Verantwortung für die Welt. Interview avec Jean-Claude Juncker

Maerkische Allgemeine: Es wird so oft vom europäischen Traum geredet. Was ist Ihr europäischer Traum?

Jean-Claude Juncker: Als ich als junger Minister zum ersten Mal an einem Ministerrat in Brüssel teilnahm, da hat es noch so etwas wie Korpsgeist gegeben. Das war ein Kreis von europäischen "Überzeugungstätern". Es war jahrelang so, dass wir auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs einen Kompromiss suchten und fanden, weil wir im Kompromiss selbst eine Errungenschaft sahen. Wir waren der Überzeugung, dass aus Europa nur etwas werden kann, wenn jeder Abstriche von seiner Position machen würde. Der europäische Kompromiss hatte einen Wert an sich. Und wir waren stolz, wenn wir uns geeinigt hatten.

Maerkische Allgemeine: Das ist heute anders?

Jean-Claude Juncker: Ja, leider. Diese Überzeugung ist fast völlig verschwunden. Das beste Beispiel ist die Verfassung. Ich respektiere das Votum der Menschen in den Niederlanden und in Frankreich. Aber es bedeutet, dass der Wert Europas nicht mehr erkannt wird. Die Tatsache, dass sich 25 Staats- und Regierungschefs eines ehemals zersplitterten Kontinents auf einen Vertragstext einigen konnten, ist ein großer Wert. Dieser Kompromiss, diese Einigung ist etwas unglaublich Wertvolles. Wo gibt es so etwas sonst noch in der Welt? Früher hätte man gesagt: Wir sind schon deshalb für diesen Verfassungsentwurf, weil wir ihn gemeinsam erarbeitet haben.

Maerkische Allgemeine: Wo ist der Punkt, ab dem Europa dieses Bewusstsein, dass etwas Gemeinsames einen Wert hat, verloren hat?

Jean-Claude Juncker: Dafür gibt es keinen festen Punkt, es war wohl eher ein Prozess. Aber in dem Moment, wo man ihn erkennt, muss man umsteuern, weil sonst das elementare Gefühl, dass das europäische Projekt für unseren Kontinent und die Welt wichtig ist, verloren geht.

Maerkische Allgemeine: Und wie steuert man um?

Jean-Claude Juncker: Wir müssen den Menschen zeigen, wo wir herkommen und welche Ideen dazu beigetragen haben, die Zeit des Unfriedens und des Gegeneinanders zu überwinden. Ich halte den Satz, man könne Menschen nicht mit dieser Geschichte begeistern, auf Dauer für falsch. Im Moment mag es vielleicht nicht überzeugen, aber auf lange Sicht ist Europa ein Zukunftsmodell. Man kann nicht Zukünftiges gestalten, ohne unsere Geschichte als Erklärung für europäische Prozesse einzubeziehen und zu verstehen. Man muss auch über Krieg und Frieden reden dürfen, ohne als alt und überholt dargestellt zu werden. Meine Generation ist die letzte, die dies noch einigermaßen glaubwürdig und verständlich tun kann.

Maerkische Allgemeine: Wie wollen Sie mit diesem Hinweis auf die dunklen Kapitel der europäischen Geschichte die Menschen, vor allem die jungen, begeistern?

Jean-Claude Juncker: Es macht mich betroffen, dass sich offenbar ein Großteil der europäischen Bürger von dem, was da an politischer Leistung erbracht wird, überhaupt nicht mehr berührt fühlt. Und ich kann es ihnen noch nicht einmal übel nehmen. Die Menschen werden mit den Regeln des Binnenmarktes konfrontiert. Aber sie erleben diese Regeln ohne soziale Dimension. Daher kommt diese unüberwindbar scheinende Kluft zwischen europäischer Politik und Bevölkerung. Die Mehrheit der Arbeitnehmer fühlt sich von der EU-Politik nicht mehr verstanden, geschweige denn aufgefangen.

Maerkische Allgemeine: Nun gibt es große europäische Errungenschaften.

Jean-Claude Juncker: ... oh ja, denken Sie an den Euro, die Erweiterung und anderes mehr. Da haben wir viel geschafft. Aber anstatt dies zu sehen und zu verstehen, betrachten wir Europa nur von innen, wie einen Selbstzweck, aber das ist die EU nicht. Die Welt ist größer als Europa. Wir haben eine Verantwortung für die Welt, vor allem aber für Europa, wo die Folgen der Kriege und der Spannungen ja immer noch nicht überwunden sind. Europa ist auch ein Projekt der Solidarität für die Menschen, denen es noch nicht so gut geht wie uns. Diese Verpflichtung des europäischen Projektes ist bedauerlicherweise in Vergessenheit geraten. Wenn wir daran erinnern, können wir auch junge Menschen wieder für das europäische Projekt begeistern. Wir können ihnen zeigen, dass es in der ganzen Welt eine große Nachfrage nach Europa gibt. Wer in Afrika, Asien oder Lateinamerika unterwegs ist, erlebt die Hoffnung der Menschen, die auf Europa ruht.

Dernière mise à jour