denn die Umsetzung dieses sogenannten neuen, modernen Denkens - es war schon immer modern, modern zu sein - eigentlich führen.

Es braucht eine Rückbesinnung auf die Substanzwerte des europäischen Sozialmodells, über dessen Erhaltung man nicht nur reden darf, sondern man muss es auch durch die Macht des Faktischen immer wieder unter Beweis stellen, dass man an diesem Modell festhält. Und deshalb bin ich nicht jemand, der sich jetzt stupide, blöd gegen Globalisierung wehren würde. Wir haben die Globalisierung zu anderen gebracht, bevor die Globalisierung der anderen uns erreicht. Und das mögen wir nicht, dass die anderen es sich jetzt anmassen, dieselben Rechte in Anspruch zu nehmen wie wir. Das ist aber so in diesem Dorf, das wir Welt nennen.

Aber dass man auf die Lebensumstände der Menschen stärker Rücksicht nimmt, dass man nicht so tut als ob ein unbefristetes Arbeitsverhältnis ein Monstrum, ein soziales und ein ökonomisches Monstrum per se wäre, sondern dass man sich vielleicht darauf besinnt, dass Menschen auch Lebens- und Planungssicherheit brauchen. Was ja durchaus einhergehen kann mit einem Mindestmass an Flexibilität. Auf derartige Evidenzen die eigentlich nur dem gesunden Menschenverstand entsprechen, sollten wir uns besinnen. Aber das Problem mit dem gesunden Menschenverstand in Europa ist, dass dieser gesunde Menschenverstand sehr unterschiedlich verteilt ist.

Inforadio: Zu den Ängsten. Ich möchte jetzt nicht fragen, wo Sie glauben, dass er sässe und wo nicht. Aber zu den Ängsten die bei vielen der europäischen Bürger im Zusammenhang mit Europa ausgelöst werden, gehört ja auch die Erweiterung. Wir haben 10 neue Länder vor 2 Jahren verkraftet, jetzt kommen die nächsten beiden. Da stöhnt und ächzt man schon gewaltig, nach dem Motto: kann es denn gehen, der Balkan. Und man würde sich ja in die Tasche lügen, wenn wir nicht zugeben würden, dass der restliche Balkan auch noch kommt. Wir können ja Ex-Jugoslawien nicht irgendwie abhängen und sagen, die können in der Gerümpelkammer bleiben. Das heisst, man muss sozusagen das ja noch vollenden was man angefangen hat. Und dann die Frage nach den Grenzen Europas, die Diskussion müsste endlich ehrlich geführt werden. Wo sehen Sie diese Grenzen, und kann man die überhaupt fix machen, oder muss man die Diskussion alle 10 Jahre neu führen?

Jean-Claude Juncker: Zu ehrlicher Debattenführung gehört, dass man zugeben muss, dass man die Frage nicht ohne weiteres beantworten kann. Ich weiss nicht genau wo die Grenzen Europas verlaufen. Der Blick auf die Landkarte, auf die europäische Weltkarte zeigt mir auch objektiv erkennbare Grenzen. Aber sind das die Grenzen? Gibt es nicht auch andere Grenzen in Europa? Nämlich die Grenzen der Ambitionen. Gibt es nicht jetzt im Kreise der jetzigen Mitglieder der Europäischen Union einige Staaten, die überhaupt nicht an dieser gemeinsamen Ambitionsschnittmenge sich noch beteiligen möchten? Und weil die Frage der Grenzen immer wieder gestellt wird - im Übrigen nie beantwortet wird. Klug ist der, der die Frage stellt, schlecht sieht der aus, unbeholfen sieht der aus, der die Frage nicht beantworten kann. Noch nie hat jemand mir die Frage gestellt und sie gleichzeitig beantwortet. Ich kriege immer nur die Frage gestellt. Antworten muss ich immer geben und ich habe die Antworten ganz einfach ehrlicherweise nicht.

Aber, ich weiss nur, dass der erste Krieg nach dem zweiten Weltkrieg in Europa auf dem Balkan stattgefunden hat. Und wer die Gegend kennt, und wer die dramatische Komplexität dieser tragödiendichten Region kennt, weiss, dass wir uns um diese Region kümmern müssen. Wenn wir selbst in Ruhe leben möchten, müssen wir uns um diese Region kümmern.

Die europäische friedensstiftende Gesamtatmosphäre in den Balkan hineintragen, heisst dies jetzt notwendigerweise, und das gleiche gilt für die Türkei, damit Sie die Frage nicht nachzuschieben brauchen, heisst dies notwendigerweise - mit Ausnahme Kroatien und das klarerweise, auf Grund von Geschichte und Menschenschlag - zur Europäischen Union, zur europäischen Familie gehört, heisst dies notwendigerweise, dass alle die, die Mitglieder werden möchten, im selben Mass, mit derselben Intensität Mitglieder, Vollmitglieder werden müssen?

Kann es nicht so sein, dass wir unter anderem und vor allem, im Verlaufe der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei feststellen, wir und die türkischen Freunde auch, ja, dass sie zu Europa gehören, im politischen Konstruktsinne des Wortes, aber dass sie nicht notwendigerweise so zur Europäischen Union gehören müssen, Türken und andere Staaten des Westbalkans, wie Deutschland, Frankreich, Luxemburg oder Italien?

Vielleicht wäre es ratsam, dass man darüber nachdenken würde, wie man um einen europäischen Kern herum, der sich aus fast allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die wir heute kennen, zusammensetzt, eine Umlaufbahn ziehen, auf dem die Platz nehmen können, die die voll umfängliche Mitgliedschaft weder in ihrem eigenen Interesse empfinden, noch oder die die Europäische Union nicht als mit ihrer fundamentaler Interessenlage als kompatibel einstufen würden.

Und vielleicht könnten auch einige die heute im Kreise der 25 tätig sind, und lahmenden Schrittes sich am Gesamtprozess beteiligen, dann auf dieser Umlaufbahn Platz nehmen. Die Vorstellung die Europäische Union als 6, dann 9, dann 10, dann 12, dann 15, dann 25, dann 27, könnte auch mit 35 noch genau so sein, und so beschaffen sein, wie die die wir heute haben, halte ich für, ja ich sage nicht gerne für eine abwegige Idee, aber für eine nicht zukunfts- und zielorientierte Gesamtvorstellung.

Inforadio: Da sind wir ja plötzlich beim Kern-Europa. Also bei der Idee, es könne einen inneren Bereich geben von Ländern die wirklich wollen, die immer mehr miteinander machen, immer enger zusammenwachsen, und die Satelliten die so drum herumkreisen, und dann ein bisschen Binnenmarkt, ein bisschen Justiz und so weiter Zusammenarbeit machen. Sie waren doch eigentlich immer derjenige, der das abgelehnt hat.

Jean-Claude Juncker: Ja, aber Ihre flapsige Beschreibung lässt ja auch erkennen, wieso man sich im Prinzip gegen derartiges wehren muss. Weil die, die nicht im Kern tätig wären, sich wirklich wie Satelliten vorkämen.

Meine architektonische Vorstellung ist eigentlich einfach, und deshalb kompliziert. Wir haben die Europäische Union von 25, morgen 27, die sollten alles was sie tun, versuchen gemeinsam zu tun. Wenn sich herausstellt im Laufe der nächsten Jahre, dass nicht alle 27 das können, dann muss sich der Kern derer bilden, die es wollen. Wieso wehre ich mich gegen diese Kernidee? Weil ich nicht gerne hätte, dass wir dies als Ziel europäischer Politik ausgeben. Das kann nicht das Ziel sein. Aber es muss ein Ausweg sein, falls man nicht zu einem gemeinsam angestrebten Ziel kommt. Dann wird dieser Kern kleiner sein als die 25, dann wird es die 25 oder 27 geben, und dann wird es um diese herum noch eine weitere Umlaufbahn geben für die, die mit dabei sind ohne ganz dabei zu sein.

Wenn wir versuchen, mit aller Gewalt, alle an allen Politikbereichen teilnehmen zu lassen, wenn dies gelingt, bin ich der glücklichste Mensch der Welt, aber wenn dies nicht gelingt, und wir das trotzdem forcieren wollen, dann geht die europäische Gesamtveranstaltung schief. Und man muss jedem den Platz auf dem Kontinent zuweisen, den er für sich selbst in Anspruch nimmt, oder den andere ihm auf dem Wege freundlichster Erklärung, unter Rücksicht auf eigene Interessen, zuweist.

Aber einfach so Europa sich als Gesamtentwurf mit vielen Mitgliedern an Bord vorzustellen, wie der erste Entwurf gedacht war, das halte ich nicht für zielführend, auch nicht mal für streckenführend.

Inforadio: Ist diese Überlegung, wie Sie sie jetzt ausgeführt haben, vielleicht auch die Lösung für diese grösste Aufgabe auf die wir zusteuern, nämlich die Verfassung zu ratifizieren? Dafür zu sorgen, dass die Verfassung entweder von allen oder am Ende dann vielleicht nur noch von denen, die es wirklich wollen, angenommen wird.

Sie haben in den vergangenen Tagen immer wieder gesagt, wir brauchen eine längere Pause, man braucht mehr Zeit, wir müssen mehr nachdenken. Die Frage natürlich, was sollen wir in dieser Zwischenzeit machen? Das kann ja nicht einfach nur Pause, Pause an sich sein, sondern da müsste ja auch irgendwas passieren.

Und zum zweiten. Wie kann es dann funktionieren? Wir müssen ja die Verfassung, die von Frankreich, unter anderem wegen der unseligen Bolkestein-Richtlinie, und von den Niederländern, aus verschiedenen Gründen jeweils, abgelehnt worden ist, nochmals vorlegen. Es führt ja kein Weg drum herum. Wie denken Sie sich diesen Prozess?

Jean-Claude Juncker: Wenn ich wüsste, wie dieser Prozess zielstrebig zu einem guten Ende geführt werden könnte, würde ich meine Ideensammlung sofort patentieren lassen. Ich habe das noch nicht so zusammen, dass ich dies jetzt in einer rhetorisch perfekten Form hier Ihnen und Ihren Zuhörern präsentieren könnte. Ich habe mich in den letzten Tagen, das stimmt, dafür ausgesprochen dass man die Denkpause verlängert. Denkpause, das ist etwas was in einer Denkstube stattfindet, aber es muss auch analytisches Material sich aus dieser Denkpause ergeben.

Ich bin, da wurde ich unvollständig zitiert von einigen überregionalen deutschen Tageszeitungen, nicht der Meinung, dass wir jetzt da so lose und locker denken bis zum Jahre 2010, und uns dann überlegen was wir jetzt tun. Nein, ich hätte schon gerne, dass wir 2008, 2009 zu Potte kommen. Das kann dann auch ein bisschen länger dauern - deshalb 2009, 2010, wie ich die Länge, die maximale Länge der Denk- und Analysepause beschrieben habe.

Die Franzosen und die Niederländer haben Nein gesagt aus sehr unterschiedlichen Gründen. Und in Frankreich selbst ist das Nein-Lager ein Sammelsurium von Teil-Nein-Argumenten gewesen, die sich in den Niederlanden in der Debatte überhaupt nicht wiederfanden. Und wenn nur die Niederländer und nur die Franzosen gemeinsam jetzt einen Vertrag machen müssten, beide haben ja Nein gesagt, die würden nie einen Vertrag zustande bringen, der entweder in den Niederlanden oder in Frankreich, oder gar in beiden Ländern Zustimmung fände. Also muss man sich dies im Detail sehr genau ansehen.

16 werden - weil Finnland wird ratifizieren - den Vertrag Ende des Jahres ratifiziert haben. Die müssen selbstverständlich hineinhören in die Befindlichkeit derer die Nein gesagt haben. Aber die Nein gesagt haben, müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass 16 Ja gesagt haben, darunter auch zwei über den Weg des Referendum, Spanien und Luxemburg.

Ich kann doch nicht vor die Luxemburger treten und werde das im Übrigen auch nicht tun, die Ja gesagt haben zum Vertrag, unter schwierigsten und widrigsten Umständen, wenige Wochen nach dem französischen und dem niederländischen Nein, und denen jetzt sagen, das war alles Theater, so war das nicht gemeint, wir machen jetzt einen neuen Vertrag. Und in dem Vertrag sind die Substanzelemente, die uns wichtig waren in dem von Franzosen und Niederländern abgelehnten Vertrag, nicht mehr enthalten. So geht das nicht. Das Ja ist so viel wert wie das Nein. Das Nein findet nur stärkere Beachtung.

Inforadio: Also keine Rosinenpickerei. Solche Ideen hat die europäische Kommission, respektiv ihr Präsident schon mehrfach geäussert. Solche Ideen kamen schon aus Frankreich, von Herrn Sarkozy, oder der eine oder andere denkt auch [unterbrochen]

Jean-Claude Juncker: Ich würde dies nicht so brutal zurückweisen wie Sie jetzt gerne hätten, dass ich dies tun würde. Ich bin eigentlich dagegen, dass man diese Rosinenpickerei macht, weil man läuft die Gefahr über der Pickerei den Gesamtvertrag eigentlich in Vergessenheit geraten zu lassen. Aber dass man einigen Elementen die uns auf dem Wege hin zur endgültigen Grundvertragsgebung behilflich sein können, dass man dies tut, das halte ich nicht für eine völlig irrige Auffassung.

Dass man jetzt versucht einige europäische Leistungen auf den Weg zu bringen, um die Europäer wieder davon zu überzeugen, dass die ganze Form der europäischen Integration noch ergebnisfördernd ist, das halte ich für einen richtigen Schritt, den die Kommission unternimmt. Es darf nur nicht so sein, dass wir dadurch, dass wir jetzt einiges zustande bringen, die Vertragsperspektive aus den Augen verlieren. Ich bin für alles was uns auf den Weg hin zu einer geschlossenen vertraglichen Gesamtordnung weiter bringt, bereit.

Inforadio: Was könnte man denn zum Beispiel schon vorziehen? Also, was würde Sinn machen? Den Aussenminister eventuell, oder andere Elemente, so das institutionelle Funktionieren, wer wie wo abstimmt, das sind ja die ganz delikaten Fragen, aber eigentlich auch die ganz wichtigen.

Jean-Claude Juncker: Das sind vermeintlich wichtige Fragen, weil viele der in dem Falle grösseren Staaten institutionellen Neuregelungen hätten besondere Qualität, die stehen aber immer im Zusammenhang mit dem was denn durch diese Neuregelungen der Institutionen politisch bewirkt werden kann. Man muss also auch immer die politische Finalität in direktem Zusammenhang mit der Regelung der Entscheidungsfindungsprozesse sehen.

Aber was man machen könnte wäre zum Beispiel, dass man sich mit der Frage beschäftigen würde, wieso viele Menschen denken, Europa regelt alles, und die Nationalstaaten verschwinden in ihrem normativen Zugriff. Dieses Gefühl, da kommt aus Brüssel eine europäische Planierraupe auf uns zu, die alles niederwalzt und platt walzt, was uns hier in unserem Nationalstaat wichtig ist. Dieses Gefühl ist gefährlich, nicht immer unberechtigt und unbegründet.

Und in dem sogenannten Verfassungsvertrag, den man so nicht nennen sollte, sondern eben Grundvertrag, hatten wir aufgeschrieben, dass wenn ein Drittel der nationalen Parlamente sich gegen einen Vorschlag der Kommission wehrt, weil sie diesen Vorschlag, diese Parlamente nicht für kompatibel mit dem Subsidiaritätsprinzip hielten, dass dann die Kommission, wird ihr dies mitgeteilt, ihre Vorlage überprüfen muss. Das kann man auch ohne neuen Vertrag tun.

Es gibt viele Menschen, die trauen der Europäischen Union nicht. Die halten die Europäische Union für ein Gebilde, was sich von ihnen wegbewegt hat. Und die möchten wieder Kontrolle über die Entscheidungsprozesse erlangen. Und dass man dort auch jetzt schon auf dem Wege hin zu diesem europäischen Grundvertrag, die nationalen Parlamente stärker einbildet, dass nationale Debatten stattfinden, bevor in anonymen Räumen in Brüssel entschieden wird, dies hielte ich für einen, ja, für einen gewinnbringenden Gedanken, würde er denn umgesetzt werden.

Inforadio: Die Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in Ihrer ersten Europarede gerade gesagt, man müsse eine Neubegründung für die Europäische Union haben. Sie hat aber keine Ideen dazu vorgetragen, was das denn sein könnte und worin das denn liegen könnte. Haben Sie dazu eine Idee? Was ist eine Neubegründung? Sie sprachen ja am Anfang davon, dass Europa auf den Trümmern des Krieges gebaut worden ist, und das rutscht natürlich im Gedächtnis der Jungen von morgen immer weiter weg, dass sie wissen wie grässlich es ist, wenn Grossvater vom Krieg erzählt. Das will eigentlich niemand mehr hören. Das ist die historische Begründung. Was ist die Neubegründung? Ist es vielleicht die Angstbegründung, nur gemeinsam als Europa können wir den Grossen in Asien standhalten, morgen? Oder was, sind es andere Ideen?

Jean-Claude Juncker: Jede Neubegründung, die die Initialbegründung aussen vorne liesse, wäre eine Begründung die nicht vollständig wäre. Diese ursprüngliche Begründung des europäischen Einigungsgedanken bleibt immer noch wahr, auch wenn kaum jemand noch bereit ist, dies so zu sehen.

Dass man Europa neu begründen muss ist ja nicht eine Merkel-Erkenntnis der vergangenen Woche, sondern eine schon etwas länger vorhandene Betrachtungsweise europäischen Werdens und Wirkens.

Und ich glaube, dass man Europa stärker ökonomisch wird motivieren müssen, indem wir, auch angesichts der Globalisierungswelle, deutlich machen, dass der Nationalstaat allein nicht genügend Kraft ansammeln kann, um diesem Globalisierungsdruck zu widerstehen.

Der Euro beispielsweise, aber das können wir den Menschen ja überhaupt nicht mehr nahe bringen, ist doch die beste Antwort der Europäer auf die Globalisierung. Niemand rechnet ja aus, wie hoch die Ölpreise heute stünden, wenn es den Euro nicht gäbe.

Niemand kann den Menschen eigentlich vermitteln, was denn in Europa passiert wäre nach dem Iran-Krieg, nach dem 11. September, nach dem Kosovo-Krieg, nach den Finanzkrisen in Südamerika, und in Russland, angesichts der geo-strategischen Problemlage Iran, Venezuela, Nigeria, was dann im europäischen Währungssystem, gäbe es dieses System noch, an Unordnung entstanden wäre. Wie viele kompetitive Abwertungen es vor allem auf Kosten der deutschen Mark in den letzten 5-6 Jahren gegeben hätte. Also wir sind überhaupt über diese europäischen Erfolge nicht stolz, und können auch nicht erklären wieso der Euro uns schützt. Der Euro ist die beste Antwort der Europäer auf dem Globalisierungsdruck.

Und dann müssen wir uns in Europa auf den Weg machen, da sind wir ja auch dabei, stärker in Forschung, Innovation und Entwicklung zu investieren. Wir sind miserabel leistungsschwach im Direktvergleich mit den USA und mit Japan. Wir sind auf dem Weg uns von den Indern, von den Chinesen, die auch verstärkt in Richtung Forschung und Entwicklung investieren, die hunderttausende von Ingenieuren Jahr für Jahr auf die Weltarbeitsmärkte sich zubewegen lassen, und wir sind dabei uns von diesen aufstrebenden Staaten - und wer sollte sie daran hindern dies zu tun, und wer hätte das Recht sie daran zu hindern - überholen zu lassen.

Dass wir den Menschen dann erklären, wenn jeder für sich in seiner Ecke ist, versucht, den Kampf mit diesen asiatischen Tigern - um dies einmal etwas salopp, wenn auch ein bisschen blöd, zu formulieren - aufzunehmen, dann kann man die Menschen vielleicht davon überzeugen, dass es nur gemeinsam geht. Und dass, wenn wir Einfluss in der Welt behalten wollen, dass wir dann unsere Kräfte bündeln müssen, nicht um gegen die anderen zu Felde zu ziehen, sondern um uns in diesem weltweit tobenden Verteilungskampf so zu positionieren, und positionieren zu können, dass wir auch in 10 und 20 Jahren noch unser ökonomisches und soziales Auskommen haben.

Und ich glaube zur Neubegründung des europäischen Gedankens gehört auch, dass wir endlich einmal erkennen, dass wir mit dieser europäischen Nabelschau Schluss machen müssen. Dass wir uns nicht dauernd im historischen Sessel zurücklehnen können, die Arme und die Beine kreuzen können, und sagen, wir haben alles erreicht. Nein, Europa ist nicht fertig mit seiner Arbeit, weder intern noch vor allem extern. Solange jeden Tag 25.000 Kinder weltweit an Hunger sterben, wird niemand mir erklären können, Europa wäre am Ende seiner Aufgabenstellung angekommen.

Dass man vielleicht die Europäer dadurch neu für Europa begeistern könnte, dass man ihnen erklärte die Europäische Union ist eine Fabrik, eine Maschine, die eingesetzt wird, damit in der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts Hunger und Armut endgültig von unserem Planten verschwinden. Dass wir uns nicht nur um uns selbst kümmern, sondern auch sehen, dass es viele in der Welt gibt, die a) hoffnungsvoll nach Europa schauen und b) vom Schicksal so benachteiligt sind, dass es eigentlich für die Rettung des Heiles der Welt, um dies jetzt etwas pathetisch zu sagen, eigentlich nur eine geschlossene Antwort geben kann, und das ist, dass Europa sein Gewicht, seine Talente, seine Energie, sein Können, sein Wissen einbringt, damit die Welt gerechter wird.

Das könnte vielleicht müde Europäer wieder etwas wach machen.

Inforadio: Ein Teil ist ja auch die Rolle von Europa als Friedensmacht. Das steckt ja noch in den Kinderschuhen, aber vom Kosovo bis nunmehr Kongo, versuchen wir uns ja doch schon auch darin international Friedenswahren zu helfen, beim Bauen neuer Staaten oder Wiederaufbau verfehlter Staaten, bei der Stabilisierung. Auch das ist etwas, was eigentlich sehr wenig im Bewusstsein der Menschen lebt, die das manchmal eher lästig finden, und sagen: "Was haben wir mit alldem zu tun?" Könnte man das nicht doch auch stärker artikulieren, klarer machen was da gewollt wird?

Jean-Claude Juncker: Nein, ich glaube nicht, dass das so ist, dass darüber nicht geredet werden würde. Ich glaube, dass die Bereitschaft der Menschen zuzuhören etwas unterentwickelt ist, weil wir denken, uns kann niemand etwas anhaben. Wir leben hier ruhig, wir leben in Frieden, und der Rest der Welt ist eigentlich fast selbst Schuld an der Widrigkeit der Verhältnisse. Nein, nein, nein, es wird so sein, dass wenn wir uns nicht um die Welt kümmern, dass die Welt sich um uns kümmern wird. Und Stabilität hier, und Frieden hier, und Ruhe hier, und Ordnung hier wird auf Dauer nicht möglich sein, wenn wir uns nicht um die anderen Menschen der Welt kümmern.

Wir brauchen ein Mehr an militärisch friedlicher europäischer Präsenz weltweit, und vor allem im Vorhof der Europäischen Union. Wir brauchen ein deutliches Mehr an Entwicklungshilfe, die von Europa ausgehend in der Welt geleistet wird. Wir brauchen ein deutliches Mehr an normativem europäischem Handeln, was die Weltfriedensordnung anbelangt. Und dieses sich zurückziehen auf Europa, das heisst, dieses sich konzentrieren auf den kleinsten aller Kontinente, dies wird auf Dauer mehr europäisches Unglück als Glück bringen.

Inforadio: Ich danke Ihnen für das Gespräch.

Jean-Claude Juncker: Ich bedanke mich.

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